Zur Geschichte einer tschechischen Entwicklung nichtgriechischer Tradition der Wahrheitsauffassung
| docx | pdf | html ◆ přednáška | přípravné poznámky, německy, vznik: 1992 ◆ poznámka: Bonn ’92

Zur Geschichte einer tschechischen Entwicklung nichtgriechischer Tradition der Wahrheitsauffassung [1992]

Bonn

Meine Damen und Herren,

es mag wohl seltsam und vielleicht auch lächerlich sein, wenn jemand über eine angeblich tschechische Tradition natürlich nur eine von mehreren sprechen will, welche nicht nur keine eigene tschechische Wurzeln hat, sondern nicht einmal griechische, ja europäische Wurzeln überhaupt. Das scheint natürlich nur denen so seltsam zu sein, die nicht ganz mit der Art und Weise vertraut sind, welche sich der Geist in der ganzen europäischen Denkgeschichte seit dem griechischen Anfang her nicht selten benutzt, und also natürlich nur denen, die hier im Saal heute nicht sitzen. Und so hoffe ich, daß ich mich mindestens für die Auswahl des Themas nicht zu entschuldigen bedarf.

Alle Jahre der Nachkriegszeit ließen die kommunistischen Machtinhaber in unserem Lande zwei Wörter auf der Präsidentenflagge stehen bleiben, die dort noch seit der Zeit bald nach dem ersten Weltkrieg gewesen war, nämlich daß die „Wahrheit siegt“; erst jetzt, nach der Wende, wurde die tschechische Fassung wieder in die lateinische verwandelt, um die slowakische Sprache nichtmehr zu vernachlässigen. (Wie es jetzt scheint, blieb auch diese Maßnahme ohne Kraft und ohne Erfolg.) Niemand interessierte sich, was das Wort besagt, sondern nur, in welcher Sprache. Es könnte sich jedoch auch fragen, ob man diesen alten Spruch auch in den 50er Jahren und später nicht als total harmlos betrachtet hat, oder sogar ob er sich nicht wirklich als so harmlos erwiesen hat und warum. Voriges Jahr kam ein tschechischer Denker, ursprünglich ein kurzfristiger Schüler vom berühmten Patočka, der nach der Intervention 1968 das Land verlieβ und der sich jedoch jetzt trotzdem zum Postmodernimus bekennt, mann müsse endlich die Aggressivität und den Terrorismus der Wahrheit stoppen, denn wir leben in einer neuen Epoche, nämlich in der Zeit der Beredsamkeit. Endlich also ein wenig Interesse um die Wahrheit selbst! Da enstand eine Möglichkeit wieder zu den europäischen Gründen zurück zu kommen. Leider ist es nicht gelungen, diese Möglichkeit auszunützen. In der nachfolgenden Diskussion hat man über vieles gesprochen, aber nur ausnahmsweise über die Wahrheit.

Woher kommt eigentlich jener Spruch aus der Präsidentenflagge? Es handelt sich um eine verkürzte Zitation aus dem sg. 3. Esrabuch (oder anders dem apokryphischen 1. Esra). Die auf der Flagge zitierte Stelle stammt aus einem hellenistischen, ursprünglich griechisch, entweder von einem Griechen oder wie manche auch glauben von einem griechisch gut kennenden Juden geschriebenen Text, der in eine ziemlich merkwürdige Kompilation von verschiedenen aus dem Hebräischen übersetzten Abschnitten alttestamentlicher Bücher sekundär hineingeschoben wurde. In den Kommentaren wird das Ganze oft als eine Sage oder gar als ein Märchen verstanden und benannt, ohne jedoch die wichtige philosophische (und auch theologische) Tragweite gerade der eingeschobenen Stelle zu erörtern oder nur anzudeuten, obzwar daraus schon die Kirchenväter relativ häufig zitiert haben. Im Grunde genommen sind es zwei oder vielleicht drei kurze Stellen, um die es sich handelt. Im 3. Kapitel (Vers 12) lesen wir, daß „die Wahrheit über alles siegt“ (HYPER DE PANTA NIKA HÉ ALÉTHEIA), und ähnlich 4,35, daß die Wahrheit größer und mächtiger ist als alles, oder 4,38, daß die Wahrheit bleibt und Macht behält auf ewig, daß sie lebt und behält Kraft in alle Ewigkeiten. Noch könnte man eine weitere Formulierung zufügen 4,40, daß der Gott als „Gott der Wahrheit“ gepriesen ist, oder daß die ganze Erde nach der Wahrheit ruft und daß der Himmel sie preist, usw. Aber da sollten wir vielleicht lieber das ganze Stück 4,34b-41 lesen.

