Europa in der künftigen Welt und die Wahrheitsfrage
| docx | pdf | html ◆ přednáška, německy, vznik: říjen 1992? ◆ poznámka: přednáška pro II. kongres "Evropská kultura" ve španělské Pamploně 28. 10. 1992

Europa in der künftigen Welt und die Wahrheitsfrage [1992]

Neue Denkanstöße aus Mittelund Westeuropa und ihre Bedeutung für zukünftige europäische Perspektiven

Universidad de Navarra, Pamplona, 31. 10. 1992 (II Congresso Internacional „Cultura Europea“)

Wir leben am Ende eines großen geschichtlichen Ereignisses, und mehrere Denker streiten in ihren unterschiedenerweise orientierten und begründeten Deutungen dessen, was eigentlich sich zum Ende bringt oder was zum Ende gebracht wird und warum. Im Vergleich mit dem Ausgang der hellenistischen Epoche des Altertums und dem Untergang des alten Römischen Reichs, wo man auch etwas Endendes fühlte, ist es heute nicht nötig gegen die Idee des kommenden Weltuntergangs zu kämpfen, wie es damals der Heilige Augustinus unternommen hat in seiner Civitas dei. Hegel ist zwar in seiner Jugend mit dem Gedanken eines kommenden Endes der ganzen bisherigen Geschichte gekommen, ja des ganzen Anderssein des absoluten Geistes, der wieder zu sich selbst kommt, aber das hat man nie ganz ernst genommen. Schon Hegels Schüler haben diesen metaphysichen Gedanken historisiert und z. B. gegen die Idee eines vollkommenen Endes die Idee einer bloß epochalen Veränderung oder gar eines Umsturzes gestellt, nach dem wieder etwas Neues anfangen soll. Heute gibt es Denker, die über ein Ende der Metaphysik oder auch aller Philosophie sprechen, andere wieder über ein Ende der ganzen Geschichte, d. h. des geschichtlichen Stils des menschlichen Lebens, weitere nur über ein Ende der Moderne und über den Anfang einer postmodernen Epoche usw. Verbreitet ist auch die Idee, daß es sich nur um ein Ende der europäischen Geschichte handelt. Berühmt war nach dem Ende des I. Weltkrieges Oswald Spenglers Buch über den „Untergang des Abendlandes“, und man könnte auch noch weitere Autoren und Werke nennen.

In einem anderen Sinn spricht über „Europa und Nacheuropa“ der tschechische Philosoph Jan Patočka in seinem ungefähr vor zwei Jahrzehnten im Deutschen geschriebenen Text, der erst vor kurzer Zeit deutsch und jetzt auch tschechisch erschienen ist. Patočka fragt hier einerseits, ob es der nacheuropäischen Menschheit gelingen wird die Fehler Europas nicht nachzugehen und da lassen wir außer Sicht die Frage, welche Fehler es sind. Was Patočka sicher nicht als einen Fehler betrachtet, das ist die ganz spezifische Geschichtlichkeit der europäischen Geschichte, die zu einer wirklichen Weltgeschichte geworden ist, d. h. in die auch die ganze außereuropäische Welt hineingezogen wurde. Nur deswegen ist es möglich über die Entstehung einer recht neuen, nämlich planetarischen Epoche zu sprechen und vor allem zu denken. Und da fragt Patočka in fast derselben Zeit in einem der „Ketzerischen Essays“, ob der Mensch dieser planetarischen Epoche imstande sein wird wirklich geschichtlich zu leben. Also handelte es sich für ihn besonders in einer Auseinandersetzung mit der geistigen Situation seiner Zeit und immer auch noch unserere Zeit, wie wir zugeben müssen um dieses europäische Erbe, das Patočka gerade in der Geschichtlichkeit sah, die in seiner Sicht auch noch in der nacheuropäischen Zeit ihre Geltung behalten könnte und sollte.

