Die Perspektive des Menschen ist die Freiheit
| docx | pdf | html ◆ interview, German, origin: květen 2007
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  • Perspektiva člověka je svoboda

  • Die Perspektive des Menschen ist die Freiheit. Als Sklave geboren zu werden, ist keine lebenslängliche Angelegenheit“, sagt PhDr. Ladislav Hejdánek


    Prof. PhDr Ladislav Hejdánek (*10.05.1927), Philosoph und ehemaliger Sprecher der Charta 77, ist einer der bedeutendsten gegenwärtigen europäischen Denker. Er ist nicht nur ein Rhetor, wie viele zeitgenössische Sophisten, sondern er lebt nach den Prinzipien der Philosophie. „Suche die Wahrheit, höre die Wahrheit, lerne die Wahrheit, liebe die Wahrheit, verteidige die Wahrheit ...“ (Johannes Hus), wurde zum Lebensmotto von Prof. Hejdánek. Professor Hejdánek gehört zu den markanten Persönlichkeiten der Charta 77, er war eine moralische Stütze für viele Unterzeichner insbesondere in der Zeit der Normalisierung und der Inhaftierung Václav Havels. Aufgrund seiner politischen Einstellung war es ihm untersagt, seinen Beruf auszuführen. Er ernährte sich als Hauer, als Betonarbeiter, später als Nachtwächter usw. Ende 1971 wurde er verhaftet und verbrachte 6 Monate im Gefängnis der Haft. Er organisierte Seminare in seiner Wohnung und publizierte im Ausland. Nach 1989 wurde er rehabilitiert und leitete den Lehrstuhl für Philosophie an der EThF UK. Auf die Frage, ob er sich bewusst war, die Freiheit niemals erleben zu können, antwortete er, dass er dies für seine Kinder tat, für jene, die nach ihm kommen. „Die Perspektive des Menschen ist die Freiheit. Als Sklave geboren zu werden, ist keine lebenslängliche Angelegenheit“.


    1.

    Wie würden Sie die Situation, das gesellschaftliche Klima heute 16 Jahre nach der „Samtenen Revolution“ bewerten?


    Das sind zwei verschiedene Dinge. Sofern es Ihnen darum geht, wie ich es sehe, dann muss ich sagen, dass das riesige Potential, das die Veränderungen nach dem November mit sich brachten, überwiegend vergeudet wurde. Es zeigte sich schnell, dass es um keine „Revolution“ ging, sondern eher um eine seltsame „Restauration“, die unsere Gesellschaft in einigen Beziehungen keinesfalls nur um ein halbes Jahrhundert zurückversetzte (d.h. in die Erste Republik), sondern sogar noch um eine Reihe Jahre weiter nach hinten (z.B. sofern es sich um die rechtliche Sicherheit bzw. Unsicherheit handelt). – Und wie sehen es die Menschen? Sicher verschieden danach, was sich von ihrem Standpunkt aus verändert hat. Ein bedeutender Teil der Bürger verlor irgendwelche ehemalige Privilegien, und viele wurden ferner durch die früher nicht vorhandene drohende Gefahr des Arbeitsplatzverlustes verunsichert. Die Nachnovember-Begeisterung der restlichen verflog, es überwiegt Desillusion, viele, die Initiative ergriffen und sich auf ein kleine Unternehmungen einließen, sind frustriert. Ungeachtet einiger Überbleibsel verschiedener persönlicher Überzeugungen, können wir einen fortschreitenden Verlust tatsächlicher Lebensorientierung beobachten. Breiteste Bevölkerungsschichten verloren die Vorstellung, dass wir irgendwo hinsteuern, von der Zukunft erwartet niemand etwas Gutes, freilich außer einer privaten (insbesondere finanziellen) Verbesserung der eigenen Situation. Das Ziel der Mehrheit ist, Geld zu verdienen, keinesfalls etwas zu machen, zu schaffen. Der ökonomische Erfolg soll den Sinn des Lebens ersetzen.


    2.

    Gibt es aus einer solchen gesellschaftlichen Frustration irgendeinen Ausweg?