Der Gedanke der in alle Ewigkeiten siegenden Wahrheit wurde in unserem Lande äußerst aktuell und wichtig für die tschechische Reformbewegung am Anfang des XV. Jahrhunderts. Mindestens schon aus dem Ende des XIV. Jh. , dh. noch vor dem Anfang der sg. ersten Reformation, kennen wir jedoch einige Predigtensammlungen (Homilien), wo diese Stellen zitiert worden sind. Jan Hus arbeitet damit schon in einer solchen Weise, daß er mindestens mit dessen ungefährer Kenntnis gerechnet zu haben scheint. Fast zehn Jahre nach Hus' Tod finden wir eine solche freie Zitation bei Jakoubek aus Stříbro (?). Nach weiteren fünf Jahren nützt Magister von Oxford englischen Ursprungs, Peter Payne, einer der hervorragendsten hussitischen Diplomaten, diese Stelle in seiner glänzeden preßburger Rede vor dem deutschen und ungarischen König Siegmund. Der Gedanke wird dann öfters zitiert, wurde zum Schlagwort, in Prag wurde es aus Jan Rokycana's Anlaß in die Mauer der Theinkirche eingehaut, ähnlich ließ es auch der Stadtrat in die Stadtmauer in Hradec Králové einhauen, ein südböhmischer Landedelmann (Matěj Louda aus Chlumčany, Hauptmann in Písek), hat es auf seine Fahne aussticken lassen usw. Nach dem Weißen Berg soll sich das Stichwort verloren oder versteckt haben, aber in der Zeit der sg. Wiedergeburt des Volkes wurde es mehrmals neu erinnert.

Später, dh. schon am Ende des vorigen und beziehungsweise am Anfang unseres Jahrhunderts, wurden einige tschechischen Denker, Schüler und Nachfolger von Masaryk, durch ihren Lehrer zum kritischen Nachdenken und Ablehnung der besonders in der positivistischen Atmosphäre geläufigen Adäquationsauffassung der Wahrheit inspiriert im Geiste des erwähnten alten außergriechischen Gedankens. Die größte Gestalt kann in der Persönlichkeit des Biologen und Philosophen Emanuel Rádl gesehen werden, aber wichtig sind auch Jan Blahoslav Kozák und Josef Lukl Hromádka, der meistens „nur“ als Theologe verstanden und beiseite gelegt wurde. Wie wir noch sehen werden, hat sich der besonders von Rádl geprägte Gedanke auch bei Jan Patočka in einerinteressanten Weise durchgesetzt in seiner Idee eines negativen Platonismus (am Ende vierziger und Anfang fünfziger Jahren). Im Sinne der Gedanken aller erwähnter Denker, jedoch besonders von Rádl, dürfen wir auch die alten Formulierungen der zitierten apokryphischen Schrift neu und gründlicher verstehen, d. h. gründlicher als je überhaupt möglich war. In einem Interview für die „Literární noviny“ (Literarische Zeitung) hat sich Jan Patočka im Jahre 1965 folgenderweise geäußert: „Aus allen philosophischen Fragen wurde bei uns das Problem der Wahrheit am meisten wirksam, und gerade in diesem Punkt haben wir unseren wesentlichsten Beitrag geleistet einen Beitrag zur tiefsten und dringlisten Frage. " Worin diese einzigartige Leistung der tschechischen Philosophie bestehen sollte, blieb jedoch damals bei Patočka näher unausgesprochen. Es scheint nichtsdestoweniger, daß er an erster Stelle niemanden anderen gemeint haben konnte als gerade Emanuel Rádl, über dessen Wahrheitsauffassung Patočka schon im Jahre 1937 eine Studie in Česká mysl erscheinen ließ. Doch war Patočkas Verhältnis zu diesem hervorragenden tschechischen Denker immer gewissermaßen zweideutig: Rádl hat ihn interessiert und oft auch ispiriert, aber sehr oft auch irritiert, und zwar nicht nur in den alten Zeiten, sondern auch noch Jahrzehnte nach dessen Tode (Rádl ist nach einer langen Krankheit während des Krieges in 1942 gestorben). Patočka findet für Rádls Philosophie manchmal Worte höchster Schätzung, wogegen andersmal er seine Denkmittel als abschreckend bezeichnet.