Patočka verstand jedoch die Voraussetzungen dieser spezifisch europäischen Geschichtlichkeit als in der griechischen POLIS und der griechischen Philosophie verankert und durch sie auch weiter gestaltet. Gerade diese Deutung scheint mir gewissermaßen ungenau oder gar problematisch zu sein. Das ergibt sich schon daraus, daß sich Patočka in der ganzen Auffassung von Europa und von seinem geschichtlichen Ende nur an das griechische Erbe beschränkt, beziehungsweise an Demokrit und Plato, wogegen die andere wichtige geistige und denkerische Überlieferung, nämlich die hebräische, von ihm vollkommen unbeachtet wurde. Ohne diese hebräische Überlieferung, besonders ohne das Alte Testament ist jedoch das Christentum überhaupt nicht denkbar, und ohne Christentum gab und gibt es keine europäische Geschichte. Man spricht zwar schon lange über die Religionslosigkeit und gar Gottlosigkeit der immer größeren Mehrheit innerhalb der zeitgenössischen europäischen Völker, aber es gibt auch sehr ernst zu nehmende Auffassungen, die diese Verdrängung und diesen Untergang der allgemeinen Religiosität auf gewisse sozusagen „enzymatische“ Ingredienzen im Christentum selbst und ursprünglich schon im Judentum, bzw. in der prophetischen Tradition des alten Israels zurückführen wollen. In einer solchen Perspektive zeigt sich dann die Abschwächung oder gar Untergang des Religiösen und des Sakralen als Sieg der desakralisierenden geistigen Prinzipien, Mächte und Tendenzen altisraelitischen Ursprungs. Wenn wir auch diese Deutung der denkerischen und geistigen Entwicklung Europas mindestens als eine Möglichkeit im Auge behalten, stehen wir vor einer tiefsinnigen und weittragenden Frage, nämlich ob wir auch in diesem Sinne über ein Ende von Europa sprechen können und dürfen.

Ich wollte gerade mit diesem Punkt anfangen, um nur zu zeigen, wie uns solche einseitige Interpretationen der europäischen Vergangenheit und auch Gegenwart solcher möglicherweise außerordentlich wichtiger Aussichten in die eventuelle europäische Zukunft berauben können. Das gilt jedoch nicht nur global, sondern auch im Einzelnen, als was einige voraussichtlich vielleicht allgemein wichtige, obzwar bisher überwiegend immer noch als marginal gesehene und verstandene Ideen, Auffassungen und manchmal auch ganze Denkarten betrifft. Als Hauptthema habe ich deswegen eine solche partikulare, für ersten Blick auch von unseren tschechischen Historikern als nebenseitig beurteilte und manchmal auch ganz unbekannte, verhältnismäßig unauffalende geistige und denkerische Überlieferung auserwählt, die meiner Meinung nach potentiell für die nächste Entwicklung des europäischen Denkens, aber auch Lebens von einer nicht zu unterschätzenden Wichtigkeit werden könnte. Ich werde es versuchen, es als ein Beispiel einer möglicherweise bedeutenden Tragweite gewisser Gedanken vergegenwärtigen, um zu zeigen, wie wichtig es sein mag gerade heute sich um solche anscheinend als bloße Nebenprodukte der bisherigen so vielfältigen Geschichte der europäischen Völker geschätzte Einzelgedanken ernsthaft zu kümmern. Deswegen werde ich nur ganz kurz über die geschichtlichen Anfänge der Idee der über alles Seinde wichtigere und mächtigere Wahrheit sprechen, um vielmehr bei einigen tschechischen Versuchen derer philosophischen Deutung in unserem fast schon endenden Jahrhundert länger zu bleiben.

Alle Jahre der Nachkriegszeit ließen die kommunistischen Machtinhaber in unserem Lande zwei Wörter auf der Präsidentenflagge stehen bleiben, die dort noch seit der Zeit zwischen den Kriegen war, nämlich daß die „Wahrheit siegt“; erst vor kurzem wurde die tschechische Fassung in die lateinische verwandelt, um die slowakische Sprache nicht zu vernachlässigen. Es könnte sich fragen, ob man diesen alten Spruch in den 50er Jahren und später als total harmlos betrachtet hat, oder sogar ob er sich wirklich als so harmlos erwies und warum. Woher kommt eigentlich dieser Spruch? Es handelt sich um eine verkürzte Zitation aus dem sg. 3. Ezdras (oder anders dem apokryphischen 1. Ezdras). Die auf der Flagge zitierte Stelle stammt aus einem hellenistischen höchstwahrscheinlich von einem Griechen geschriebenen Text, der sekundär von einem hellenistisch erzogenen Juden leicht überarbeitet und letztlich in ein Kompendium ins Griechische übersetzter alttestamentlicher Zitationen hineingeschoben wurde. Der hat den Text mit eingeschalteten Erweiterungen versehen, und gerade diese wurden dann z. B. schon von den Kirchenvätern relativ häufig zitiert. Im 3. Kapitel (Vers 12) lesen wir, daß „die Wahrheit über alles siegt“ (HYPER DE PANTA NIKA HÉ ALÉTHEIA), und ähnlich 4,35, daß die Wahrheit groß ist und mächtiger als alles, oder 4,38, daß die Wahrheit ausharrend und immer mächtig bleibend ist und daß sie lebt und siegt auf Ewigkeit.