    Von irgendeiner „Ausweglosigkeit“ kann keine Rede sein; Misserfolge und Rückschritte gab es in unserer Geschichte doch schon eine ganze Reihe. Es ist allerdings notwendig, die Situation so zu sehen, wie sie ist, und sie nicht schön zu färben. Weder „Restauration“ noch gesellschaftliche Frustration ist in der Regel (und besonders muss nicht sein) von langer Dauer. Es hat auch einige positive Konsequenzen, nämlich dass sich die Menschen mehr bewusst werden (bzw. sich bewusst werden können), was sie bereits verloren haben und was sie noch verlieren könnten. Zugleich bringt es allerdings auch eine spezifische Gefahr mit sich, insbesondere dass wieder unterschiedlichste Demagogen und „Heilsbringer“ zum Vorschein kommen. Diese müssen wir verständlicherweise erkennen und entlarven, aber wir dürfen nicht jeden verdächtigen. Wir müssen uns bewusst werden, dass die Probleme sich nicht von selbst lösen, dass kein Automatismus vorliegt, sondern dass wir wirkliche Leader brauchen, die auf der Höhe sind und besser und weiter als die übrigen sehen, es fertig bringen, die Hauptrichtung aufzuzeigen und die übrigen davon überzeugen. Illusionen und leere Reden retten uns nicht, wir brauchen ein klares und verständliches Programm. Eine hoffnungsvolle Orientierung auf die Zukunft kann man nicht erzwingen, sie muss richtig und für die Mehrheit der Menschen verständlich begründet sein. Leider geht es nicht nur um unsere heimische Situation, sondern um die Situation ganz Europas (und teilweise Amerikas), die ein wenig an den Niedergang und den Zerfall des alten Roms erinnert. Diese „begründete Hoffnung“ fehlt auch anderswo in Europa. Die Christen der ersten Jahrhunderte haben so etwas zustande gebracht, und am Ende hat sie auch dies nicht erschreckt, dass Rom vor ihren Augen zusammenbrach. Es gelang ihnen dies, weil sie es schafften, sich diese spezifisch jüdische (prophetische) Offenheit für die Zukunft zu erhalten und anzueignen. Ich bin mir sicher, dass nur eine neue Anknüpfung an diese Tradition, die in bevorstehender Zeit etwas Großes erwartet, das man mit allen Kräften unterstützen muss, eine heilende Wirkung haben kann. Es geht nur darum, was es sein wird, im Grunde genommen eher was es sein sollte. Von diesem Bedürfnis einer hoffnungsvollen Erwartung lebte unterdessen der Kommunismus (als christliche Häresie) und natürlich auch der Faschismus und Nazismus (als Neuheidentum).


    3.

    Liegt es nicht daran, dass ein gemeinsames Ideal fehlt? Die nationale Wiedergeburt hatte bei uns einen unglaublichen Erfolg dank der Arbeit von Tausenden heute bereits unbekannten Lehrern, Priestern, Ärzten und Künstlern, die der Wiedergeburt ihr Leben weihten. Das Ideal wurde zur treibenden Kraft der damaligen tschechischen Gesellschaft.


    Das Ideal der Wiedergeburt und der Erhebung des „Volkes“ wurde von den Deutschen entlehnt (und dieses „Volk“ musste in dieser neuen Auffassung erdacht werden). Die Herdersche Vorstellung war, dass die Antriebskraft der Geschichte zu dessen Zeit das „deutsche Volk“ (d.h. die Germanen) sei und in der Zukunft die Slawen sein werden. Dies wurde von unseren Vertretern der Wiedergeburt ideologisch ausgenutzt, und deshalb soviel Panslavismus und Russophilie. Die Geschichte hat dann gezeigt, dass diese Betonung auf dem „Volk“ als rassischer Gemeinschaft (oder in anderer Gestalt als Gemeinschaft einer Klasse) nur ein Vorwand für Großmachtsstreben war und letztlich die ganze Zivilisation bedrohte. Nicht jedes Ideal und nicht jede Vision ist heilbringend. Allerdings können wir nicht auf Ideale und Visionen, aber auch nicht auf echte Leader weder heute noch in der Zukunft verzichten.


    4.

    An was können wir bei der nationalen Wiedergeburt anknüpfen? Wir sind doch in einer ähnlichen Situation, wir erwecken die Gesellschaft aus Ruinen wieder.