Nur ganz schematisch können wir mit zwei Punkten Rádls Positionen in seiner Wahrheitsauffassung andeuten. 1) Für Rádl ist die Wahrheit kein „neutral erkennbares Objekt oder Eigenschaft des Objektes“, und deshalb ist sie auch „keine nur formale Übereinstimmung einer Aussage mit dem gegebenen Objekt der Erkenntnis“, aber auch kein „kühles Gesetz eines objektiven Geschehens“. Also können wir, wie Rádl sagt, nicht über die Wahrheit sagen, „sie steht vor mir“, „sie ist etwas mir vorgegebenes, vorgelegtes“. 2) In dieser Richtung geht Rádl fast unglaublich weit, wenn er z. B. schreibt, daß die Wahrheit „nicht ist, sondern sein soll“, wodurch er jedoch überhaupt nicht sagen will, daß es Wahrheit leider nicht gebe, obwohl es sie geben sollte. Ganz im Gegenteil: „das, was sein soll, ist mehr wirklich, als was nur ist“. Also unterscheidet Rádl zweierlei Wirklichkeit, nämlich die seiende und dann die sein-sollende und also nicht-seiende oder noch-nicht-seiende. „Das, was sein soll, ist der Urheber dessen, was ist.“ Rádl spricht also über das „Sein-sollen“ in einem volkommen verschiedenen Sinne als z. B. die deutsche Wertphilosophie nach dem ersten Weltkrieg (obzwar er ohne Zweifel durch einige deutsche Denker auch hier beeinflußt wurde, z. B. von Hugo Münsterberg). 3) Weil die Wahrheit nichts Seiendes, nichts Gegebenes, nichts Gegenständliches oder Dingliches ist, kann man sie nicht „haben“. Dazu Rádl: „nicht wir haben die Wahrheit, sondern die Wahrheit hat uns; wir entscheiden nicht über die Wahrheit, sondern wir werden in sie heineigeboren“.

Dazu möchte ich durch eine Randbemerkung an eine um hundert Jahre ältere analogische Formulierung aufmerksam machen. Der junge Karl Marx hat etwas Ähnliches 1842 geschrieben (in seinen Anmerkungen zur neuen preußischen Zensurinstruktion): die Wahrheit hat mich, ich habe nicht sie. Offensichtlich handelt es sich auch hier um einen nichtgriechischen, sondern ursprünglich hebräischen Gedanken.

Gehen wir jetzt zum Nachdenken des bisher schon angedeuteten Gedankens über. Die Wahrheit ist nicht dinglich, nicht gegenständlich, und deswegen ist es für uns nicht möglich sie mit unseren Begriffen zu ergreifen, uns der Wahrheit zu bemächtigen und also durch ihre begriffliche Eroberung uns selbst zu behaupten. Gerade das bedeutet das von Rádl Gesagte, nämlich daß wir es nicht sind, die die Wahrheit „haben“, sondern daß es umgekehrt die Wahrheit selbst ist, die uns „hat“, d. h. daß sie sich dessen bemächtigt, der sich ihr gegenüber offenstellt, der sie erkennt und anerkennt, der sie wahr-nimmt, also als Wahrheit akzeptiert. Wir verstehen diesen Gedanken, er scheint uns überhaupt nicht fremd, undurchsichtig oder unglaubwürdig zu sein, wie ich überzeugt bin. Mindestens im Tschechischen kennen wir sogar zahlreiche alltägliche Sprachwendungen diesen Sinnes, so daß auch die sprachanalytisch orientierte Denker es in Betracht nehmen müßten, wenn sie die Bedeutung des Wortes wirklich aus der umgangssprachlichen Benutzung ableiten wollen. Bei dieser Gelegenheit möchte ich darauf hinweisen, daß zum Beispiel Franzen in seinem 10 Jahre alten Buch „das Hauptmanko, daß die Analyse der alltagsprachlichen Verwendung von 'wahr' bis heute weder grundsätzlich genug angesetzt noch systematisch genug durchgeführt worden ist“, zwar zugibt, wobei er noch zufügt, daß „eben dies“ in seinem Buch geleistet werden soll. Tatsächlich finden wir dort jedoch kein einziges Anzeichen dessen, daß er sich der lange Jahrhunderte, ja mehr als zwei Jahrtausende dauernden Synkresis und mindestens anfangeden oder nur angedeuteten Synthesis der zwei verschiedenen Hauptquellen allen europäischen Denkens bewußt wäre, nämlich auch der hebräischen Denktradition neben der griechischen.

