Menschliche Identität in der Situation der sg. Totalität
| docx | pdf | html ◆ přednáška | přípravné poznámky, německy, vznik: 15. 6. 1993 ◆ poznámka: Přednáška v Berlíně na pozvání Bedřicha Loewensteina (15. 6. 1993, 19.45)

Menschliche Identität in der Situation der sg. Totalität [1993]

Berlin (seminář Bedřicha Loewensteina), 15. 6. 1993



0.0

Ganz am Anfang glaube ich Sie warnen zu müssen. Erwarten Sie, bitte, nichts mehr als ein Paar Gedanken, die mir gestern und heute eingefallen sind. Ich spreche nicht gerne über die vier oder fünf Dekaden der politischen und gesellschaftlichen Katastrophe, in der wir uns in unserem Lande befunden haben und immer noch befinden. Und wenn ich doch darüber etwas sage, also nur in ironischen Aphorismen, in denen alles leichter ausfällt als es wirklich war. Ich muß auch ehrlich sagen, daß ich die Einladung von Prof. Loewenstein lange nicht annehmen wollte und daß ich noch jetzt der Meinung bin, daß es nicht nur ein Fehler war, sondern ein klarer Unsinn, daß ich versprochen habe über das gegebene Thema zu sprechen. Wenn Sie dessen genug bewußt werden, werden Sie vielleicht verstehen, warum ich so schwerfällig anfange und dann nur zu trivialen Ergebnissen komme. Und jetzt Schluß damit und zur Sache, wie ich es schon zu schaffen imstande bin.

0.1

Wenn wir uns dem angegebenen Thema philosophisch widmen wollen (und das muß ich als Philosoph notwendigerweise unternehmen), müssen wir unser Vorhaben vor allem in drei Punkten kritisch überprüfen, d. h. philosophisch reflektieren. Prof. Loewenstein hat ursprünglich das Thema „Anthropologie des Dissents“ vorgeschlagen. Das scheint mir zu breit zu sein, aber ohne weiteres müssen wir den anthropologischen (natürlich: philosophisch-anthropologischen) Aspekt der menschlichen Identität wirklich ernst in Betracht nehmen. Die Frage der menschlichen Identität ist am engsten mit der Subjekt-Frage verknüpft, und sie wissen, wie der Subjekt-Begriff für manche zeitgenössische Philosophen gar zu bloßem Scheinproblem geworden ist. Es bleibt also für uns unausweichlich, nach der Möglichkeit und nach dem Sinn des menschlichen Selbst-Seins oder besser des Selbst-Werdens zu fragen, offensichtlich in der angegebenen geschichtlichen Situation. Ich lasse jedoch dieses Problem für die eventuelle Diskussion.

0.2

Der zweite zu überprüfende Punkt besteht in der Art, wie wir eigentlich die Umstände sowjetisch-kommunistischen Herrschaft verstehen, wenn wir über die sg. Totalität sprechen. Wenn es sich beim ersten Punkt über ein allgemein verständliches, wenn auch sehr verschieden gedeutetes Problem handelt, müssen wir damit rechnen, daß die sg. Totalität ganz anders erfahren wurde und immer noch wird von einem Außensteher als von dem, der jahrzehntelang in solchen Verhältnissen leben mußte und wirklich lebte. Keine politische Totalität ist „total total“, sondern nur relativ, d. h. zu gewissem Grade total. In einer Totalität gibt es immer noch unerfüllte oder noch nicht ganz erfüllte Totalitätsansprüche und damit verbundene Totalitätstrende. Auch die Totalität in ihrer Unmenschlichkeit bleibt meistens immer nur menschlich und sie muß sogar ihre wirkliche Unmenschlichkeit energisch umdeuten oder gar verbergen. Von außen gesehen oder gar nur als Modell konstruiert wird diese menschliche Unmenschlichkeit zu weit vergegenständlicht und damit gerade in ihrem spezifischen Unmenschlichsein entmenschlicht. Dieses Verfahren bringt u. a. auch ernste Gefahr mit, daß wir die künftigen unmenschlichen Tendenzen und Bewegungen wieder nicht bald genug erkennen werden, gerade weil sie für uns zu viele menschliche und allzumenschliche Züge tragen werden.

