- in: Jan Roskovec – Petr Pokorný (ed.), Philosophical Hermeneutics and Biblical Exegesis, Tübingen: Mohr Siebeck, 2002, p. 42–48
Hermeneutik und die Zeit [2001]
Weil der Name „Hermeneutik“ so vielbedeutend ist, möchte ich gleich am Anfang klarmachen, dass ich im Weiteren darunter keine Spezialdisziplin (und auch keine bloße Methode) meinen werde, sondern eine philosophische Disziplin, die sich ebenso wie jede andere philosophische Disziplin immer auf das Ganze beziehen muss (was jedoch nicht nur theoretisch unternommen werden kann und darf). Und weil auch sie selbst zum Ganzen und in das Ganze hinein gehört, muss die Hermeneutik vollkommen im Rahmen ihrer Kompetenz imstande sein, sich in eigener Reflexion auch zu sich selbst hermeneutisch zu beziehen. Gerade darin besteht ihre fundamentale, konstitutive und integrale Angehörigkeit zur Philosophie.
Wir können mit einer schon lange bekannten, jedoch uns immer wieder provozierenden und gar paradoxen, von Odo Marquard so formulierten Idee anfangen, dass die Hermeneutik uns im Text das aufzufinden lehrt, was dort nicht ist. Ich bin jedoch nicht der Meinung, dass uns dieser seltsame Gedanke notwendigerweise zu einer breiten und tiefgreifenden hermeneutischen Skepsis bringen muss – falls wir ihn nicht sofort als etwas ganz Nichtiges oder auch Gefährliches wegwerfen, sondern dass wir ihn im Gegenteil ganz ernst nehmen und analysieren werden. Bloß vordergründig scheint es doch vollkommen evident zu sein: Wenn wir ein Buch, z. B. einen Roman vor uns haben, ist es eigentlich nur ein Haufen von Papier mit darauf gedruckten Buchstaben, also Zeichen. Dies ist sicher keine sekundäre Konstruktion, sondern eine ganz ursprüngliche Erfahrung unserer Kindheit, die seitdem immer neu belebt und bestätigt wurde, wenn wir z.B. einen Text vor uns hatten in uns unbekannter Sprache, und ganz besonders, wenn es sich auch um unbekannte Schrift, um unbekannte Zeichen handelte. Dann also ist vor uns nichts anderes „da“, nichts anderes ist uns gegenständlich „gegeben“; und das gilt eigentlich auch für das Lesen eines Romans und für alle anderen Fälle. Sollen die Romanpersonen aufleben, sollen sich die geschilderten Romanereignisse zeitlich entfalten, müssen wir aktiv etwas leisten, wir müssen auch etwas aus unserer Zeit und damit einen Teil unseres Lebens sozusagen aufopfern: der Roman lebt nur auf, indem er sich aus unserer eigenen Lebenszeit ernährt, dadurch, dass wir ihm zur Disposition stehen, dass wir unser Bewusstsein und Denken den Bedeutungen aller gedruckten Zeichen auf den Seiten des Buches unterordnen. Und das heißt, dass wir vom Anfang an anerkennen und wissen, dass diese Zeichen etwas be-zeichnen, dass sie, kurz gesagt, mehr sind, als sie sind. Und wenn wir dies anerkennen und wenn wir auch zugleich nicht nur mit der Kenntnis der Buchstaben, sondern auch mit dem Lesen-können und mit den Sprachkenntnissen und mit noch vielen anderen Kenntnissen und Gewandtheiten notwendigerweise ausgestattet sind, dann öffnen sich die Seiten und Kapitel des Buches wie eine bisher geschlossene Tür und wir sind imstande, in die innere Welt des literarischen Werkes hineinzutreten, in eine Welt, die es zwar außerhalb des Buches und neben ihm, unter anderen Dingen und Gegenständen, aber auch innerhalb der aktiven Bewegung unseres Bewusstseins und Denkens eigentlich nicht „gibt“, die also keineswegs „objektiv“ gegeben ist, die sich jedoch in günstigen Umständen aufmacht, aufleuchtet und mehr oder weniger klarmacht, die uns also „er‑scheint“, obwohl sich für uns gegenständlich nicht mehr „zeigt“, als die erwähnten Zeichen auf dem Papier, auf den Seiten des Buches.