In diesem Kontext könnte ohnehin noch Weiteres hinzugefügt werden. Methodologisch wird diese ganze Orientierung an die Alltagssprache höchst problematisch, falls sie nicht als nur eine unter verschiedenen Formen des Zutritts und nur eine unter möglichen Methoden beobachtet wird, sondern als ein bis zu irgendeiner angeblichen sprachlichen Urschicht durchdringendes Unternehmen gewisser sprachlicher Voraussetzungen und Vorgegebenheiten, die jedem philosophischen Denken vorangehen. So verstehe ich gerade die folgende Anmerkung desselben Autors (Winfried Franzen, „Die Bedeutung von 'wahr' und 'Wahrheit'", K. Alber, Freiburg/München 1982, S. 17): „Gerade weil die philosophische Verwendung des Wahrheitsbegriffs mit so vielen Problemen verknüpft ist und Anlaß für so hartneckige Kontroversen gibt, muß ein Ansatzpunkt gefunden werden, der unterhalb jener Ebene liegt, auf der die eigentliche philosophische Brisanz anhebt; hier bietet sich eben der mehr oder weniger problemlos eingespielte alltägliche Sprachgebrauch an. " Solch ein Vorurteil rechnet überhaupt nicht mit zweierlei Tatsachen, nämlich Er wird jedoch tief problematisch, wenn er philosophisch reflektiert werden soll, und das muß getan werden. Dieser Gedanke lebte durch die lange Geschichte der seltsamen, aber tatsächlich auch wunderbaren Synkresis und immer neu versuchten und oft ziemlich überraschenden Synthesis hindurch, nämlich die Synkresis und Synthesis von zwei zwar wesentlich verschiedenen, jedoch ohne Zweifel auch für eine gewisse mögliche Konvergenz geeigneten kulturellen und geistigen Überlieferungen, nämlich der hebräischen und der griechischen. Solche Versuche kennen wir noch aus der vorchristlichen Zeit, aber entscheidend war hier das merkwürdige, die ganze nachfolgende europäische Geschichte tragende und fördernde Phänomen des Christentums. Wir müssen besonders ernst nehmen, daß gerade in der Zeiten einer Krisis, eines Niedergangs oder einer drohenden Gefahr Motive wirkend geworden sind, die bisher nur (z. B. philosophisch) marginal zu sein schienen. Und zu solchen anscheinenden Randmotiven, die sich jedoch die ganze Geschichte hindurch als sehr hartnäckig ausdauernd oder vielmehr überlebend erwiesen haben, gehört beziehungsweise bei uns, jedoch sicher nicht nur bei uns der Gedanke der auf die Dauer, ja auf die Ewigkeit hin siegreichen Wahrheit, die mächtiger ist als alles in der Welt und als die Welt selbst im Ganzen.

Wenn wir diesen nichtgriechischen und griechisch eigentlich nicht ganz „vernünftigen“, logisch nicht gut akzeptierbaren Gedanken heute ernstnehmen wollen, stehen wir notwendigerweise auch vor der Grundfrage des innerweltlichen oder außerweltlichen Charakters der Wahrheit, und besonders auch vor der Frage der Zeitlichkeit, des zeitlichen Aspektes ihres siegreichen Zuges durch die ganze Geschichte bis zum vollkommenen und endgültigen Sieg am Ende der Zeiten, oder besser: am jüngsten Tag. Das ist jedoch an der zitierten Stelle nicht zu finden, das gehört zum späteren theologischen Kontext. Wie verhält sich eine solche Wahrheit, die kein Ding, kein gegenständlich gegebenes Seiendes ist, zu den Sachen, zu den gegenständlichen Wirklichkeiten und damit auch zu den zeitlich, geschichtlich übergehenden Ereignissen unseres Lebens? Bedeutet unsere auf eine solche die Welt nicht nur der Dinge, sondern auch des geschichtlichen Menschenlebens transzendierende Wahrheit nicht, daß wir den Dingen und auch den interpersonalen Beziehungen und allen geschichtlichen Umwandlungen und Entwicklungen unseren Rücken zeigen? Kommen wir so nicht wieder der alten griechischen, bzw. aristotelischen Idee nahe, daß es eine Angelegenheit des THEOREIN, d. h. unseres Starrens auf die Wahrheit hin ist, wozu notwendig ist, daß wir uns von den Dingen und von allen praktischen Aktivitäten abneigen und abkehren? So konnte man es lange Jahrhunderte hindurch interpretieren und durch solche Deutungen auch an gewisse griechische Motive und Gedanken ganz ernst anknüpfen.