0.3

Der dritte Punkt endlich ist mit dem zweiten eng verbunden. Weil ich zu Ihnen spreche, die höchstwahrscheinlich keine direkte Erfahrungen mit dem kommunistischen Regime haben konnten Professor Loewenstein freilich ausgenommen -, muß ich Ihnen einige personnelle Erfahrungen vergegenwärtigen. Sie müssen deswegen (jedoch nur am Ende) mit gewissen autobiographischen Momenten rechnen. Ich will diese Momente vielmehr unterstreichen als verstecken, nur um der Gefahr einer unbegründeten Generalisierung zu entgehen. Ich bin der Meinung, daß verallgemeinernde (und das heißt: vergegenständlichende) Begrifflichkeit gar nicht weniger zu Erkenntnissen begrenzter Gültigkeit führen kann als z. B. die chassidischen Erzählungen. Und weil wir bisher noch keine andere Begriflichkeit auszuarbeiten imstande gewesen sind, müssen wir in gewissen Zusammenhängen gründlich anders als verallgemeinernd vorgehen, nämlich gewisse Gedanken mit Hilfe verschiedener einzelner narrativ geschilderter Beispiele zu vergegenwärtigen. Das darf natürlich nicht zu weit gehen, weil solch ein Rückgang vom LOGOS zum MYTHOS nicht nur nicht besonders erstrebenswert, sondern für uns Europäer auch überhaupt nicht anders möglich ist als ein Bestandteil des kulturellen und geistigen Untergangs.

0.4

Als Viertes würde ich doch nochmals das schon gesagte unterstreichen, daß es sich um eine philosophische Reflexion handeln soll. Und wie sie hoffentlich wissen, für eine philosophische Reflexion ist jede, auch ganz einzigartige Erfahrung gut genug als Startposition, sowie keine als letztgültig genügend. Und das gilt so allgemein und abstrakt genommen im Bereich der Wissenschaft nicht weniger als im Bereich des alltäglichen Lebens, im Falle derselben oder ähnlicher Erlebnisse einer Menge von Leuten als auch im Falle einmaliger und ganz personeller Erfahrungen einzelner Menschen. Ich bitte sie, diesen fundamentalen Unterschied der Philosophie von allen Einzelwissenschaften in der Diskussion bewußt und methodisch rein zu respektieren.

Personelle Identität

1.1

Das traditionell „metaphysische“ Denken (wie man darüber immer noch spricht) wollte das Identische der Person so verstehen, daß es dadurch fundiert und garantiert wird, was im Verlaufe des täglichen, wochentlichen usw. Lebens immer dasselbe und also unverädert bleibt. Solch ein Verständnis ist heute nicht mehr haltbar: nicht nur im Verlaufe keiner Lebensgeschichte, sondern in keinem echten, dh. sich ereignenden Seienden ist etwas so sich nicht Veränderndes, so unbeweglich Ausharrendes zu finden. Das bedeutet jedoch gar nicht, daß es keinen Sinn hat über irgendeine Identität im Lebensvorgang oder im Lebenserlebnis zu sprechen und daß es nicht möglich ist diese Identität überhaupt zu Denken. Die Lösung sehe ich in einer gründlichen Überprüfung unserer Idee des „Selbst“ und des „Selbst-Seins“. Nur ganz kurz und also notwendigerweise unvollkommen will ich jetzt philosophisch-anthropologisch die Hauptsache folgenderweise aussprechen: der Mensch ist nicht so sehr, was oder besser wer er ist, sondern vielmehr, was oder wer er sein wird. Das heißt, daß der Schwerpunkt seines Seins nichts Seiendes „ist“ und nie auf irgendein Seiendes reduziert werden darf.