Dieser Gedanke wurde äußerst aktuell und wichtig in der tschechischen Reformbewegung am Anfang des XV. Jahrhunderts. Mindestens aus dem Ende des XIV. Jh. kennen wir einige Predigtensammlungenn, wo diese Stellen zitiert worden sind. Jan Hus arbeitet damit schon in einer solchen Weise, daß er mindestens mit dessen ungefährer Kenntnis gerechnet zu haben scheint. Fast zehn Jahre nach Hus' Tod finden wir eine solche Zitation bei Jakoubek aus Stříbro. Nach weiteren fünf Jahren nützt der englische Magister von Oxford, Peter Payne, einer der hervorragendsten hussitischen Diplomaten, diese Stelle in seiner glänzeden preßburger Rede vor dem deutschen und ungarischen König Siegmund. Der Gedanke wird dann öfters zitiert, wird zum Schlagwort, in Prag wurde es aus Jan Rokycana's Anlaß in die Mauer der Theinkirche eingehaut, ähnlich ließ es auch in Hradec Králové der Stadtrad in die Stadtmauer einhauen, ein südböhmischer Landedelmann (Matěj Louda aus Chlumčany, Hauptmann in Písek), hat es auf seine Fahne aussticken lassen usw. Nach dem Weißen Berg soll sich das Stichwort verloren oder versteckt haben, aber in der Zeit der sg. Wiedergeburt des Volkes wird es neu, hauptsächlich von Historikern erinnert. Später, dh. meistens schon in unserem Jahrhundert, wurden einige tschechischen Denker, Schüler und Nachfolger von Masaryk, durch ihren Lehrer zum kritischen Nachdenken der geläufigen Adäquationsauffassung der Wahrheit inspiriert im Geiste des erwähnten alten außergriechischen Gedankens. Die größte Gestalt kann in der Persönlichkeit des Biologen und Philosophen Emanuel Rádl gesehen werden, aber wichtig sind auch Jan Blahoslav Kozák und Josef Lukl Hromádka. Wie wir noch sehen werden, hat sich der besonders von Rádl geprägte Gedanke auch bei Jan Patočka in einer interessanten Weise durchgesetzt in seiner Idee eines negativen Platonismus. Auf dem Grund der Gedanken aller erwähnter Denker, jedoch besonders von Rádl, dürfen wir auch die alten Formulierungen der zitierten apokryphischen Schrift neu und gründlicher verstehen. In einem Interview für die „Literární noviny“ (Literarische Zeitung) hat sich Jan Patočka im Jahre 1965 folgenderweise geäußert: „Aus allen philosophischen Fragen wurde bei uns das Problem der Wahrheit am meisten wirksam, und gerade in diesem Punkt haben wir unseren wesentlichsten Beitrag geleistet einen Beitrag zur tiefsten und dringlisten Frage. " Worin diese einzigartige Leistung der tschechischen Philosophie bestehen sollte, blieb jedoch bei Patočka näher unausgesprochen. Es scheint nichtsdestoweniger, daß er an erster Stelle niemanden anderen gemeint haben konnte als gerade Emanuel Rádl, über dessen Wahrheitsauffassung Patočka im Jahre 1937 eine Studie in Česká mysl erscheinen ließ. (Doch war Patočkas Verhältnis zu diesem hervorragenden tschechischen Denker immer gewissermaßen zweideutig: Rádl hat ihn ineressiert und oft auch ispiriert, aber sehr oft auch irritiert, und zwar nicht nur in den alten Zeiten, sondern auch noch Jahrzehnte nach dessen Tode in 1942. Patočka findet manchmal Worte höchster Schätzung für Rádls Philosophie, wogegen andersmal er seine Denkmittel als abschreckend bezeichnet.)