    Die konzentrierten Anstrengungen und der Arbeitseifer der Wiedererwecker kann uns sicher ein Vorbild sein, aber ebenso müssen wir unter ihnen richtig auswählen können. Wenn wir schon wieder um soviel zurückgeworfen wurden, würde es sich lohnen, etwas von diesen beeindruckenden Zeiten des vorvorigen Jahrhunderts von neuem zu lernen. Für eine eingehende Ausführung ist hier nicht genügend Zeit, und ich weiß auch gut, dass andere anders als ich auswählen würden. Aber für mich werden vor allem politisch immer wieder Palacký und insbesondere Havlíček inspirierend sein, und dann die großen Kämpfe der 80er/90er Jahre, hauptsächlich jedoch Masaryk, diese unglaubliche Gestalt unserer modernen Geschichte, dessen Beispiel und Vermächtnis wir weder in der ersten Republik geschweige denn später treu geblieben sind. Aber gewiss können wir niemand von ihnen nachahmen; wir leben in einer anderen Zeit, und uns erwartet höchstwahrscheinlich eine ganz andere Zukunft, als sie geschätzt und vermutet haben. In einer Sache können sie uns aber entschieden helfen: wie man dieser momentanen postmodernen Verschwommenheit, diesem Kokketieren mit den verschiedensten fremden Richtungen und Stimmungen und Importartikeln aller Art, die in oberflächliche Floskeln über Multikulturalismus verpackt sind, zusammen mit einer Ablehnung des sog. Eurozentrismus usw., die Stirn bieten kann. Wir müssen wieder sowohl unser heimisches kulturelles Erbe als auch das große europäische Erbe besser kennen lernen (dort müssen wir allerdings auch überall auswählen können).


    5.

    In Ihren Vorträgen unterstreichen Sie häufig, dass Europa eine kulturelle Angelegenheit und nicht nur eine geopolitische Ordnung sei.


    Europa ist in der Tat weder nur der westliche Ausläufer des asiatischen Kontinents noch ein Haufen von Staaten und Kleinstaaten auf diesem Gebiet, sondern einerseits eine fast dreitausend Jahre dauernde Zivilisationsgeschichte dieses Territoriums, die es manchmal auch bedeutend überschreitet, und es ist dies eine ganz und gar beachtenswerte vielschichtige Kultur, die verbunden ist mit riesigen Erfindungen, wie z.B. das begriffliche Denken, die Philosophie, die Wissenschaft (und heutzutage die technischen Wissenschaften), aber auch mit vielen Versuchen um die beste (aber auch sehr schlechte) gesellschaftliche und politische Ordnung. Es ist dies eine Kultur, die der Welt viele Guttaten brachte, aber leider auch viel Böses, Leiden und Verderben. Die zwei schrecklichsten Kriege, die die Welt kannte, wurden von Europäern entfesselt, aber auch in der fernen Vergangenheit gibt es eine Fülle von solchen größeren oder kleineren Katastrophen. Die außereuropäischen Gesellschaften haben viele Gründe, über Europa und die Europäer das Schlimmste zu denken; denken wir nur an die Schrecken der „Besiedelung“ Amerikas und an den damit verbundenen Genozid. Auch finden wir in der Geschichte Europas viel davon, was wir dort lieber nicht hätten, und deshalb müssen wir auch hier gut auswählen können. Dies können wir aber nicht tun, wenn wir diese Geschichte nur ungenügend kennen oder dort die verhängnisvollen Dinge irgendwie verstecken oder camouflieren wollen. Ohne eine gute Kenntnis werden wir aber auch nicht in der Lage sein, die positiven „Erfindungen“ zu würdigen, die die ganze übrige Welt beeinflussten und bis heute weiterhin beeinflussen.


    6.

    Die Dynamik wird als wesentlicher Charakterzug der europäischen Kultur angeführt. Woher nimmt sie diese Dynamik?


    Ich würde sagen, dass es notwendig ist, dies noch ein wenig zu präzisieren. Dynamik kennzeichnet verschiedene Gesellschaften und ganze Zivilisationen zu verschiedener Zeit. So stellt etwa die „Völkerwanderung“ (davon gab es einige) eine sehr dynamische Epoche dar. Im Fall Europas geht es eher um eine ganz spezifische „Dynamik“, die viel mehr auf einer gewissen, über Jahrhunderte gewachsenen inneren Bereicherung des Lebens und Denkens basiert. Manchmal machte sich dies auch nach außen hin bemerkbar, aber ein andermal hatte dies eher den Charakter von nach außen hin unauffälligen Vorbereitungen gewaltiger künftiger Wandlungen. Ich habe den Eindruck, dass es vorläufig keine Einigkeit in der Beurteilung darüber gibt, woher dies alles kam und woher dies vielleicht künftig kommt und schöpfen kann. Ich habe den Eindruck, dass es irgendwie bereits am Anfang des ganzen sog. „griechischen Wunders“ anwesend war, füge aber stets hinzu, dass eine enorme, bislang unzureichend gewürdigte Bedeutung gerade die gänzlich unterschiedliche „Dynamik“ der Entwicklung einzelner hebräischer Traditionen hatte, und besonders die langfristige Begegnung, die gegenseitige Beeinflussung und manchmal auch die Synkrise und Synthese von Elementen beider Traditionen, um die sich in außergewöhnlichem Maße das Christentum verdient gemacht hat.