Ohne Zweifel gab es solche Anknüpfungpunkte auch in der altgriechischen philosophischen Tradition. Schon die berühmte Deutung, die der späteren Überlieferung nach Pythagoras auch mit dem angeblichen Gestalten und Stiften des Wortes „Philosophie“ prägen haben sollte, ermöglichte eine andere Lösung des Problems als eines Schauens oder Starrens auf die unveränderliche und an uns nicht interessierte Wahrheit. Noch mehr gilt es für die sokratische Fassung des wissenden Nichtwissens, die sehr bescheiden und gar fromm aussieht. In Platos Symposion finden wir bekanntlich fast dieselbe Interpretation, diesmal schon aus erster Hand. Und gerade hier finden wir FILALÉTHEIN mit FILOSOFEIN als bis zur Identität gleichberechtigt. In beiden Fällen tritt der Philosoph als ein Liebhaber und kein Besitzer der Weisheit oder auch heute lieber Wahrheit hervor. Allein führte sowas eher zu einer Art Skeptizismus und Relativismus als zum Verständnis, daß die Wahrheit aus ihrem „Noch-nicht“, d. h. aus der Zukunft ankommt, um uns anzureden. In dieser Sicht wurde zwar klar, daß wir die Wahrheit nicht besitzen; dagegen kam jedoch überhaupt nicht zum Wort, daß wir seitens der Wahrheit selbst unter einen inneren Druck gestellt werden können, dem wir kaum zu widerstehen imstande sind. Eine solche Erfahrung kam dagegen bei den alttestamentlichen Propheten zum Ausdruck.

In gewissem Sinne finden wir auch in der griechischen Tradition Belege einer Überzeugung, daß sich die Wahrheit endlich durchsetzt, auch wenn es nicht immer einfach, sondernm sehr of nur mit Mühe geht. Es ist aber nur so zu verstehen, daß sich die gegebene, die faktische Wirklichkeit durchsetzt, weil sie früher oder später ans Licht kommt, d. h. weil sich das Seiende unserer Schau und unserer Einsicht offengibt. Obwohl FAINESTHAI und FOS auch etymologisach zusammengehören, wurde das sonst notwendige Licht eigentlich nicht tiefer befragt, sondern vielmehr als ganz selbstverständlich vorausgesetzt. Die Wahrheit läßt das Seiende sich als seiend zeigen und das Nicht-seiende als nicht-seiend. Bei Heraklit erfüllt der Logos noch eine weitere sehr wichtige Aufgabe: er holt das Wesentliche damit ans Licht, daß er das anfänglich Zerstreute auserliest und das vorher vielleicht chaotisch Gegebene in eine Einheit zusammenbringt. Bei den Eleaten verliert diese Funktion jeden Sinn, weil es keine Vielfalt und also keine Zerstreuung gibt; Heraklit stellt vielleicht mit seiner kosmologischen LOGOS-Auffassung etwas später nicht mehr im Bedeutungsbereich des Wortes LOGOS Empfundenes vor. Nirgends finden wir jedoch inwieweit ich mich nicht irre auch nur eine Andeutung philosophischer Reflexion einer wichtigen und möglicherweise aktiven Rolle des Lichts, ohne das sich kein Seiendes als Seiendes zeigen oder besser offenbaren kann. Diese eigentlich alttestamentliche Thema wurde weiter erarbeitet und ausgenutzt erst in der christlichen Theologie und Philosophie.

