Die Geschichtlichkeit Europas
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  • Evropa a dějiny

  • Die Geschichtlichkeit Europas1


    Zur selben Zeit, als der Slogan „zurück nach Europa“ in dem sich befreienden Teil Europas geläufig wurde, konnte man auch ein anderes, eigentlich ähnliches Schlagwort lesen und hören, nämlich „Rückkehr in die Geschichte“. Aus beiden Ausdrücken ließ sich vor allem eine gewisse nostalgische Note heraushören: Es gab Zeiten, in denen wir selbstverständlich zu Europa gehörten, und wir wollen wieder zu Europa gehören. Und es gab Zeiten, in denen sich auch bei uns Geschichte zutrug, und wir wollen heute, daß sich hier wieder etwas Geschichtliches, geschichtlich Bedeutendes abspielt. Darin erklingt auch ein gewisses Selbstmitleid: Unserer Geschichtlichkeit, unserer Zugehörigkeit zu Europa wurden wir gewaltsam beraubt. Wir haben vierzig, fünfzig (manche im Osten sogar siebzig) Jahre verloren. In beiden Losungen steckt jedoch weit mehr. Ich bin in Versuchung zu sagen, daß es sich um etwas den Mythen sehr ähnliches handelt, die immer mehrdeutig, oder sogar – wie Patočka sagte – „in ihrem Sinn unerschöpflich“ waren. Der alte Mythos sprach von der Entführung Europas nach Kreta; der neue Mythos spricht anstatt von einer Reise auf einem Stier über etwas, was eher an einen Ausschluß aus dem Verkehr erinnert. Derjenige Teil Europas, von dem wir getrennt wurden, ist uns „weggefahren“, weil er offenbar „in der Geschichte geblieben“ war wie in einem Zug. Ein großes Problem bleibt freilich, wie es sich in einen Zug einsteigen läßt, der schon seit fünfzig Jahren abgefahren ist.

    Es besteht noch eine andere Schwierigkeit. Der Mythos von der „Rückkehr in die Geschichte“ ist etwas in sich sehr Widersprüchliches. Der Mythos ist geschichtslos und rechnet nicht mit Geschichte; in der Geschichte leben bedeutet das genaue Gegenteil vom Leben im Mythos. Geschichte läßt sich durch kein Ritual betreten; Geschichte betritt man überhaupt nicht, sie wird gemacht, geschaffen. Genauer: Geschichte ist nur dort, wo geschichtsgestaltende, historische Subjekte leben. Wie wird ein Mensch (oder eine Gruppe von Menschen, ein Stamm, ein Volk usw.) zum historischen Subjekt? Sicher nicht indem er bewußt oder unbewußt in die Geschichte eintritt. Ganz im Gegenteil: Geschichte beginnt dort, wo irgendein Subjekt oder irgendwelche Subjekte beginnen, historisch zu handeln. Der Mythos kennt zwar die Rückkehr, aber nur eine Rückkehr zu demselben. In die Geschichte zurückzukehren ist jedoch ebenso unmöglich wie zweimal in denselben Fluß zu steigen. In die Geschichte „eintreten“ läßt sich dagegen auch ahistorisch, d.h. nicht geschichtsschaffend. So treten Naturerscheinungen und Katastrophen in die Geschichte ein, allerdings nur deshalb, weil es hier schon eine Geschichte gibt, d.h. daß historische und geschichtsschaffende Subjekte da sind, die auf jene ahistorischen Erscheinungen und Katastrophen auf irgendeine Weise reagieren, sie eigentlich in die Geschichte einbeziehen und integrieren. Man kann sich der Geschichte, d.h. den historischen Subjekten, aufzwingen, sie dazu bringen, daß sie auf etwas Ungeschichtliches geschichtlich reagieren; es läßt sich auch an der Geschichte bloß parasitieren, z.B. die Geschichte zur ahistorischen Lebensweise ausnutzen. Aber wir können uns nicht in der Geschichte aufhalten, wenn wir keine historischen Subjekte, also geschichtsschaffende Wesen sind. In die Geschichte läßt sich somit überhaupt nicht „zurückkehren“; ein ahistorisches Subjekt gelangt in die Geschichte nur dank der Reaktion historischer Subjekte, und ein historisches Subjekt muß nirgendwohin zurückkehren, weil er Mitschöpfer der Geschichte ist.