1.2

Auch „der Andere“ ist dann nie nur der, der hier und jetzt vor uns „als Ganzes“ oder besser „als Ganzer“ steht, d. h. der uns entgegen steht (gerade das ist doch mit dem Wort Gegen-stand gemeint), sondern mit welchem wir auch für unsere gemeinsame und gemeinschaftliche Zukunft rechnen sollen und auch wirklich rechnen, oder besser und präziser gesagt, für dessen eigene Zukunft wir uns in unserer Zukunft offen stellen. Alle interpersonellen Beziehungen und Verhältnisse ereignen sich auf diesem Terrain der kommenden Zukunft, und zwar sowie in ihrem aktuellen oder schon ganz nahen, als auch in ihrem sich noch in der mehr oder weniger weiten Tiefe vorbereitenden Ankommen. Auch jedes Verhältnis zur Vergangenheit kann nur innerhalb dieses aus der gegenwärtigen Situation heraus, ja sogar des aus sich selbst Heraustretens vollgezogen werden, und nur dadurch kann der Mensch nicht nur die aktuell gegebene Situation, sondern auch sich selbst als den schon Da-seienden und Da-gegebenen überschreiten, ohne dabei „sich selbst“ (in einem anderen Sinne) zu verlieren. Die personnelle Identität darf also nicht nur und auch nicht an erster Stelle als auf der eigenen und zu eigen gemachten Vergangenheit gegründet verstanden werden, sondern muß in dem Zeitraum der ankommenden eigenen, dh. wieder auch zu eigen gemachten Zukunft gesucht werden, und zwar nicht als etwas schon in der Zukunft vorher Gegebenes (das wäre doch keine wirkliche Zukunft!), sondern als etwas sich als Antwort auf das Noch-nicht-gegebene, erst Ankommende sich Formende und erst Verwirklichende verstanden und gedeutet werden.

1.3

Wir übergehen jetzt immer noch vorübergehend zur Situation nach der kommunistischen Machtübernahme im Februar 1948. Die aktuelle soziale, politische und kulturelle Wirklichkeit hat sich in dem Umbruchmoment äußerich nicht viel verändert, mindestens nicht für die ganz große Mehrzahl der Leute. Wer nichts oder nur Weniges wußte über den Terror der zwanziger und über die Monsterprozesse der dreißiger Jahre in der Sowietunion, der durfte immer noch keine gründliche und langfristige Gefahr fühlen. Fast niemand glaubte, daß die neue Situation länger als ein Paar Jahre ausdauern kann. Nach dem Ende des Krieges haben fast alle verstanden, daß wir unsere Zukunft mit der Zukunft der neu sich formenden und, wie die meisten glaubten, sich reformierenden sozialistischen gesellschaftlichen und auch staatlichen Ordnung verknüpfen müssen, auch weil wir u. A. vor dem Krieg von den westlichen Mächten verraten und geopfert worden sind. Erst nach ein Paar Monaten haben die meisten Leute endlich mindestens zum Teil ernstgenommen, was eigentlich passiert ist. In den Tagen des Umbruchs gab es fast keine Proteste, mit einer einzigen Ausnahme, und das war die Studentendemonstration in Prag. Wie kann man es verstehen und erklären? Sicher nicht nur durch das Vergangene. Das war doch schon weg, das existierte nicht mehr. Man kann nur mit dem, was aus der Vergangenheit übriggeblieben ist, argumentieren, also mit dem gesellschaftlichen Gedächtnis und natürlich auch mit gewissen vergegenständlichten äußeren Verhältnissen, die aus der Vergangeheit noch überlebt haben. Diese beide Formen von Relikten mußten jedoch irgenwie gedeutet und mit der anwesenden und ankommenden neuen Situation konfrontiert werden. Das Entscheidende sollte und mußte also im Selbstbewußtein und Selbstverständnis der Leute beruhen. Und solches Selbsverständnis deutet nie nur das, was schon als vergangen weg ist, sondern hauptsächlich das noch Ausstehende, noch nicht Da-seiende, erst Ankommende, Künftige. Nur im Kontext des Nicht-mehr-Seienden und des Noch-nicht-Seienden ist ein Selbstbewußtsein und Selbstverständnis möglich.