Zum Vergleich mit dem Gesagten und als Gegensatz zu ihm können wir zwei Zitate aus Rádl in Betracht nehmen. Rádl fragt: „Wenn alles Wissen relativ ist, wie werden wir der Skepsis entgehen?" Und er geht weiter: „Die Antwort ist einfach: das Wissen ist relativ, aber absolute Wahrheit gibt es doch. Es ist uns zwar nicht gegeben worden, sie in Worten erfassen zu können, wir können sie auch nicht durch Taten ergreifen, aber doch leben wir in ihr, wir empfinden, daß wir ihr einmal nahe stehen, dann wieder uns von ihr entfernen. " Obzwar die räumliche Konnotationen der Worte „nahe“ und „fern“, als auch die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „absolutus“ irreführen könnten, wichtig ist, daß wir nach Rádl „in der Wahrheit leben“, d. h. daß wir von der „sein-sollenden“ (und also tiefer und wesentlicher wirklichen) Wahrheit umgegeben werden, ja umgegriffen, also daß die Wahrheit mit Jaspers gesagt das uns Umgreifende „ist“ oder eher „bedeutet“ (Jaspers selbst knüpft hier mit seiner Periechontologie offensichtlich an das heraklitische PERIECHEIN an). Wenn wir wieder zu Rádl zurück kommen, sehen wir, daß er sich in solcher Weise der Gefahr eines Relativismus und Skeptizismus widersetzen wollte.

Es gibt jedoch noch eine andere, umgekehrte Gefahr, nämlich einer nicht weniger irreführenden Mißachtung der „Realität“ der Dinge, des Geschehens und der Geschichte, ja der Welt im Ganzen. Rádl will entschieden die Bedeutsamkeit von allem Realen, Sachlichen, „Materiellen“ behalten und betonen. Er geht gar so weit, daß er eine gewisse unmittelbare Unabhängigkeit alles Faktischen, Dinglichen proklamiert: die Richtigkeit und Unrichtigkeit, sagt er, ist nur eine von den Eigeschaften der Dinge und nicht ihr Kern. Das bedeutet: jedes Ereignis ist ein wirkliches Ereignis, jedes Faktum ist ein wirkliches Faktum, kein bloßer Anschein. Die Dinge schreiten auf ihren sachlichen oder besser dinglichen, unpersönlichen Wegen von der ihrigen Seite ohne Rücksicht auf die Wahrheit. Die Wahrheit ist weder ein Faktum der Natur, noch ein objektives Gesetz, und deshalb richten sich die Dinge nicht der Wahrheit nach. Wahrhaftigkeit und Unwahrhaftigkeit, Richtigkeit und Unrichtigkeit, Wahr-Sein und Nicht-wahr-Sein liegen nicht im Zentrum, im „Innen“ der Dinge, sie sind nicht ihre inhärente, ihre wesentliche und zentrale Qualität. Sich auf die Wahrheit berufen ist überhaupt nicht damit gleichzusetzen, wenn man sich auf Dinge, auf gegebene Realität beruft. In ihrer Faktizität ist die Realität mindestens unmittelbar von dem Wahren, von der Wahrheit unabhängig. Diese Einstellung ist bei Rádl ganz ausdrücklich „realistisch“ im Sinne des sg. kritischen Realismus von Masaryk und seiner Nachfolger. Etwas ähnliches finden wir wieder an einigen Stellen im Alten Testament, an denen alles Geschöpf als wesentlich unvollkommen gezeigt wird, mit den Sternen und dem Monde anfangend und mit den Heiligen des Herrn zu Ende kommend (Job, seine Freunde).