    7.

    Neben der Dynamik wird häufig als Kennzeichen des westlichen Denkens das lineare Zeitverständnis als einer Geraden.


    Die angebliche „Linearität“ beruht darauf, dass sich die Zeit in unseren Vorstellungen als Linie erstreckt, und auf dieser bestimmen wir dann, wie im Kalender, was früher und was später ist, was Vergangenheit, Gegenwart ist, und was Zukunft ist. Aber so, wie wir sie heute verstehen, sieht die Zeit dennoch nicht aus! Diese „Linearität“ wurde nur zu einer Losung, einem Slogan unserer Erzählung und unseres Denken „über die Zeit“. Die wirkliche Zeit gehört immer etwas oder eher jemandem, es ist dies jemandes Zeit, von etwas Geschehendem, Lebendem oder beinahe Lebendem, das zuerst klein ist, dann heranwächst, an Stärke zunimmt und untergeht – und dabei entsteht irgendwo von neuem etwas anderes mit dessen anderer Zeit. Zeit ist etwas, das mit dem Leben verbunden ist, mit dem prozessualen Geschehen, d.h. dem Geborenwerden, Heranwachsen (Heranreifen) und Absterben. (Heutzutage ist es bereits gang und gäbe, dass mit diesen Strukturen die Astrophysiker arbeiten, ohne zu behaupten, dass die Sterne oder Galaxien „lebendig“ seien.) Eine gewaltige Neuheit, eigentlich auch eine „Erfindung“ des jüdischen Denkens ist, dass das individuelle Geborenwerden, Geschehen und Sterben, möge es von Einzelnen oder Epochen sein, niemals an einem Ende ist, dass es niemals aufhört. Trotz aller Enden und „Krache“ kommt immer wieder etwas Neues, ein neuer Anfang. Und entgegen dem mystischen (und mythologischen) Denken in „Zyklen“, wo ständig „dasselbe“ zurückkehrt oder sich wiederholt, ist hier mit einem Mal eine gewisse allgemeine Richtung, eine Zielrichtung nicht nur „vorwärts“, sondern auch „aufwärts“. Das ist keine Linearität, eher eine Schraubenlinie; bereits Hegel versuchte dies gedanklich zwar als Wiederholung zu erfassen, aber auf einer höheren Ebene.


    8.

    Dies erinnert an die Vorstellung der Evolution.


    Ja, Evolution, aber die mit etwas Neuem rechnet. Das Wort Evolution selbst ist nämlich (und bereits ursprünglich) mit der Vorstellung belastet, dass sich nur etwas entwickelt, was in eingehüllter Gestalt schon gleich am Anfang da ist. Damit sind vor allem sehr viele Naturwissenschaftler belastet, aber dieses Vorurteil teilen bis heute die Mehrheit der Menschen. Schon in den Schulen werden die Kinder damit gefüttert: der Mensch ist so, wie seine Gene sind; und die Gene sind nur gewisse große Atomgruppen, die kompliziert zu irgendeinem „Text“ geordnet sind, der durch die einzelnen Zellen nicht nur gelesen, sondern sogar abgeschrieben und so kopiert werden kann. Deshalb kommt es auch zu Tippfehlern, und es entstehen Fehler. Diese können manchmal ausgebessert werden, ein andermal sind sie irreparabel und führen zu einem Absterben. Ganz ausnahmsweise kann sich ein solcher Fehler unter weiteren außergewöhnlichen Umständen als ein Erfolg und eine Verbesserung erweisen. Es nimmt nicht Wunder, dass dann irgendwelche dummen, weniger gebildete oder absichtlich irregeführte Menschen die Evolution ablehnen, weil sie sie als eine Behauptung auslegen, wonach der Mensch eigentlich nur ein Affe sei, bei dessen Abschrift der Geninformation es zu Tippfehlern kam. In Wirklichkeit bedeutet Evolution jedoch etwas ganz und gar anderes: es ist dies doch eine unglaubliche, fast wunderbare Sache, dass inmitten alter Dinge und Ordnungen sich auf einmal etwas Neues offenbart, was aus dem, was vorher war, nicht hervorgeht, aber was eigentlich alles Alte in ein neues Licht stellt.