Nur ganz schematisch können wir mit zwei Punkten Rádls Positionen in seiner Wahrheitsauffassung andeuten. 1) Für Rádl ist die Wahrheit kein „neutral erkennbares Objekt oder Eigenschaft des Objektes“, und deshalb ist sie auch „keine nur formale Übereinstimmung einer Aussage mit dem gegebenen Objekt der Erkenntnis“, aber auch kein „kühles Gesetz eines objektiven Geschehens“. Also können wir nicht über die Wahrheit sagen, „sie steht vor mir“, „sie ist etwas mir gegebenes, vorgelegtes“. 2) In dieser Richtung geht Rádl fast unglaublich weit, wenn er z. B. schreibt, daß die Wahrheit „nicht ist, sondern sein soll“, was jedoch nicht sagen will, daß es Wahrheit leider nicht gebe, sondern geben sollte. Ganz zum Gegenteil: „das, was sein soll, ist mehr wirklich, als was nur ist“. Also unterscheidet Rádl zweierlei Wirklichkeit, nämlich die seiende und dann die sein-sollende und also nicht-seiende oder noch-nicht-seiende. „Das, was sein soll, ist der Urheber dessen, was ist. " Rádl spricht also über das „Sein-sollen“ in einem volkommen verschiedenen Sinne als z. B. die deutsche Wertphilosophie nach dem ersten Weltkrieg. 3) Weil die Wahrheit nichts Seiendes, nichts Gegebenes, nichts Gegenständliches oder Dingliches ist, kann man sie nicht „haben“. Dazu Rádl: „nicht wir haben die Wahrheit, sondern die Wahrheit hat uns; wir entscheiden nicht über die Wahrheit, sondern wir werden in sie heineigeboren“. Dazu möchte ich durch eine Randbemerkung an eine um hundert Jahre ältere analogische Formulierung aufmerksam machen. Der junge Karl Marx hat etwas ähnliches 1842 geschrieben (in seinen Anmerkungen zur neuen preußischen Zensurinstruktion): die Wahrheit hat mich, ich habe nicht sie. Offensichtlich handelt es sich auch hier um einen nichtgriechischen, sondern ursprünglich hebräischen Gedanken.

Gehen wir jetzt zum Nachdenken der bisher schon angedeuteten Gedanken über. Die Wahrheit ist nicht dinglich, nicht gegenständlich, und deswegen ist es für uns nicht möglich sie mit unseren Begriffen zu ergreifen, uns der Wahrheit zu bemächtigen und also durch ihre begriffliche Eroberung uns selbst zu behaupten. Gerade das bedeutet das von Rádl Gesagte, nämlich daß wir es nicht sind, die die Wahrheit „haben“, sondern daß es umgekehrt die Wahrheit selbst ist, die uns „hat“, d. h. daß sie sich dessen bemächtigt, der sich ihr gegenüber offenstellt, der sie erkennt, der sie wahr-nimmt, also als Wahrheit akzeptiert. Wir verstehen diesen Gedanken, er scheint uns überhaupt nicht fremd, undurchsichtig oder unglaubwürdig zu sein. Er wird jedoch tief problematisch, wenn er philosophisch reflektiert werden soll, und das muß er. Dieser Gedanke lebte die lange Geschichte der seltsamen, aber tatsächlich auch wunderbaren Synkresis und immer neu versuchten und oft ziemlich überraschenden Synthesis hindurch, nämlich die Synkresis und Synthesis von zwei zwar wesentlich verschiedenen, jedoch ohne Zweifel auch für eine gewisse mögliche Konvergenz geeigneten kulturellen und geistigen Überlieferungen, nämlich der hebräischen und der griechischen. Solche Versuche kennen wir noch aus der vorchristlichen Zeit, aber entscheidend war hier das merkwürdige, die ganze nachfolgende europäische Geschichte tragende und fördernde Phänomen des Christentums. Wir müssen besonders ernst nehmen, daß gerade in den Zeiten einer Krisis, eines Niedergangs oder einer drohenden Gefahr Motive wirkend geworden sind, die bisher nur (z. B. philosophisch) marginal zu sein schienen. Und zu solchen anscheinenden Randmotiven, die sich jedoch die ganze Geschichte hindurch als sehr hartnäckig ausdauernd oder vielmehr überlebend erwiesen haben, gehörte beziehungsweise bei uns, jedoch sicher nicht nur bei uns, der Gedanke der auf die Dauer, ja auf die Ewigkeit hin siegreichen Wahrheit, die mächtiger ist als alles in der Welt und als die Welt selbst im Ganzen.