1.4

Das genügt, wie ich glaube, was den Anfang der kommunistischen Diktatur in unserem Lande betrifft. Im Großen und Ganzen hat man die Situation allgemein nicht gut verstanden oder mindestens die gefährliche Richtung des politischen und gesellschaftlichen Geschehen unterschätzt. Auch damals gab es natürlich entschiedene, ja emphatische Gegner und scharfe Kritiker der Kommunisten und des Kommunismus, aber ihre Stimme war nicht überzeugend, denn ihr nur endliches, begrenztes Interesse war durchaus durchsichtig. Persönliche Integrität solcher Art von damals zeigt sich heute als notwendigerweise wirklichkeitsfremd, und zwar in derselben Weise bei den enthusiastischen neuen Anhängern wie bei den nicht weniger emphatischen Gegnern des neuen Regimes. Interessant sind nur Einzelgänger, die die Situation tiefer verstanden haben und die auf Grund eines besseren Verständnisses oder einer genaueren Deutung dessen, was sich zu entfalten zeigte, sich energisch für oder gegen diese Entwicklung entschlossen haben. Beides war jeoch problematisch, wie wir noch am Ende kommentieren werden. Die Hauptsache aus unserer Sicht war jedoch nicht, ob sie sich positiv oder negativ entschieden haben, sondern inwieweit sie durch diese Entscheidung im Einklang waren mit sich selbst, d. h. mit ihrer tiefsten Weltorientierung. Oder umgekehrt und negativ: inwieweit ihre positive Akzeptation der Entwicklung nur Ergebniß ihres Willens zur Anpassung war. Das konnte sich dann erst später klar zeigen, wenn zu den Monsterprozessen und zu Massenverfolgungen kommen sollte. Diese ganze damals ziemlich undurchsichtige Periode lasse ich jedoch beiseite stehen, und werde lieber kurz zur zweiten Hälfte der sechziger Jahre übergehen.

1.5

Wie Sie wissen, kam es nach den Budapester Ereignissen und nach dem polnischen Pazdiernik und dann nach der ersten mehr prophylaktischen Verhärtung zu einer Liberalisierungsperiode in der Entwicklung des kommunistischen oder direkt sowietischen Herrschaftssystems und der kommunistischen Politik sowie nach Außen, als auch nach Innen. Meiner Meinung nach war es eine wichtige Zeit für die Überprüfung gewisser personnellen Integrität der kommunistischen Intellektuellen und gewissermaßen auch der Politiker. Es war eine Zeit, wo man aus andersartigen Positionen auch im Rahmen des sozialistischen Lagers (und nicht nur im Westen) doch mit einigen Marxisten sprechen konnte. Da war es schon besser zu erkennen, wer ein wirklicher, innerlich überzeugter Marxist und Kommunist war, und mit so einem war ein Dialog wirklich möglich, obzwar gar nicht leicht. Da formte sich in unserem Land innerhalb der Partei eine Minderheit, die sich bewußt und oft mit Risiko für eine ekonomische, politische, und auch kulturelle Reform mehr oder weniger radikal einsetzte. Es ist ganz gut zu verstehen, daß diese Minderheit kein bedeutendes Verständnis gefunden hat in der Bevölkerung vor der militärischen Intervention im August 1968, weil für die Massen schon im voraus immer alles verdächtig war, was von den Kommunisten in Gang gesetzt wurde, auch wenn es sich nur um eine Minderheit handelte. Ganz allgemein hat man die Lage nur als einen weiteren inneren Streit um Positionen in der Partei verstanden. Was jedoch ziemlich überraschend war und immer noch ist, ist das Ausfallen jedes tieferen Verständnisses für die Reformbewegung innerhalb der Partei bei den nichtkommunistischen und nichtmarxistischen Intelektuellen. In den sechziger Jahren fand ich mehrere Parteimitglieder, die bereit waren auch mit Risiko in guten Sachen mir, der nicht in der Partei war, mitzuhelfen, wogegen es unter den Parteilosen nur ganz seltene Ausnahmen gab, die bereit waren sich in ähnlichen Fällen auch nur ganz vorsichtig zu engagieren. Gerade das sehe ich als äußerst wichtig für die nächste Entwicklung unter dem Normalisierungsdruck.