Ganz ähnlich ist es mit den Werken der bildenden Künste, bzw. mit den gemalten Bildern. Das, was gegenständlich vor uns, vor unseren Augen „objektiv“ gegeben ist, ist nur eine mit verschiedenen farbigen Flecken bedeckte Fläche. Solch ein Artefaktum ist lange noch nicht das eigentliche Werk, das man verstehen kann und muss, welches dagegen nicht vor uns liegt, sondern sich nur dann für uns öffnet, wenn wir imstande sind, „durch“ die Fläche und „durch“ die farbigen Flecken und „hinter“ sie in die innere Welt des Kunstwerkes hineinzutreten. Und das gelingt gar nicht so leicht und einfach, es genügt noch lange nicht, es nur einmal zu tun. Mit jedem Schritt hinein in das Innere des Werkes bekommen wir etwas wie ein Paar weiterer Winke oder Weisungen, die uns dann helfen, auch das Äußere des Werkes besser zu sehen, und dann mit diesem besseren Schauen und Sehen wieder etwas tiefer in das Innere hineinzudringen. Und es fragt sich auch, ob wir eigentlich recht haben, wenn wir über ein Hinein-dringen sprechen; besser wäre vielleicht ein anderes, milderes und friedlicheres Wort zu gebrauchen, denn wir sind keine Eroberer der inneren Welt des Werkes, sondern Gäste, die sich selber für das „Nicht-gegebene“ öffnen und sozusagen eher ihm ergeben müssen, um in dem sich nur so und nur dann öffnenden Inneren des Werkes etwas Neues und manchmal Überraschendes zu „finden“, zu verstehen und davon etwas als eine Gabe zu bekommen, uns anzueignen und so uns selbst auch zu verändern. Noch einsichtiger ist es vielleicht mit den Werken der Musik, bei der es sich am wenigsten um das Sprachliche handelt, weil die Werke für die meisten von uns nur reproduziert oder durch weitere Künstler und deren Wiedergabe und Interpretation zugänglich sind, da es vielleicht nur seltene und nur sehr erfahrene Dirigenten gibt, die fähig sind, schon beim Lesen der Partitur in ihrer Phantasie, in ihrer Vorstellung das Werk selbst zu „hören“, so wie wir uns üblicherweise beim Lesen des Romans die Personen vorstellen und ihren Taten und Gedanken und ihrem ganzen Leben folgen, um sie zu verstehen. Und bei allen diesen uns bekannten und oft für bloß trivial gehaltenen Erfahrungen mit verschiedenen Werken der Künste und auch mit allen, auch „außerkünstlichen“ Texten, stellt sich uns, ob wir es wollen oder nicht, die fundamentale Frage: Welches ist dann das eigentliche „innere“ Werk, das sich erst „hinter“ dem „Äußeren“ des Artefaktums erschließt? Und wo ist eigentlich der Sinn der Texte, die wir verstehen und interpretieren wollen und sollen?
Auch diese Frage ist offensichtlich schon sehr alt, nur dass sie in verschiedenen Zeiten auch verschieden verstanden wurde. Man fragt nach dem, was hinter dem gegebenen Text, oder wie wir auch oft sagen, „zwischen den Zeilen“ zu suchen und zu finden ist, obwohl wir „wissen“, dass es dort „nichts gibt“. Ursprünglich sprach man im alten Griechenland über ὐπανοία im Kontext allegorischer Interpretationen alter, nicht mehr oder nur schwer und teilweise annehmbarer Mythen. Und das hat man so verstanden, dass ein solcher „Hintersinn“ die eigentlich gemeinte und ursprüngliche Botschaft für uns ist. Im Verständnis des modernen Zeitalters wird dagegen häufig darüber nachgedacht, inwieweit z. B. jemand, der sich über einen anderen Menschen oder über eine Angelegenheit oder Situation usw. äußert, ja sogar wenn er in einem gewissen Sinne handelt, ohne darüber zu sprechen, unwollend und nichtwissend uns etwas, vielleicht