    9.

    Von Zeit zu Zeit erwähnen Sie, dass Ihnen die heutige Situation in Europa in einiger Hinsicht an den Fall und das Ende Roms erinnert.


    Tatsächlich erinnert es daran, und es könnte auch irgendwie ähnlich ausgehen. Und dies nicht nur deswegen, weil – wie Huntington versucht zu argumentieren – es morgen oder übermorgen die Chinesen, Muslime, Inder usw. sein könnten, welche die Rolle der damaligen Germanen spielen (wenn auch mit gewissen Veränderungen), die Rom zwar vernichteten, nachher aber vieles von ihm übernahmen und sogar versuchten, es durch die Wiederherstellung des Kaisertums aufzuerwecken. Wichtiger als die Erschütterung von außen, ist die Auflösung im Innern. Rom war verfault schon lange bevor ihm die Germanen (im übrigen stark römisiert!) den letzten Stoß versetzten. Auch heute geht es vor allem darum, was die Europäer mit sich selbst machen. Tatsächlich leben wir schon lange in einer Zeit des Niedergangs, zerrüttet durch zwei große Kriege und unfähig sich zu verständigen, wie solche Exzesse zu verhindern sind, zu denen es z.B. im ehemaligen Jugoslawien kam. Europa muss neue Ziele und einen neuen Weg zu ihnen finden; allerdings bedeutet dies, Verantwortung zu übernehmen. Falls dies die Europäer nicht tun, machen sie anderen den Weg frei. Das muss kein Unglück sein, wenn die anderen diese Verantwortung auf sich nehmen. Doch gibt es da noch zahlreiche ganz andere Gefahren: von Regierungen unterstützten Terrorismus (auch in der 3. Welt!), unkontrollierte Massenvernichtungswaffen, insbesondere jedoch eine arme, hungrige und durstige Weltmehrheit. Dazu kommen noch verschiedene globale Gefahren, die allein schon zunehmen, wenn wir nichts anderes als das tun, was wir gewöhnlich tun. Die römische Elite starb an Bleivergiftung; Gifte, die heute nicht nur die Menschen, sondern alle Lebewesen bedrohen, können wir vielleicht nicht alle aufzählen. Dabei sind nicht einmal die fortschrittlichsten Gesellschaften in der Lage, ihre inneren, bürgerlichen Angelegenheiten so zu regeln, dass das Leben aller wenigstens erträglich ist.


    10.

    Meinen Sie, dass die Europäer auf dem Planeten eine größere Verwüstung verursachten als die anderen Zivilisationen?


    Falls wir diese „Einwirkung“ quantifizieren müssten, so am ehesten ja, aber die außereuropäischen Länder holen heutzutage stark auf. Die Europäer haben aber auch eine Verantwortung dafür, was sich außerhalb Europas tut, weil die Schuld auch dort ist, wo wir etwas vergaßen zu tun oder einfach unterließen, nicht nur dort, wo wir selbst etwas Böse getan haben. Das ist übrigens auch eine von den bislang nicht genügend gewürdigten europäischen „moralischen Erfindungen“. Es hängt dies sehr stark mit dem Verständnis von „Freiheit“ zusammen: wir sind in der Tat nur dort frei, wo wir bereit sind auch dort Schuld auf uns zu nehmen, wo wir selbst nichts aktiv und persönlich verschuldet haben. Wer dazu nicht fähig ist, kann nicht frei werden und ist auch nicht wirklich frei. Freiheit ohne Verantwortung hört auf Freiheit zu sein und wird Willkür oder Eigenwille. In diesem Sinne sind wir Europäer verantwortlich dafür, dass z.B. in Afrika heute bewaffnete schwarze Banden andere Stämme, die sie für „feindlich“ halten, terrorisieren oder gleich massenhaft umbringen: die Waffen, die sie benutzen, stammen von uns (bereits als Erfindung und technisches Mittel, meistens auch als Produkt).