1.6

Wie zu sehen ist, war es ziemlich schwierig in dieser Zeit selbst zu bleiben und noch schwieriger selbst zu werden. Der Totalitätsanspruch des kommunistischen Regimes war auch auf die größtmögliche Unterdrückung oder Verminderung der Möglichkeit Selbst zu werden und zu bleiben orientiert. Man muß zugeben, daß wir etwas Ähnliches bei allen Staatsgebilden und allen Gesellschaftsordnungen als Tendenz beobachten können. Der wesentliche Unterschied besteht jedoch darin, daß in dem System des „realen Sozialismus“ nicht nur die Nichtkommunisten, sondern selbst die Kommunisten ihrer weiteren nicht weniger als der ganz nahen Vergangenheit beraubt wurden oder werden konnten, und was noch grausamer war, auch ihrer eigenen Zukunft. Am Anfang wurde es als notwendig für die ideologische Reinheit und Echtheit begründet, später hat es sich jedoch als Vorbedingung jeder Instrumentalisierung der Leute durchgesetzt, daß sie allen tieferen gesellschaftlich nicht weniger als individuell geschichtlichen Kontexten entwurzelt worden und gar sich selbst zu entwurzeln bereit und wollend sind. Diese Entwurzelung war so massenhaft und reichte in unserem Lande wahrscheinlich viel weiter und tiefer als in anderen Ländern des sg. sozialistischen Lagers, ja sogar in Böhmen (und auch in Mähren) wesentlich weiter als in der Slowakei, weil das Wegfallen jeder wirklichen und wirkenden geschichtlichen Dimension wahrscheinlich in keinem anderen dieser Länder sich so katastrophal durchsetzte als gerade bei uns. Integrierte Persönlichkeiten können sich überhaupt nicht formen und nicht wachsen in einem gesellschaftlichen Raum, der statt einer wirklichen Vergangenheit und statt einer wirkenden Zukunft nur mit instrumental manipulierbaren und immer auch manipulierten Surrogaten oder Ersatzmitteln einer wirklichen Zeit ausgestattet wird.