ebenso Wichtiges über sich selbst mitteilt. Dann handelt es sich offensichtlich nicht um das „ursprünglich“ Gemeinte. Dasselbe gilt jedoch auch für jeden Text, für jedes Werk, für alle menschlichen Aktivitäten und Leistungen. Wenn wir sie dann interpretieren wollen, müssten wir zwischen dem „gemeinten“ und dem sog. „wirklichen“ Sinn unterscheiden; beides bleibt dabei hinter dem Werk oder der Tat, und handelt es sich um einen Text, bleibt es „zwischen den Zeilen“. Schon diese Erfahrung zeigt uns, wie unzureichend es wäre, sich nur an dem subjektiv Gemeinten zu orientieren (und dazu kommen noch die Schwierigkeiten mit dem Aufhellen dieses subjektiv Gemeinten). Das gilt noch mehr für jede Selbstinterpretation des Autors; sie kann sehr interessant sein, aber auch irreführend, und sie kann kaum als Kriterion oder Norm der Auslegung und Interpretation des Werkes gelten. Und damit öffnet sich vor uns noch eine weitere Frage, nämlich, ob es genug Gründe gibt für die sonst übliche Einschränkung des hermeneutischen Zutritts allein auf menschliche Handlungen und Taten, und das heißt weiter: auf die Welt der Sprache, d. h. der menschlichen Sprache. An dieser Stelle werden wir in solcher Richtung jetzt nicht weitergehen, aber wir werden uns dessen bewusst, dass der Anspruch der Hermeneutik an Universalität nicht ausschließlich mit der menschlichen Sprache und mit dem Menschen überhaupt zu tun haben muss und darf. Die gesuchte Universalität der Hermeneutik darf nicht so verstanden werden, als ob wir alles in die Welt der Sprache hineinziehen müssen; so etwas klingt für mich zu viel, ja sogar ganz übertrieben phänomenologisch, oder besser gesagt, unhaltbar subjektivistisch. Dasselbe müsste doch noch vorher für unser Bewusstsein gelten, denn ohne individuelles Bewusstsein gibt es keine sprachliche Kommunikation und auch kein kollektives Bewusstsein, egal wie wir es schon verstehen wollen. Jene erwähnte und unentbehrliche Universalität besteht für mich darin, dass wir die „Sprache der Welt“ interpretieren wollen, also den λόγος der Welt, des Universums. Meiner persönlichen Meinung nach gehört so etwas auch zu unseren philosophisch-hermeneutischen Aufgaben. Nur ist es wieder nur ein bloßer Teil der Problematik der hohen Ansprüche der philosophischen Hermeneutik an ihre Universalität, denn damit stecken wir noch tief innerhalb der Grenzen des Menschlichen. Die wirkliche Welt erstreckt sich jedoch – jeder phänomenologischen Reduktion zum Trotz – auch hinter diesen Grenzen, und hinter diesen Grenzen erstreckt sich immer auch das Reich des aktiven Reagierens niedriger Organismen aufeinander, und höchstwahrscheinlich noch weiter und tiefer bis in die einfachsten, primitivsten Schichten alles Seienden. Das müssen wir leider jetzt ganz beiseite lassen, um zu dem angemeldeten Thema endlich zurückzukommen. Ich halte es nur für notwendig es mindestens am Rande zu bemerken, weil ein gewisses, natürlich immer entsprechend einfacheres „hermeneutisches Verfahren“ innerhalb jeder „Reaktion“ vorausgesetzt werden muss, und zwar mindestens bei allen Lebewesen. (Und ich muss zugestehen, dass ich hier derselben Meinung bin wie vor Jahrzehnten A.N. Whitehead, wenn er sogar bereits den Elektronen die Fähigkeit zugesprochen hat, auf den Plan des lebenden Körpers zu reagieren – und das heißt notwendigerweise auch aufeinander zu reagieren; heute könnten wir jedoch noch weiter und tiefer gehen, z. B. bis zu den „Superstrings“.)