    11.

    Denken Sie, dass gerade dies sich einst bessern wird? Ist eine solche Besserung überhaupt durchführbar?


    Wenn sich nur das verwirklichen könnte, was „möglich“ ist, dann gäbe es hier überhaupt keine Menschen. Es gäbe übrigens weder Pflanzen noch Tiere, noch Vögel, freilich auch keine Insekten usw. Die Menschen lernten nicht, genug zu sehen und zuzuhören, lernten nicht genug, die „Schönheit der Welt der Erscheinungen zu bewundern“. Selbst der Begriff „Möglichkeiten“ ist eigentlich innerlich widersprüchlich und deshalb fehlerhaft; er muss daher reinterpretiert werden, präziser: gedanklich von neuem und anders konstituiert werden. Ich versuche dies an einem Beispiel zu zeigen: Die Wissenschaftler fragen heute, ob auf dem Mars (oder anderswo im Sonnensystem) Leben „möglich“ ist. Sie verstehen dies so, wie wenn sie fragen würden, ob dort Leben „ist“ oder einst „war“. Wir können dies jedoch noch anders verstehen, nämlich ob irgendwelche lebendige Wesen, die von anderswoher auf den Mars gebracht wurden, fähig sind, dort zu überleben (evtl. unter welchen Umständen). Die zweite Bedeutung ist zweifellos perspektivenreicher, weil sie als ein Aufruf zur Tat begriffen werden kann: wir können dieses Leben dort selbst hinbringen, und wir können versuchen, dort solche Bedingungen zu schaffen, dass es auch weiterhin überlebt. Das ist vor allem keine Frage der „Möglichkeiten“, es geht eher darum, ob es vernünftig ist, wünschenswert, ob es nicht mit irgendwelchen Gefahren verbunden ist, die wir überhaupt nicht bedacht haben. Wenn wir also auf Ihre Frage zurückkommen, die ich nun erweitere, ob irgendeine Besserung der Koexistenz der Menschen, Völker, Zivilisationen, Kulturen usw. auf diesem Planeten möglich ist: worin und wem könnte dies gefährlich werden? Wer sagt eigentlich, dass dies nicht möglich ist? Falls man nicht konkret aufzeigen kann, worin eine Gefahr liegen könnte, dann ist es notwendig, mit allen zugänglichen, aber anständigen Mitteln gerade dieses „Unmögliche“ zu verwirklichen! Manche Menschen geben viel zu schnell die Gedanken auf, dass es möglich und notwendig ist, etwas zu bessern. Dagegen lässt sich nur eine grundlegende europäische, da christliche Devise zitieren, dass „dem Gläubigen als möglich ist“. Leider weiß heute aber bereits so gut wie niemand, warum dies tatsächlich gilt, denn so gut wie niemand weiß, was „Glaube“ im ursprünglichen, ältesten Sinne ist (es war kein „gedanklicher Konsens“ mit irgendeiner Lehre, einem Dogma oder einer Überzeugung, aber auch keine „Magie“, die durch Zauber nachweist, etwas zu machen, was sonst „unmöglich“ ist.


    12.

    Richten Sie danach wirklich auch Ihr eigenes Leben? Während des Kommunismus konnten Sie nicht in ihrem Fach arbeiten, Ihre Töchter konnten nicht normal studieren, nur eine kam mit Verspätung auf die Hochschule, lange Jahre waren Sie auch mit der Familie unter Polizeiaufsicht, der Fall des Kommunismus hätte noch viel später eintreten können, Sie hätten dies nicht erleben müssen. Hatten Sie nicht Lust zu emigrieren?


    Sie müssen mich entschuldigen, aber ich rede ungern so über mich, lieber über meine Gedanken. So weiche ich dem damit aus, dass ich meinen Lehrer Jan Patočka zitiere, der in einem Interview aus dem Jahre 1965 sagte: „Ein Recht auf eine Situation beanspruchen, die wir uns wünschen, bedeutet Utopismus, naiver Subjektivismus und moralische Unempfindlichkeit. Von einer Situation auszugehen, wie sie ist, mit Missgunst und Ungerechtigkeiten, bedeutet nicht, sie zu akzeptieren, sondern „nicht davonzulaufen“. Dies sagte er bald darauf, nachdem er sich habilitierte, die Deutschen alle unsere Hochschulen schlossen, danach dann von neuem einige wenige Jahre unterrichten konnte und als er dann aus der Fakultät geworfen wurde und bereits über 15 Jahre als „Nichtmarxist“ nicht lehren durfte. – Über eine Emigration habe ich nur bald nach dem Februar 1948 nachgedacht. Damals ist dies vielen Menschen durch den Kopf gegangen. Manchmal und für manche Leute ist die Emigration die einzige Möglichkeit, das Leben zu erhalten; so war es in vielen Fällen nach München, für manche auch nach dem kommunistischen Februarputsch und für manche vielleicht auch nach dem Militärschlag im Jahre 1968.