Die sg. „Totalität“

2.1

Dadurch kommen wir auch zu einer Präzisierung einer der Wesensmomente der so oft mit dem nicht ganz passenden Namen „Totalität“ benannten kommunistischen „Diktatur“ was auch nicht das wirkliche Wesen des kommunistischen Regimes recht benennt. Das Wort „Diktatur“ kommt von „diktieren“, also gegen den Willen der Leute und meistens mit Gewalt ein Diktat des Diktators durchsetzen. Wir konnten in den letzten Jahren vor dem Umbruch sehr klar sehen, daß es keinen Diktator mehr gab, daß es sich schon lange nicht mehr um eine Diktatur handelte, daß sogar niemand unter den höchsten Parteiund Staats-Funktionären imstande war irgendein Diktat zu konzipieren und zu formulieren, und zwar auch nicht in der Stunde der höchsten Gefahr oder besser in der Todesstunde der seltsamen gesellschaftlichen und politischen Gestalt des Komunismus, oder mit dem freiwillig ausgewählten, jedoch unreflektiert und unwissend ironischen Namen: des „realen Sozialismus“. Und was das Wort „Totalität“ bestrifft, ist es nicht weniger irrtümlich und konfus. Jedes „totum“ ind dieser Welt, das heißt jedes Ganze, ist immer wesentlich mehr, als es aktuell und mommentan „ist“: es ist in gewissem Sinne immer noch, was es war und eigentlich nicht mehr ist, und es ist auch in einem anderen Sinne, was es noch nicht ist, sondern erst wird (und das heißt: nur möglicherweise wird). Es gibt kein Ganzes, kein „totum“ ohne seine eigene, schon vorübergegangene Vergangenheit, und noch weniger gibt es so ein „totum“ ohne seine eigene, noch zu kommende, noch zu verwirklichende Zukunft. Wenn wir einsehen und annehmen, daß der „reale Sozialismus“ so tief auf die Entwurzelung und auf das Ausgerissensein aus jeder wirklichen und wirkenden Geschichte immer ostatentativer orientiert war, sehen wir auch ein, daß es eigentlich kein „totum“, keine wirkliche Totalität war (und schon gar nicht im Hegelschen Sinne). Es ist wieder nur ein unpassender und verwirrender Name. Wenn wir überhaupt das Wort behalten wollten, müßten wir immer wieder über falsche oder verfälschte Totalität sprechen, über eine aus der Geschichte immer weiter herausfallenden Pseudo-Totalität. Das ist jedoch auch mit einem tiefen Problem verbunden, weil in der Geschichte stellt kein geschichtliches Ereignis ein echtes Ganzes vor. Dieses Problem lassen wir aus äußeren Gründen unberührt am Rande unserer Erwägungen; ich möchte nur den Unterschied unterstreichen zwischen dem unechten Ganzen eines geschichtlichen Ereignisses und der PseudoTotalität einer innerhalb der Geschichte entstandenen Gesellschaftlichen und polittischen Struktur, die systematisch und aus inneren Gründen ihre wirkliche geschichtliche Kontexte verdeckt, negiert und Schritt für Schritt zerbricht und womöglich abschneidet.

2.2

Totum heißt jedoch nicht nur „ganzes“, sondern auch „alles“. Der marxistische Materialismus wendete sich tatsächlich gegen alle Traditionen oder neue Versuche, die Lebenssituation des Menschen so zu deuten, daß es hinter dem Gegebenen und d. h. neben ihm noch etwas Anderes gibt, das ebenso wichtig oder sogar wichtiger ist auch für das menschliche Dasein als das nur Gegebene. Dem zu trotz, daß die ganze marxistische Utopie nur eine sozusagen häretische Umdeutung alter christlicher und sogar vorchristlicher, hebräischer Gedanken und Vorstellungen vorstellt, muß man zugeben, daß diese Umdeutung noch viel mehr hellenisierend war und ist als die sehr oft (vom griechischen Standpunkt gesehen) konfuse und widersinnige, kompromißvolle Synkresis beider großer Überlieferungen. Dieser sogenannte materialistische Monismus ist unbewußt auf dem eleatischen Fundament gebildet, der trotz seiner Widersinnigkeit bedauerlicherweise so einflußreich in der weiteren Geschichte des europäischen Denkens sein sollte. Einer der Fundamentalgedanken Parmenides´ ist gerade das Wegtun der Vergangenheit und der Zukunft: das, was ist, war nie und wird nie sein, es ist immer nur jetzt. Wie immer wir es deuten wollen, positiv oder negativ, es bleibt als die mächtigste Herausforderung für fast alle weiteren Denker nicht nur des Altertums, sondern auch des ganzen Mittelalters und mit großem Einfluß noch tief in die Neuzeit und in den Anfang der Modernität. Hier scheint mir der von Nietzsche benannter „europäische Nihilismus“ verankert zu sein, hier sehe ich seine ursprünglichen Wurzel. Dieser spezifische Nihilismus besteht eigentlich überhaupt nicht oder mindestens nicht in erster Reihe in dem Abschaffen Gottes oder aller metaphysischen Werte, sondern im Festlegen oder vielleicht besser: im festen Glauben, daß nur das Seiende wirklich ist, und in einer solchen Auffassung des Seienden, die es auf das Da-Seiende oder präziser an die nur aktuell anwesende Seiendheit des Seienden reduziert. Und gerade diese aktuell anwesende Seiendheit (oder das All solcher aktuell anwesenden Seiendheiten) soll nach diesem „Glauben“ alles sein, wozu nichts mehr, nichts anderes zugerechnet werden darf, weil alles andere nur subjektive Meinung oder gar Täuschung, Irrtum oder bloße Illusion sein kann.