Es gehört zu einer der wichtigsten philosophischen Entdeckungen oder lieber Aufklärungen des vorigen Jahrhunderts, dass sich alle bisherige Philosophie nicht tief genug um die Problematik der Zeit und besonders um die der Zeitlichkeit des Seienden interessiert hat, ja, dass sie gerade das Grundproblem ausgeblendet hat. Ich formuliere es zielbewusst als ein Understatement. Es ist eigentlich eine Deutung einer ganzen Epoche philosophischen Denkens, also eine hermeneutische Leistung, ein Ergebnis philosophisch-hermeneutischer Reflexionen mehrerer Denker mit Heidegger an der Spitze. So etwas ist kein Schauen, kein θεωρεῖν im alten Sinne, deswegen war es eigentlich keine Ent-deckung dessen, was immer schon „da“ war, obzwar ver-deckt, keine Auffindung, kein Fund. Es ist eine wirklich neue Idee: wirklich, weil wirkend: Wir verstehen jetzt die bisherige Philosophie als Metaphysik (in einem spezifischen Sinn), weil wir sie im Lichte einer neuen Idee „sehen“, verstehen. Wir sind jetzt imstande, verschiedenste alte und immer noch auch einige heutige Autoren so zu lesen und so zu verstehen, wie sie sich selbst nie verstanden haben (und verstehen, wenn sie noch leben und denken). So eine hermeneutische Leistung ist nicht mehr etwas von jenen Autoren Abgeleitetes, sondern es ist eine Tat, d. h. ein Anfang einer neuen Praxis des Denkens. Es kam dazu auch nicht über Nacht, es dauerte ziemlich lange; erst jetzt können wir Keime und Andeutungen bei vielen großen Denkern finden, die bezeugen, wie schwer es war, die neue Idee zur Geburt und zum Worte zu bringen. Was wussten sie wirklich, ohne die richtigen Worte finden zu können, und was ahnten sie nur? Wie sollen wir ihre Versuche deuten? Auch wir sollten Ähnliches versuchen, auch wir ahnen nur am Anfang, dass manche Alten darüber nachgedacht haben, und dass sie der heutigen neuen kritischen Sicht schon auf der Spur waren. Was ist dieses „Ahnen“, das sich einmal zur Vergangenheit, ein anderes Mal jedoch zur Zukunft wendet und verhält? Und was ist eigentlich das, was wir und auch sie, die Alten, ahnen oder geahnt haben, dieses „Geahnte“? Ist es „dasselbe“? Kann es überhaupt „dasselbe“ sein? Unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen kann es sich um „dasselbe“ handeln, wenn es einmal präsent, anwesend ist, und ein anderes Mal nur zukünftig, noch nicht da, sondern was erst hervorgebracht werden soll und muss?
Ich habe zu Beginn mit der Erwähnung eines seltsamen Gedankens angefangen, dass die Hermeneutik uns hilft, im Text das aufzufinden, was dort nicht ist. Es ist in diesem Kontext egal, ob sie, d. h. die Hermeneutik, uns dazu hilft als Theorie des Auslegens, des Interpretierens, oder eher als Kunst des Auslegens, oder Kunst des ἑρμηνεύειν, was breiter ist, oder als noch etwas anderes. Wir werden uns lieber an die Aktivität des „Auffindens“ des „Noch-nicht-Seienden“ konzentrieren (da müssen wir mindestens Ernst Bloch erwähnen). In der Perspektive des hermeneutisch aktiven Subjekts, also des Hermeneutikers, ist das Aufzufindende immer etwas Zukünftiges, d. h. etwas Noch-nicht-Aufgefundenes, Noch-nicht-Da-seiendes. Es gehört, wie es scheint, zum Wesen des alten, sagen wir: „metaphysischen“ Denkens, dass dieses Noch-nicht-Aufgefundene, dieses erst in der Zukunft Aufgefunden- sein-Sollende doch etwas immer schon dagewesenes war-nur nicht subjektiv für uns. Das Zukünftige sowie das Vergangene, ja, diese beiden nicht „jetzt und da“ seienden Zeitdimensionen, haben, wie es schon z. B. Augustin schildert, keine autonome Wirklichkeit, sie sind bloß Angelegenheiten unseres Bewusstseins, unserer Subjektivität. Gerade das wurde ja neuerdings hermeneutisch als metaphysisches Vorurteil gedeutet, als nicht nur subjektive, sondern philosophische Illusion. Aber dann darf mindestens das Zukünftige keineswegs als Illusion betrachtet werden, obwohl es nichts „objektiv“, „gegenständlich“ Da-seiendes ist. Also gibt es zweierlei Weisen, wie das hermeneutische Verfahren, das hermeneutische aktive Streben, der hermeneutische Akt sich zur Zeit verhält: erstens ist es die eigene Zeitlichkeit dieses Aktes, aber zweitens ist es die Zeitlichkeit dessen, was zu deuten, zu interpretieren ist. Beides ist hier wichtig, weil außer Anderem auch dieser hermeneutische Akt, wie gesagt, hermeneutisch gedeutet, ausgelegt, interpretiert werden muss, und zwar als Ganzes, d. h. eben philosophisch.