Gegen die realistische Stellung zum Gegebenen auf einer Seite und neben der klaren Sicht auf das mögliche und auch tatsächliche Auseinanderfallen des Faktischen und des Wahren unterstreicht jedoch Rádl auf der anderen Seite die wesentliche Überordnung des Wahren über dem bloß Gegebenen, „nur“ Faktischen, und zwar nicht nur im Sinne eines bloß deklarierten Primats der „Werte“ (Rádl wurde u. a. auch durch Nietzsche und durch seinen Gedanken der modernen Entwertung der als etwas metaphysisch Gegebenes verstandenen Werte tief beeinflußt, sondern „ontologisch“, oder präziser gesagt: meontologisch, weil Wahrheit bei ihm nichts Seindes vorstellen („sein“) konnte, sondern vielmehr ein Nicht-Seiendes, eine nicht-seiende, aber allem bloß Seienden überordnete Wirklichkeit. Deutsch kann man so wie auch im Tschechischen gut zwischen der Realität und der Wirklichkeit unterscheiden. Die Realität als „res“ ist einfach das bloß Seiende, wogegen die Wirklichkeit ist das Wirkende. Nur dürfen wir eine solche Wirkung von Wahrheit nicht mit der kausalen Wirkung verwechseln und sie in solcher Weise reduktionistisch deuten. Das „Wirken“, und das heißt die Aktivität (Wirklichkeit ist ursprünglich eine Übersetzung von „actualitas“, und die kommt von „actus“) der Wahrheit ist ganz einzigartzig: sie „verwirklicht sich“ durch subjekt-artige, von konkreten „Subjekten“ durchgeführte Aktivitäten, in denen sich die „Subjekte“ jener Wahrheit als dem Wahren zur Verfügung stellen.

In einer ziemlich seltsamen Weise versucht Rádl die Überlegenheit und gar grundlegende Kraft der Wahrheit als des Wahren in einem Bild näher zu verdeutlichen, wenn er eine Alternative zu dem damaligen, d. h. zeitbedingten Bild des Weltuntergangs vorlegt. In diesem heute nicht mehr haltbaren und auch nicht gehaltenen Bilde hieß es wie folgt: „die Sonne wird einmal kalt, die Erde wird einfrieren, die Planeten werden in die Sonne stürzen und es kommt das Ende“; und Rádl fügt hinzu, um das Wesentlichste zu unterstreichen: „die Bewegung, die Bereitwilligkeit zur Hilfe für andere, der Kampf um die Wahrheit sind längst schon vorbei“. Und dann legt er seine alternative Vision vor: „der schwindende Zufall, den wir Natur, Materie und Naturgesetze und Ursache und Folge nennen, fällt in den Abgrund; er war so wie so nur eine zufällige Gelegenheit für den Menschen, der seine Sendung erfüllen sollte. Und wenn in einer Weltkatastrophe alles verschwindet, was vor unserem Intellekt die Naturwissenschaft entwickelte, bleibt als Einziges die Sendung des Menschen, die nicht von dieser Welt ist. Dann bleibt eine einzige Sache: das in absolute Größe aufgeschwungene menschliche Gewisssen, das Gesetz 'du sollst', als die einzige absolute, einzige gültige Wirklichkeit.“

Auch im Rádls Versuch ist noch immer kein systematisch genügend durchdachter und schon überhaupt nicht in einer Schlußformel ausgesprochener Gedanke zu suchen. Das alles steht noch vor uns oder vor denen, die auf seine höchst interessante und anregende Denkexperimente anzuknüpfen bereit sind oder erst werden. Eines ist jedoch klar: hier handelt es sich nicht nur um eine neue begriffliche Konstruktion, sondern notwendigerweise um eine neue Art von Begrifflichkeit überhaupt. Die griechische, und in Anknüpfung darauf alle bisherige europäische Tradition des begrifflichen Denkens arbeitete mit Begriffen, die mit intentionalen Gegenständen (statt Objekten, wie wir es bei Husserl finden) engst verbunden sind. Mit einer solchen Art von Begrifflichkeit ist die Wahrheit als solche in keinem Falle zu „begreifen“, weil jeder solcher Versuch unentbehrlich mit einer Konstruktion zusammenverbunden ist, die Wahrheit gegenständlich erfassen will und die Wahrheit also zum Gegenstand, zu einer gegenständlichen Wirklichkeit macht. Gegenstand ist wie schon das Wort andeutet das uns Entgegen-stehende. Die Wahrheit „steht“ jedoch nie „vor“ uns, sondern sie kommt an uns anzusprechen. Als ankommend ist sie nicht bloß da als etwas Gegebenes, sondern als etwas sich Gebendes. Das Ankommen der Wahrheit ist Ankommen von „etwas“, was noch nicht da war, also von etwas Neuem. Neu kann nur das sein, was noch nicht dagewesen ist. Wenn wir Wesen im Sinne des Gewesenen und zugleich Daseienden verstehen, ist schon die Frage nach dem „Wesen“ der Wahrheit falsch formuliert worden. Die Wahrheit „gibt es“ nicht, die Wahrheit „ist“ auch nicht als etwas Seiendes und ist als ein solches Seiendes auch ni „gewesen“, sondern die Wahrheit kommt an, und so ist sie mit einem Geschehen, mit einem Sich-ereignen tiefst verbunden, ja einig: die Wahrheit „ist“ nicht, sondern sie geschieht. Und sie geschieht nicht nur zeitlich, sondern vor allem geschichtlich. Das Geschehen der Wahrheit ist ein „geschichtliches“ Geschehen, das jedoch innerhalb der vom Außen betrachteten Weltgeschichte nie endgültig feststellbar ist und auch in der Zukunft nie eindeutig feststellbar wird. (Denn nur entia und facta sind festzustellen; die Wahrheit dagegen ist kein factum, sondern immer ein fiens. Was aus dem fieri der Wahrheit übrigbleibt, sind höchstens Relikte der Umstände, auch der Umstände verschiedener Formen der menschlichen Rezeption, die nur mit dem Bilck auf die immer neu aktuelle Wahrheit recht interpretiert werden können, aber keine lebendige Wahrheit selbst.