Wenn wir diesen nichtgriechischen und griechisch eigentlich nicht ganz vernünftigen, logisch nicht gut akzeptierbaren Gedanken heute ernstnehmen wollen, stehen wir notwendigerweise auch vor der Grundfrage des innerweltlichen oder außerweltlichen Charakters der Wahrheit, und besonders auch vor der Frage der Zeitlichkeit, des zeitlichen Aspektes ihres siegreichen Zuges durch die ganze Geschichte bis zum vollkommenen und endgültigen Sieg am Ende der Zeiten, oder besser: am jüngsten Tag. Das ist jedoch an der zitierten Stelle nicht zu finden, das gehört zum späteren theologischen Kontext. Wie verhält sich eine solche Wahrheit, die kein Ding, kein gegenständlich gegebenes Seiendes ist, zu den Sachen, zu den gegenständlichen Wirklichkeiten und damit auch zu den zeitlich, geschichtlich übergehenden Ereignissen unseres Lebens? Bedeutet unsere auf eine solche, die Welt nicht nur der Dinge, sondern auch des geschichtlichen Menschenlebens transzendierende Wahrheit nicht, daß wir den Dingen und auch den interpersonalen Beziehungen und allen geschichtlichen Umwandlungen und Entwicklungen unseren Rücken zeigen? Kommen wir so nicht wieder der alten griechischen, bzw. aristotelischen Idee nahe, daß es eine Angelegenheit des THEOREIN, d. h. unseres Starrens auf die Wahrheit hin ist, wozu notwendig ist, daß wir uns von den Dingen und von allen praktischen Aktivitäten abneigen und abkehren? So konnte man es lange Jahrhunderte hindurch interpretieren und durch solche Deutungen auch an gewisse griechische Motive und Gedanken ganz ernst anknüpfen.

Ohne Zweifel gab es solche Anknüpfungpunkte in der altgriechischen philosophischen Tradition. Schon die berühmte Deutung, die der späteren Überlieferung nach Pythagoras auch mit dem angeblichen Gestalten und Stiften des Wortes „Philosophie“ prägen haben sollte, ermöglichte eine andere Lösung des Problems als eines Schauens oder Starrens auf die unveränderliche und an uns nicht interessierte Wahrheit. Noch mehr gilt es für die sokratische Fassung des wissenden Nichtwissens, die sehr bescheiden und gar fromm aussieht. In Platos Symposion finden wir fast dieselbe Interpretierung, diesmal schon aus erster Hand. Und gerade hier finden wir FILALÉTHEIN mit FILOSOFEIN als bis zur Identität gleichberechtigt. In beiden Fällen tritt der Philosoph als ein Liebhaber und kein Besitzer der Wahrheit hervor. Allein führte sowas eher zu einer Art Skeptizismus und Relativismus als zum Verständnis, daß die Wahrheit aus ihrem „Noch-nicht“, d. h. aus der Zukunft ankommt, um uns anzureden. In dieser Sicht wurde zwar klar, daß wir die Wahrheit nicht besitzen; dagegen kam jedoch überhaupt nicht zum Wort, daß wir seitens der Wahrheit selbst unter einen inneren Druck gestellt werden können, dem wir kaum zu widerstehen imstande sind. Eine solche Erfahrung kam dagegen bei den alttestamentlichen Propheten zum Ausdruck.

In gewissem Sinne finden wir auch in der griechischen Tradition Belege einer Überzeugung, daß sich die Wahrheit endlich durchsetzt, auch wenn es nicht immer einfach und rasch geht. Es ist aber nur so zu verstehen, daß sich die gegebene, die faktische Wirklichkeit durchsetzt, weil sie früher oder später ans Licht kommt, d. h. weil sich das Seiende unserer Schau und unserer Einsicht offengibt. Obwohl FAINESTHAI und FÓS auch etymologisach zusammengehören, wurde das sonst notwendige Licht eigentlich nicht tiefer befragt, sondern vielmehr als ganz selbstverständlich vorausgesetzt. Die Wahrheit läßt das Seiende sich als seiend zeigen und das Nicht-seiende als nicht-seiend. Bei Heraklit erfüllt der Logos noch eine wichtige Aufgabe: er holt das Wesentliche damit ans Licht, daß er das anfänglich Zerstreute auserliest und das vorher vielleicht chaotisch Gegebene in eine Einheit zusammenbringt. Bei den Eleaten verliert diese Funktion jeden Sinn, weil es keine Vielfalt und also keine Zerstreuung gibt; Heraklit stellt vielleicht mit seiner kosmologischen LOGOS-Auffassung etwas nicht mehr im Bedeutungsbereich des Wortes LOGOS Empfundenes vor. Nirgends finden wir jedoch auch nur eine Andeutung philosophischer Reflexion einer wichtigen und möglicherweise aktiven Rolle des Lichts, ohne das sich kein Seiendes als Seiendes zeigen oder besser offenbaren kann.