    Wir könnten fragen, wie eigentlich Europa selbst die Geschichte betrat. Einst vor langer Zeit bezeichnete dieser Name das mittlere Griechenland, später das ganze tatsächliche Griechenland und irgendwann seit Mitte des ersten Jahrtausends v. Chr. weiteres Festland ohne genaue Begrenzung (insbesondere in Richtung West und Nord); für die Trennlinie in Richtung Ost wurde üblicherweise der Fluß Don gehalten. Das ist die geographische Abgrenzung, für uns uninteressant, weil wir im geographischen Sinne nie aufgehört haben, Bestandteil Europas zu sein. Wenn von der „Rückkehr nach Europa“ die Rede ist, hat das gewiß eine andere Bedeutung als die geographische. Nichtsdestoweniger ist dieses geographische Verständnis Europas irgendwie entstanden und besitzt somit seine „Geschichte“. Aber können wir zu Recht schon von wirklicher Geschichte sprechen? Was ist eigentlich Geschichte, und worin besteht ihre Geschichtlichkeit? Seit dem Urknall geschah immer wieder etwas; aber Geschehen bedeutet noch nicht Geschichte, d.h. historisches Geschehen. Echte Geschichte beginnt im Vergleich zum Weltgeschehen eigentlich erst vor kurzem. Geschichte ist aber nicht nur keine bloße Fortsetzung des Naturgeschehens auf einer höheren, menschlichen Ebene, sondern auch keine einfache Fortsetzung des Lebens vorgeschichtlicher Menschen. Worin besteht eigentlich der Unterschied zwischen dem Leben und Denken vorgeschichtlicher und geschichtlicher Menschen? Ich gehe davon aus, daß Geschichtlichkeit, historisches Sein eine Erfindung ist, und daß diese Erfindung eng, geradezu wesenhaft mit einer neuen Beziehung des Menschen zur Zukunft verknüpft ist.

    Wir haben gefragt, wie Europa die Geschichte betrat. Selbstverständlich nicht als historisches Subjekt, aber auch nicht als Parasit oder als Katastrophe. Zum historischen Phänomen wurde Europa gleichzeitig dank und trotz des Christentums. Doch das Christentum selbst ist streng genommen auch kein historisches Subjekt, das nur einzelne Christen sein können. Wir müssen daher fragen, wie die Christen zu historischen Subjekten wurden und so die Geschichtlichkeit Europas begründen konnten. Die Antwort auf diese Frage erfordert, daß wir Europa im geographischen Sinne verlassen und die Wiege des historischen Denkens und Handelns in Vorderasien, genauer gesagt im alten Israel finden. Dort kam es nämlich zu der epochalen Erfindung, die eine ganz neue Lebensorientierung, einen vollkommen neuen Lebensstil bedeutete. Der vorgeschichtliche Mensch war mit seinem ganzen Leben und Denken völlig auf die Vergangenheit eingestellt, genauer noch auf die Urvergangenheit: Denn dort hatte er seine Urbilder vor sich, die er nachahmen, bzw. mit denen er sich identifizieren mußte, wenn er nicht der Nichtigkeit verfallen sollte, die ihn aus der Zukunft bedrohte. Archetypen nicht nachzuahmen, bedeutete ins Chaos und Verderben zu stürzen. Der mythische Mensch rettete sich selbst paradoxerweise dadurch, daß er sich seiner Einmaligkeit entledigte und mit dem Archetypen identifizierte, wodurch er zum „Stereotyp“ wurde; statt den Weg zu sich selbst zu finden, verlor er sich.