    Und dann ist da noch ein andere Sache. Immer, auch wenn ihre Situation am schwersten ist, denken sie an andere, die noch schlechter dran waren oder sind. Ich müsste mich schämen, wenn ich mich über den Verlauf meines Lebens beschweren würde. Mir gelang es z.B., fertig zu studieren, und Schwierigkeiten mit der Anstellung hatte ich erst danach, während viele meiner Kollegen gleich bei den ersten Überprüfungen aus der Fakultät hinausgeworfen wurden; und wie viele junge Menschen kamen über die ganzen Jahrzehnte überhaupt nicht auf die Hochschule, und dies nicht aus Mangel an Talent? (Eine Reihe von ihnen lernte ich kennen, als sie unser philosophisches Seminar in der Wohnung besuchten.) Wie könnte ich mich darüber beschweren, dass mich (und meiner Familie) der StB das Leben so verleidet hat oder dass ich einige Monate in Haft war und danach völlig gesetzwidrig verurteilt wurde, wenn andere, wie Havel, Battĕk, Uhl und eine Reihe anderer, viele Jahre im Gefängnis waren, oder wenn, besonders in den fünfziger Jahren, Hunderte von Menschen noch zu einer viel längeren Zeit verurteilt wurden und manche sogar zum Tode? Und auch dies alles ist eigentlich nur schwer mit solchen Greueln zu vergleichen, wie es die nazistischen Konzentrationslager oder der sowjetische Gulag waren. Und so könnte ich noch weiter und weiter fortfahren. Diese Welt ist in keiner guten Verfassung, und wir leben nicht deswegen, um von ihr wegzulaufen, aber auch nicht, um in ihr heimisch zu werden, sondern um zu versuchen, etwas mit dieser zu machen.


    13.

    Schauten Sie nach dem Jahr 1989 in die Akte, die der StB über Sie führte?


    Nein. Mich interessiert das nicht, und ich halte sie auch nicht für ziemlich glaubwürdig. Ich weiß von einigen Fälle von meinen Freunden, dass dort dieser Mensch angeführt war, und ich wusste, dass er kein Agent war. Insbesondere widerstrebt es mir jedoch, gerade diese elende Vergangenheit noch heute in die momentane Situation und ins eigene Leben eingreifen zu lassen. Früher machte ich, was ich nur konnte, um mich psychisch nicht von der Staatssicherheit manipulieren zu lassen, und ich weiß nicht, warum ich mir dies noch heute durch das Lesen von Schriften einer bösen und verbrecherischen Organisation aufzwingen lassen sollte.


    14.

    Ich verrate den Leserinnen ein Lebensparadox von Ihnen. Sie haben sich das ganze Leben lang politisch engagiert, und als der Augenblick kam, auf den man seit dem Prager Frühling 20 Jahre gewartet hat, als die Mehrheit des Volkes auf den Platz ging, mit den Schlüsseln zu klimpern und das Bürgerforum sich zu formieren begann, da waren Sie in den ersten Tagen nicht „dabei“.


    Die Kusine aus Písek, die schon allein war, erkrankte ernsthaft und musste ins Krankenhaus. Im Haus blieb der Hund, zum dem ich fahren musste, um ihn zu hüten und zu füttern. Der Hund fuhr ungern mit öffentlichen Verkehrsmitteln, und ein Auto hatten wir nicht. So war ich in diesen ersten Tagen tatsächlich nicht in Prag; aber ich hatte nicht den Eindruck, dass mich jemand vermissen würde. Erst nach einigen Tagen riefen meine Frau, die in Prag geblieben war, die Studenten aus der theologischen und kurz danach aus der philosophischen Fakultät an; und so ließ ich mich schließlich – mit Einverständnis der Kusine – auch mit dem Hund nach Prag fahren.