Also zum ersten Punkt: Die eigene Zeitlichkeit des hermeneutischen Aktes bedeutet vorerst, dass der Interpretierende eine gewisse Zeit dazu braucht, um den Akt durchzuführen. Diese Zeit muss ihm gegeben werden, denn der Interpretierende kann sich diese Zeit durch seine Tätigkeit nicht schaffen, nicht erzeugen, er kann sie nur abwarten, er muss sie erwarten, er muss sie kommen lassen. Dieses „Kommen-lassen“ ist viel wichtiger als jedes „Seinlassen“, von dem mit solchem Nachdruck Heidegger gesprochen hat. Jeder echte hermeneutische Akt ist daher notwendigerweise zur Zukunft hin geneigt, und zwar nicht objektivierend, sondern zwar aktiv, aber erwartend und aufnehmend. Und das ist von fundamentaler Bedeutung für den zweiten Punkt. Jeder deutende Akt, der das, was er deutet, nur objektiviert und fixiert, ist unrecht und hermeneutisch falsch. Auch wenn der Autor des zu deutenden Werkes nichts anderes als das Wichtigste, was er zu sagen hatte, irgendwie verkörpern und so vergegenständlichen will und muss (darin besteht doch sein Schaffen und Erzeugen des Artefactum), der Weg des hermeneutischen Aktes ist umgekehrt, nämlich von dem Objektivierten, vergegenständlichend Fixierten zum Eigentlichen, in sein Inneres hinein, zu dem, was in der veräußerten Kreation „nicht ist“ und auch nicht sein kann. Für jeden echten hermeneutischen Zutritt zu dem, was hinter dem gegenständlich Gegebenen zu verstehen ist, ist charakteristisch, dass er grundsätzlich erwartend und empfangend sein muss, jedoch nicht das gegebene Artefactum empfangend, sondern das, was als Nicht-Gegebenes von ihm nur angedeutet und bezeugt wurde oder bezeugt werden sollte. Und gerade das ist das Zukünftige in dem Anwesenden und hinter ihm (oder vielleicht besser „vor“ ihm). Und es ist dasselbe, was den schaffenden Künstler als ein nicht-seiender Appell angesprochen hat, als eine nicht-gegenständliche Herausforderung zu seiner Tätigkeit, und was sich vor dem deutenden, interpretierenden Menschen als Einladung zum Eingang in das Innere, in die innere Welt des Werkes aufmacht. Für Beide ist es immer das Kommende und nicht das Gegebene, schon Gekommene, worum es sich handelt.
Jede Kritik hat ihren guten Sinn nur im klaren Verstehen der Diskrepanz zwischen einem solchen Appell, den wir uns aneignen, und der schaffenden, verarbeitenden Antwort des Autors, zu der wir im kritischen Abstand stehen.
Vor ein Paar Wochen ist eine Sammlung von persönlichen Briefen von Jan Patočka an den Kunsthistoriker Professor Richter aus Brünn erschienen. Nur einige wenige sind philosophisch relevant. Doch in einem Brief, Ende April 1960 geschrieben, finden wir eine prächtige Formulierung über den feierlich-deutenden Aspekt des Kunstwerkes. Patočka schreibt: „Das (Kunst)Werk ist also kein Werk als bloßes Ding unter anderen Dingen, sondern als das öffnende jener Dimension, welche in der Alltäglichkeit verdeckt bleibt. Deswegen hat es einen wesentlich zeitlichen Sinn dessen, was kommt und was nie einfach da ist, also einen ‚zukunft-artigen‘ Sinn.“ (S. 99) Und dann schreibt er noch, dass alle drei Zeitdimensionen in dem Kunstwerk engagiert sind, dass jedoch jene zukünftige Dimension die wichtigste ist, denn sie gibt den beiden anderen den Sinn, den Akzent, den Inhalt.
Diese fundamentale Verknüpfung der Hermeneutik mit der Zeit, d. h. mit eigener Zeitlichkeit und mit der Zeitlichkeit dessen, was hermeneutisch zu deuten ist, und besonders mit der ankommenden und sich öffnenden Zukunft, die nicht leer ist, sondern voll von adventiven nicht-gegenständlichen Herausforderungen, Aussichten und Tröstungen, wurde vor-philosophisch und außer-philosophisch im ursprünglichen Gedanken der im Alten Testament verstanden, wo es zugleich Wahrheit und Glauben bedeutet. Es ist vielleicht nicht ohne Bedeutung, wenn wir heute im hermeneutischen Zutritt zum Text oder zum Kunstwerk usw. einen nicht zu unterschätzenden Moment erwartender Hoffnung und aus der Zukunft seinen Grund schöpfenden Glauben auffinden konnten.