    Natürlich geschah auch in dieser archaischen Zeit einiges; aber es war keine Geschichte im eigentlichen Sinne. Wenn jemand einen neuen Schritt gewagt hatte, der keine bloße Nachahmung des Urbilds darstellte, war er ein Held, wurde vergöttert und als neues Urbild wieder nachgeahmt. Für den ganzen Plan und Verlauf des Lebens war es jedoch entscheidend, daß alles Geschehen darauf abzielte, was bereits da war, was vor den Menschen als etwas Gegebenes, Fertiges, schon Geschehenes und daher Wirkliches dastand. Eine griechische Opposition gegen den Mythos gab es nur teilweise, unvollkommen. Der Gegensatz vom μῦθος war λόγος; gegenüber dem Geschehen wurde die Substanz betont, gegen Erzählung begriffliche Abgrenzung postuliert. Der Mythos wurde rationalisiert, doch seine Orientierung auf urvergangene, wiederholbare Geschehnisse wurde zur Orientierung auf die ewig bestehende und unveränderliche Grundlage von allem; aus Archetypen wurden Prinzipien, αρχαί. Auch in der griechischen Tradition finden wir Ansätze einer anderen Einstellung, aber diese sind mehrdeutig und offen für verschiedene Interpretationen. Die Tempelaufschrift „Erkenne dich selbst“ oder die philosophische Aussage „Ich suchte mich selbst“ sprechen uns zwar überaus an, aber es bleibt fraglich, ob dies zu Recht geschieht. Interpretieren wir in sie nicht etwas hinein, was in ihnen nicht steckt?

    Der Beginn echter Geschichte konnte in die Welt ungeschichtlicher Geschehnisse nur unter einer Grundbedingung durchbrechen, daß nämlich der Mensch der Vergangenheit den Rücken kehrte und sich der kommenden Zukunft zuwandte, aber nicht mehr mit Angst und Grauen, sondern mit Vertrauen und in hoffnungsvoller Erwartung. Geschichte konnte erst dort beginnen, wo der Mensch aus ihr nicht zu dem floh, was dauert oder immer wiederkehrt, sondern begann, sie selbst zu gestalten und zu strukturieren. Er schaltete sich selbst aktiv mitten in die Spannung zwischen dem ein, was schon ist und war, und dem, was noch nicht ist und erst kommt. Während der archaische Mensch die (gegebene) Urvergangenheit vor sich und die Zukunft als drohenden Abgrund hinter sich hatte, drehte sich nun alles um 180 Grad. Der europäische und europäisch geprägte Mensch hat umgekehrt die Zukunft vor sich, während er die Vergangenheit hinter sich läßt. Diese neue Orientierung mit den Augen auf die Zukunft gerichtet ist jedoch nicht europäischen Ursprungs; sie hängt mit der glänzenden Erfindung von Antiarchetypen zusammen, mit deren Hilfe die Macht der Archetypen gebrochen wurde. Die Nachahmung eines Archetyps erfordert die Identifizierung mit ihm; einen Antiarchetyp nachzuahmen bedeutet dagegen, sich abzuheben, etwas Neues, Ungewöhnliches zu tun. Für Abram (noch vor seiner Namensänderung) war es das „Wahre“, also „Gerechte“, wenn er sein Haus, seine Stadt, sein Land, in dem er wohnte, verließ und ins Unbekannte aufbrach. Auch Moses führte das Volk aus einer bekannten Umwelt hinaus und führte es, ohne zu wissen wohin. Abram wurde zu Abraham, also zu sich selbst, erst nachdem er sich ins Ungewisse begab, das heißt in die Zukunft, nur von der Verheißung bestärkt.