Zum Vergleich mit dem gesagten und als Gegensatz zu ihm können wir zwei Zitate aus Rádl in Betracht nehmen. Rádl fragt: „Wenn alles Wissen relativ ist, wie werden wir der Skepsis entgehen?" Und er geht weiter: „Die Antwort ist einfach: das Wissen ist relativ, aber absolute Wahrheit gibt es doch. Es ist uns zwar nicht gegeben worden, sie in Worten erfassen zu können, wir können sie auch nicht durch Taten ergreifen, aber doch leben wir in ihr, wir empfinden, daß wir ihr einmal nahe stehen, dann wieder uns von ihr entfernen. " Obzwar die räumlichen Konnotationen der Worte „nahe“ und „fern“, als auch die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „absolutus“ irreführen könnten, wichtig ist, daß wir nach Rádl „in der Wahrheit leben“, d. h. daß wir von der „sein-sollenden“ (und also tiefer und wesentlicher Wirklichen) Wahrheit umgegeben werden, ja umgegriffen, also daß die Wahrheit mit Jaspers gesagt das uns Umgreifende „ist“ oder eher „bedeutet“ (Jaspers selbst knüpft hier mit seiner Periechontologie offensichtlich an das heraklitische PERIECHEIN an). In solcher Weise will sich Rádl der Gefahr eines Relativismus und Skeptizismus widersetzen.

Es gibt jedoch noch eine andere, umgekehrte Gefahr, nämlich einer nicht weniger irreführenden Mißachtung der „Realität“ der Dinge, des Geschehens und der Geschichte, ja der Welt im Ganzen. Rádl will entschieden die Bedeutsamkeit von allem Realen, Sachlichen, „Materiellen“ behalten und betonen. Er geht gar so weit, daß er eine gewisse unmittelbare Unabhängigkeit alles Faktischen, Dinglichen proklamiert: die Richtigkeit und Unrichtigkeit, sagt er, ist nur eine von den Eigeschaften der Dinge und nicht ihr Kern. Das bedeutet: jedes Ereignis ist ein wirkliches Ereignis, jedes Faktum ist ein wirkliches Faktum, kein bloßer Anschein. Die Dinge schreiten auf ihren sachlichen oder besser dinglichen, unpersönlichen Wegen von der ihrigen Seite ohne Rücksicht auf die Wahrheit. Die Wahrheit ist weder ein Faktum der Natur, noch ein objektives Gesetz, und deshalb richten sich die Dinge nicht der Wahrheit nach. Wahrhaftigkeit und Unwahrhaftigkeit, Richtigkeit und Unrichtigkeit, Wahr-Sein und Nicht-wahr-Sein liegen nicht im Zentrum, im „Innen“ der Dinge, sie sind nicht ihre inhärente, ihre wesentliche und zentrale Qualität. Sich auf die Wahrheit berufen ist überhaupt nicht damit gleichzusetzen, wenn man sich auf Dinge, auf gegebene Realität beruft. In ihrer Faktizität ist die Realität mindestens unmittelbar von dem Wahren, von der Wahrheit unabhängig. Diese Einstellung ist bei Rádl ganz ausdrücklich „realistisch“ im Sinne des sg. kritischen Realismus von Masaryk und seiner Nachfolger. Etwas ähnliches finden wir wieder an einigen Stellen im Alten Testament, an denen alles Geschöpf als wesentlich unvollkommen gezeigt wird, mit den Sternen und dem Monde anfangend und mit den Heiligen des Herrn zu Ende kommend (Job, seine Freunde).