Um es ausführlicher zu erläutern, müßten wir mit einer sorgfältigen Analysis der vergegenständlichenden Weise des traditionellen begrifflichen Denkens anfangen. So was ist innerhalb eines einzigen Vortrags über eine nicht leicht einzusehende Wahrheitsauffassung, die dazu bis jetzt noch nicht monographisch verarbeitet wurde, einfach nicht möglich. Wir können hier in einer gewissen Anknüpfung an die Idee der indirekten Aussage bei Kierkegaard nur ganz formell etwas andeuten. In dem täglichen Umgang mit der Sprache sind wir imstande auch nicht ausgesprochene Konnotationen des Gesagten zu verstehen. (Randbemerkung: gerade das sollte den Sprachanalytikern nicht entgehen.) Nur pflegen wir es als etwas bloß Zweiträngiges und für die Wissenschaft und auch Philosophie Unpassendes und Unakzeptierbares. Das Verhältnis unseres Aussagens und eigentlich alles unseres Denkens zur Wahrheit ist immer mit dem Aussagen über gegenständliche Wirklichkeiten verbunden, aber zur Wahrheit selbst kann und darf sich unser Denken nicht gegenständlich resp. ergegenständlichend beziehen. Was die Wahrheit selbst betrifft, sind unsere vergegenständlichende Aussagen über gegenständliche Wirklichkeiten gar nicht eindeutig. Wir müssen uns daran gewöhnen, daß wir uns in unseren Denkakten immer auch nichtgegenständlich zu den nichtgegenständlichen Wirklichkeiten und zu der nichtgegenständlichen Seite (oder dem nichtgegenständlichen Aspekt) der „konkreten“ (konkreszenten) Wirklichkeiten beziehen müssen, und daß wir damit früher oder später so einvertraut werden müssen, wie es bisher in der Tradition des vergegenständlichenden Denkens der Fall war.

Die Wahrheit wird man dann als die nichtgegenständliche Wirklichkeit, ja sogar als eine reine Nicht-gegenständlichkeit deuten können und müssen, die im Bezug an gegebene Wirklichkeiten immer ihre Superiorität behält, ohne sich jedoch durch ihre Überlegenheit von ihnen zu distanzieren, sondern gerade umgekehrt um sie ins wahre Licht zu bringen. Die ganze Angelegenheit würde uns ohne Zweifel noch viel weiter bringen, aber ich hoffe, daß das Gesagte als Anregung weiteren Denkens genügen könnte.

Ich weiß ganz genau, daß es noch lange keine präzis ausgearbeitete und auf Monographien gestaltete philosophische Auffassung war und ist, aber bin der Überzeugung, hier irgendwo müsse der Weg weiterführen. So muß ich mich letzten Endes doch entschuldigen. Mehr als über eine Tradition der Wahrheitsauffassung habe ich über einen hoffentlich gewissermaßen inspirierenden Versuch gesprochen, der höchstwahrscheinlich bisher nichts mehr getan hat, als daß er eine alt/neue Problematik wieder einmal anders spürend tentativ sich auf einen nicht ganz sicheren Weg begeben hat, und bis jetzt nur ein paar erste Schritte gemacht hat.

Ich danke für Ihre geduldige Aufmerksamkeit.