    Geschichte kann nur dort begründet und erhalten werden, wo neue Dinge, nicht dagewesene Ereignisse geschehen. Aber Neues kann nur unter der Voraussetzung etwas wirklich Neues sein, daß es sich irgendwie mit dem Alten auseinandersetzt, an das Alte anknüpft. Neues, das an nichts anknüpft, beginnt von neuem, und somit, ebenso wie einst und wie immer, am Anfang. Das Vergangene aufzugreifen bedeutet nicht, es fortzusetzen, und auch nicht zu ihm zurückzukehren, sondern etwas aus dem Vergangenen auszusuchen und es zum Bestandteil und Baustein der Gegenwart zu machen. Die europäische Zivilisation unterschied sich von allen anderen dadurch, daß sie in bezug auf die Vergangenheit nicht nur bei Gedächtnis und Erinnerung blieb, daß sie sich nicht mit Chronistenaufzeichnungen der Ereignisse zufriedengab, sondern versuchte, den Sinn des historischen Geschehens im breiteren Zeitkontext zu begreifen. Der europäische Mensch begann dank der vermittelnden Wirkung des Christentums, sich in bezug auf Geschehnisse wie zur Geschichte zu verhalten. Nur so konnte Europa die Geschichte „betreten“; es gab zuvor keine Geschichte als etwas Gegebenes, aber die Europäer wurden zu historischen Subjekten dadurch, daß sie begannen, sich in bezug auf Geschehnisse geschichtlich zu verhalten, d.h. historisch zu handeln.

    Geschichte ist daher nichts Selbstverständliches und wird auf keine Weise selbstverständlich fortgesetzt, wenn sie schon einmal da ist. In die Geschichte „zurückzukehren“, ohne an ihr mitzuarbeiten, geht nur so, daß an ihrer Fortsetzung jemand anders (andere Menschen) arbeitet, während wir an der Geschichte nur parasitieren. Die sich befreienden Völker Mittel- und Osteuropas dürfen sich vor allem nicht auf bloße Nachahmung des Westens konzentrieren; dadurch würden sie aus der Geschichte sowie aus Europa nur noch mehr herausfallen. Sie können auch nicht ins vergangene Europa zurückkehren, da es nicht mehr da ist, weil es vergangen ist. Sich umzuwenden bedeutet, zur „Salzsäule“, also zu etwas Ungeschichtlichem, ja sogar Leblosem, zu werden. An die Vergangenheit läßt sich anknüpfen, aber nur in Form aktiver Auswahl zwecks Teilnahme an der Gestaltung (Mitgestaltung) der Geschichte, ob in größerem oder in kleinerem Umfang. Wenn unlängst Überlegungen über die Möglichkeit eines Endes der Geschichte im Zusammenhang mit der jüngsten nicht nur europäischen Entwicklung aufgetaucht sind, muß man einerseits einräumen, daß im allgemeinen eine solche Möglichkeit besteht (und immer bestand und bestehen wird). Es ist aber zugleich notwendig in Betracht zu ziehen, daß Kriege sowie nichtkriegerische Auseinandersetzungen und Konflikte an sich noch keine geschichtsschaffende Kraft darstellen. Diese kann nur eine Reaktion geschichtsschaffender Subjekte darauf sein, und zwar nicht irgendeine, sondern nur eine geschichtsschaffende Reaktion. Der bloße Konsummensch beteiligt sich allerdings tatsächlich nicht an der Schaffung und Erhaltung der Geschichte. Die Perspektive einer Konsumgesellschaft steht somit im Widerspruch zum Programm der „Rückkehr in die Geschichte“.