Gegen die realistische Stellung zum Gegebenen auf einer Seite und neben der klaren Sicht auf das mögliche und auch tatsächliche Auseinanderfallen des Faktischen und des Wahren unterstreicht jedoch Rádl auf der anderen Seite die wesentliche Überordnung des Wahren über das bloß Gegebene, „nur“ Faktische, und zwar nicht nur im Sinne eines bloß deklarierten Primats der „Werte“ (Rádl wurde u. a. auch durch Nietzsche und durch seinen Gedanken der modernen Entwertung der als etwas metaphysisch Gegebenes verstandenen Werte tief beeinflußt), sondern „ontologisch“, oder präziser gesagt: meontologisch, weil Wahrheit bei ihm nichts Seindes vorstellen konnte, sondern vielmehr ein Nicht-Seiendes, eine nicht-seiende, aber allem bloß Seienden überordnete Wirklichkeit. Deutsch kann man so wie auch im Tschechischen gut zwischen der Realität und der Wirklichkeit unterscheiden. Die Realität als „res“ ist einfach das bloß Seiende, wogegen die Wirklichkeit ist das wirkende. Nur dürfen wir eine solche Wirkung von Wahrheit nicht mit der kausalen Wirkung verwechseln und sie in solcher Weise reduktionistisch deuten. Das „Wirken“, und das heißt die Aktivität (Wirklichkeit ist ursprünglich eine Übersetzung von „actualitas“, und die kommt von „actus“) der Wahrheit ist ganz einzigartig: sie „verwirklicht sich“ durch subjekt-artige, von konkreten „Subjekten“ durchgeführte Aktivitäten, in denen sich die „Subjekte“ jener Wahrheit als dem einzig Wahren zur Verfügung stellen.

[In einer ziemlich seltsamen Weise versucht Rádl die Überlegenheit und gar grundlegende Kraft der Wahrheit als des Wahren in einem Bild näher zu verdeutlichen, wenn er eine Alternative zu dem damaligen, d. h. zeitbedingten Bild des Weltuntergangs vorliegt. In diesem heute nicht mehr haltbaren und auch nicht gehaltenen Bilde hieß es wie folgt: „die Sonne wird einmal kalt, die Erde wird einfrieren, die Planeten werden in die Sonne stürzen und es kommt das Ende“; und Rádl fügt hinzu, um das wesentlichste zu unterstreichen: „die Bewegung, die Bereitwilligkeit zur Hilfe für andere, der Kampf um die Wahrheit sind längst schon vorbei“. Und dann legt er seine alternative Vision vor: „der schwindende Zufall, den wir Natur, Materie und Naturgesetze und Ursache und Folge nennen, fällt in den Abgrund; er war so wie so nur eine zufällige Gelegenheit für den Menschen, der seine Sendung erfüllen sollte. Und wenn in einer Weltkatastrophe alles verschwindet, was vor unserem Intellekt die Naturwissenschaft entwickelte, bleibt als Einziges die Sendung des Menschen, die nicht von dieser Welt ist. Dann bleibt eine einzige Sache: das in absolute Größe aufgeschwungene menschliche Gewisssen, das Gesetz ‚du sollst‘, als die einzige absolute, einzige gültige Wirklichkeit.“]

Auch im Rádls Versuch ist noch immer kein systematisch durchdachter und schon überhaupt nicht in einer Schlußformel ausgesprochener Gedanke zu suchen. Das alles steht noch vor uns oder vor denen, die auf seine höchst interessante und anregende Denkexperimente anzuknüpfen bereit sind. Eines ist jedoch klar: hier handelt es sich nicht nur um eine neue begriffliche Konstruktion, sondern notwendigerweise um eine neue Art von Begrifflichkeit. Die griechische, und in Anknüpfung darauf alle bisherige europäische Tradition des begrifflichen Denkens arbeitete mit Begriffen, die mit intentionalen Gegenständen (statt Objekten, wie wir es bei Husserl finden) am engsten verbunden sind. Mit einer solchen Art von Begrifflichkeit ist die Wahrheit als solche in keinem Falle zu „begreifen“, weil jeder solcher Versuch unentbehrlich mit einer Konstruktion zusammenverbunden ist, die Wahrheit gegenständlich erfassen will und die Wahrheit also zum Gegenstand, zu einer gegenständlichen Wirklichkeit macht. Gegenstand ist wie schon das Wort andeutet das uns Entgegen-stehende. Die Wahrheit steht jedoch nie vor uns, sondern sie kommt an uns anzusprechen. Als ankommend ist sie nicht bloß da als etwas Gegebenes, sondern als etwas sich Gebendes. Das Ankommen der Wahrheit ist Ankommen von etwas, was noch nicht da war, also von etwas Neuem. Neu kann nur das sein, was noch nicht dagewesen ist. Wenn wir Wesen im Sinne des Gewesenen und zugleich Daseienden verstehen, ist schon die Frage nach dem „Wesen“ der Wahrheit falsch formuliert worden. Die Wahrheit „gibt es“ nicht, die Wahrheit „ist“ auch nicht als etwas Seiendes, sondern die Wahrheit kommt an und so ist sie mit einem Geschehen, mit einem Ereignis tiefst verbunden, ja einig: die Wahrheit ist nicht, sondern sie geschieht. Und sie geschieht nicht nur zeitlich, sondern vor allem geschichtlich. Das Geschehen der Wahrheit ist ein geschichtliches Geschehen.