2.3

In dieser Pseudo-Welt, in diesem Pseudo-Totum, Pseudo-Totalität hat freilich der Mensch so wenig Lebensraum, wie die Götter oder „der“ Gott. Wenn sich also die sg. Dissidenten in einer Situation befanden, wo für sie, d. h. für sie persönlich, für ihr Selbst-Sein und ihr Selbst-Werden kein Spielraum, ja kein Lebensraum überhaupt zur Verfügung stand und stehen durfte, wo sie sich nicht nur ihrer fundamentalen Rechte, sondern sogar ihres Mensch-Seins beraubt fühlen mußten, da war es nur eine Frage ihrer Fähigkeit und ihres Willens, diese ihre eigene Situation als nur viel klarer erhellte Situation des modernen Menschen im allgemeinen zu erkennen und also sie nicht nur im einspurigen, eingleisigen Protest gegen das kommunistische Regime neutralisieren zu lassen. Das war auch der Hauptgrund, warum die meisten von ihnen den Namen „Dissidenten“ abgewiesen haben, weil sie ihre Position wirklich als Position, also positiv verstanden haben, wogegen nicht nur das kommunistische Regime, sondern die ganze Struktur der modernen Welt als etwas sekundäres, des eigenen Wesens oder vielmehr Werdens beraubtes, reduziertes und ergo negatives, gegenüber der wirklichen, dh. geschehenden Geschichte „dissidentes“ erscheinen mußte und wirklich erschien.

2.4

Nicht alle waren sich der soeben geschilderten Situation klar genug bewußt, nicht alle waren imstande dieses neu enstehende Bewußtwerden oder Zum-Bewußtsein-Kommen auszuhalten, und nur ganz seltene von ihnen wollten es noch gründlicher überprüfen und auch der Versuchung des Annehmens verschiedenster politischer und hochamtlicher Funktionen und damit einer falschen und illusiven Erlösung aus dieser peinlichen Situation entgehen. Es bleibt jedoch eine nicht zu bestreitende Tatsache, daß sich hier ein neues Gefühl, ja etwas mehr, eine neue Sicht formt und lansam durchsetzt, die ein fälliges Wort, eine fällige Formulierung immer noch suchen. Und in dieser noch wenig durchsichtigen Lage könnte sich es vielleicht manchmal lohnen jenes Gefühl und jene neue. noch nicht genug strukturierte Sicht unter das Apparat einer gründlicheren, nämlich philosophischen Reflexion zu bringen. Die Voraussetzung dafür besteht in einigen formulierten ganz persönlichen, fast autobiographischen Gedanken, die dann analysiert werden könnten.

Persönliches

3.1

Wenn man selbst werden und selbst bleiben will, muß man schon gewissermaßen von woher kommen und irgendwo verankert sein. In der modernen Welt wird es immer schwieriger und in der sg. postmodernen fast unmöglich. Wenn Drucke oder Modewellen oder irgendwelche ideologische u. ä. Versuchungen kommen, hat man midensten gewisse Bremsen zur Disposition und manchmal auch gewisse, obgleich nicht endgültige Maße und Kriterien jedenfalls hat man einen notwendigen Raum für den kritischen Abstand. Für mich war es an erster Stelle mein protestantischer Hintergrund und später immer mehr eine nicht gerade genügend ausgearbeitete tschechische Denktradition, die mir diesen freilich nur denkerischen Abstand ermöglichten. Als wichtig an erster Stelle sehe ich, daß man überhaupt so einen Hintergrund hat, der uns einen Abstand und eine nicht nur nach außen polemische, sondern ganz innerlich nachdenkende Konfrontation ermöglicht. Früher oder später wird immer dazu kommen, daß wir auch unserem Hintergdund gegenüber, ja sogar uns selber gegenüber kritisch und d. h. mit Abstand uns verhalten müssen werden. Gerade das ist jedoch ganz in Ordnung. Leute ohne einen solchen Hintergrund und ohne eine solche anfängliche Verankerung haben es viel schwieriger, wenn sie wirklich sie selbst werden wollen.