Um es ausführlicher zu erläutern, müßten wir mit einer sorgfältigen Analysis der vergegenständlichenden Weise des traditionellen begrifflichen Denkens anfangen. So was ist innerhalb eines einzigen Vortrags über eine nicht leicht einzusehende Wahrheitsauffassung, die noch dazu bis jetzt nicht monographisch verarbeitet wurde, einfach nicht möglich. Wir können hier nur in einer gewissen Anknüpfung an die Idee der indirekten Aussage bei Kierkegaard ganz formell etwas andeuten. In dem täglichen Umgang mit der Sprache sind wir imstande auch nicht ausgesprochene Konnotationen des Gesagten zu verstehen. Nur nehmen wir es als etwas Zweiträngiges und für die Wissenschaft und auch Philosophie Unpassendes und Unakzeptierbares. Das Verhältnis unseres Aussagens und eigentlich alles unseres Denkens zur Wahrheit ist immer mit dem Aussagen über gegenständliche Wirklichkeiten verbunden, aber zur Wahrheit selbst kann und darf sich unser Denken nicht gegenständlich bzw. vergegenständlichend beziehen. Was die Wahrheit selbst betrifft, sind unsere vergegenständlichende Aussagen über gegenständliche Wirklichkeiten gar nicht eindeutig. Wir müssen uns daran gewöhnen, daß wir uns in unseren Denkakten immer auch nichtgegenständlich zu den nichtgegenständlichen Wirklichkeiten und zu dem nichtgegenständlichen Aspekt der „konkreten“ (konkreszenten) Wirklichkeiten beziehen müssen, und daß wir damit früher oder später so einvertraut werden müssen, wie es bisher in der Tradition des vergegenständlichenden Denkens der Fall war. Die Wahrheit wird man dann als eine nichtgegenständliche Wirklichkeit deuten können, die im Bezug an gegebene Wirklichkeiten immer ihre Superiorität behält, ohne sich jedoch durch ihre Überlegenheit von ihnen zu distanzieren, sondern gerade umgekehrt um sie ins wahre Licht zu bringen. Solch eine „reine Nicht-gegenständlichkeit“ behält ihre Überlegenheit gegenüber jedem gegebenen Seienden einfach deswegen, daß alles Seiende früher oder später ohnmächtig ins Nichts übergeht, wogegen die sich nie endgültig vergegenständlichende Wahrheit immer ankommt. Das ganze Problem würde uns ohne Zweifel noch viel weiter bringen, aber ich hoffe, daß das Gesagte als Anregung weiteren Denkens genügen könnte.

Was zeigt uns dieses Beispiel? Wenn über Begegnung mit den „Kulturen Osteuropas“ gesprochen und nachgedacht wird (und es gilt nicht nur für sie), darf man erstens nicht bloß mit deren augenblicklichem Stand rechnen, der oft problematisch ist, sondern auch mit ihren verschiedensten Traditionen und alten Leistungen, die manchmal auch in eigenem Lande vergessen worden sind, und zweitens auch damit, daß es sich nicht notwendigerweise um bloße regionale oder gar folkloriche Nebensächlichkeiten handeln muß, sondern manchmal auch um äußerst wichtige Anregungen und Herausforderungen, welche wirklich ernste Beiträge nicht nur zur Gestaltung des zukünftigen Europas, sondern sowie anderer Kulturen, als auch der Welt im Ganzen, etwas Grundlegendes beibringen könnten.