3.2

Zweitens halte ich für außerordentlich wichtig für mich persönlich, daß ich mich in der Umgebung von einigen hervorragenderen Persönlichkeiten bewegen konnte, die an einem gewissen höheren Niveau ihr Verhältnis zu der sich verändernden politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umgebung konzipiert und auch durchdacht haben, ohne ihre eigene personelle Integrität zu verlieren. Das ist in allen Überhangszeiten schwer, aber in solchen Fällen, die ähnlich sind wie die gerade geschilderte sich lang über Jahrzehnte erstreckende und ausdauernde Situation, ist es immer ein seltenes und oft ganz einziartiges Glück. Ohne Vorbilder bleibt man bei allen Erfindungsaktivitäten zu bald bei ungeheuren Probleme stehen, gerade weil man keine Vorbilder hat oder zu haben meint. In meinem Fall war es in damals schon ziemlich berühmter tschechischer Theologe und Philosoph, Josef Lukl Hromádka. Der hat uns nicht nur ohne zu schwanken ein Vorbild entschiedenen Verhaltens in seiner eigenen Person gezeigt, aber während der Jahren hat er uns durch seine gar nicht kleinfügige Fehler und Irrtümer klare Grenzen gezeigt, die damit für unsere Neigung immer noch hinter ihm und mit ihm weiter zu gehen gestellt worden sind, obwohl natürlich so von seiner Seite nicht geplant geworden zu sein.

3.3

Dazu braucht man jedoch einen gewissen Raum, in dem Sie sich bewegen und hauptsächlich entwickeln können. Solche hervorragende Leute, gleich ob Sie mit ihnen noch einig bleiben können oder nicht mehr, schaffen üblicherweise solchen Raum um sich herum. Auch deswegen ist es äußerst wichti, solche Persönlichkeiten aufzufinden und im Feld ihres Einflußes und ihrer Tätigkeit mindestens am Rande eine gewisse Zeit zu bleiben. Es handel sich nicht immer um einen ausschließlich persönlichen Einfluß einer einzigen Person, weil auch so eine Persönlichkeit wieder ihre eigene Vorbilder vor gewisser Zeit gehabt hat und wahrscheinlich immer noch hat. Diese direkte persönliche Anknüpfen an die geistige Vorfahren ist außerordentlich wichtig. Und ich muß nur wiederholen, daß es sich nicht nur und ausschließlich um ein Nachahmen oder Immitieren handelt. Solche Orientierungsgestalt kann Sie auch provozieren, ja irritieren, und doch behält sie ihre Wichtigkeit für Sie, weil sie immer auch isnpirierend ist.

3.4

Noch eines bleibt zu unterstreichen. Ich habe es lange gefühlt, aber ich fand es klar und präzis erst in den Erinnerungen von Naděžda Mandělstamm gefunden. Ich bin jetzt nicht imstande es genau zu zitieren, aber ich werde es so formulieren, wie es mit meinen Erfahrungen korrespondiert. Wenn so ein großes, obzwar ziemlich problematisches und gar negatives Geschehen Sie zu bewältigen droht, wie es z. B. in zwanziger und dreißiger Jahren in der Sowiet-Union war oder nach dem Krieg in den sg. Volksdemokratzien, dann eine vollkommen negative Einstellung macht Sie entweder aktionsunfähig oder führ zu Ihrer Vernichtung. Wenn Sie dagegen alles schlucken und sich anpassen, werden Sie vom Innen vernichtet oder assimiliert. Nur ein v orscihtiges ballanzieren an der Schärfe des Messers ermöglicht Ihnen, natürlich nich ohne Risiko, doch etwas Positives zu versuchen und zu tun.