    So gelangen wir zwangsläufig zu der Frage, ob nicht die Konsumgesellschaft westlichen Typs, konkret die westeuropäischen Gesellschaften, in einem bestimmten Maße aus der Geschichte herausfielen bzw. im Begriff waren herauszufallen. Eine viel auffälligere Erscheinung ist zweifellos das Zurücktreten Europas aus der Stellung des politischen Faktors im Weltgeschehen, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber die Auffälligkeit muß nicht immer das tatsächlich Wichtige unterstreichen. Die europäischen Großmächte waren gewiß durch den Zusammenbruch des Kolonialismus und die Emanzipation von Ländern der Dritten Welt erschüttert worden. Hier kulminierte nicht nur das Versagen europäischer Politik, sondern auch das Versagen der Idee des modernen Europas selbst. Die europäische Modernität stellt von Anfang an eine Schwächung der tatsächlich historischer Orientierung dar und führt allmählich zum Niedergang der Beziehung Europas zur Geschichte und Geschichtlichkeit. Die Einstellung der Lebensorientierung des europäischen Menschen auf die Zukunft dauert zwar fort, doch die Zukunft leert sich aus, wird immer mehr zum Dispositionsraum, um den menschlichen Willen zur Geltung zu bringen. Der moderne, modernistische Mensch wendet sich zwar von der Vergangenheit ab, erwartet aber nichts von der Zukunft – die öffnet sich selbstverständlich seinem Willen und eigentlich seiner Willkür. Modernität bedeutet den Verlust einer ganzen Dimension des menschlichen Lebens: der strukturierten Zukunft, die kommt, obwohl sie „noch nicht ist“.

    Die Grunddimension der Geschichte ist die Zukunft. Die Vergangenheit, sich selbst überlassen, ist schon vergangen, ist nicht mehr; sollte sie jetzt irgendeinen Sinn haben, muß sie erst vergegenwärtigt werden, was nur durch eine aktive Tat geschehen kann, die durch die kommende Zukunft ermöglicht wird. Demgegen­über ist die Vergangenheit, auf die sich niemand und nichts bezieht, nicht nur nicht mehr vorhanden, sondern es ist auch so, als ob sie nie dagewesen wäre. Die historische Orientierung ist jedoch noch durch etwas anderes, wesentli­che­res bedingt. Der historische Mensch, der sich der Zukunft zuwendet, hat keine Leere vor sich, sondern wird von der Zukunft angesprochen, die sich für ihn in gewisse Herausforderungen gliedert. Er handelt im Hinblick auf ein Gan­zes und dessen Sinn. Kein Ganzes besteht nur hier und jetzt, sondern besitzt seine Maße in Raum und Zeit. Zu jedem Ganzen gehört daher auch die Zukunft; ein Ganzes, dem sich keine Zukunft mehr öffnet, oder das sich selbst der Zu­kunft nicht öff­net, hört auf, ein Ganzes zu sein und überhaupt zu sein. Ge­schichtlichkeit be­deutet also Ausrichtung auf etwas, was noch kein „Etwas“ ist, was kein Ding und auch keine gegenständliche Wirklichkeit, sondern ein „Un-Ding“ oder auch die nicht-gegenständliche Wirklichkeit ist.

    Kehren wir nun zu Europa zurück. Wenn wir also nach dem historischen Charakter Europas fragen, müssen wir vor allem ermitteln, was heute auf Europa und die Europäer als Herausforderung der Zukunft zukommt. Auch die Vergangenheit Europas können wir nur so verstehen, indem wir versuchen, zu den großen Herausforderungen vorzudringen, die zumindest einige Europäer vernahmen und die Europa entweder nicht erhörte, ganz falsch interpretierte, oder die es gegebenenfalls mehr oder weniger beantwortete.

    Diejenigen Nationen, die nach dem letzten Krieg mehrere Jahrzehnte sowjetischer Machthegomonie durchliefen und deren Schicksal es war, die Folgen eines stalinistisch deviierten Sozialismus zu tragen, haben einen schweren Zeitabschnitt ihrer Geschichte durchgemacht. Es scheint mir vollkommen unpassend und geradezu sachfremd zu sein, nun von ihrer „Rückkehr in die Geschichte“ zu reden, denn sie waren es, die in jenen Jahrzehnten mit ihrer Geschichte lebten, sie durchlebten und sich auf eine Weise auf sie bezogen. Ich würde sagen, daß historisch eher diejenigen leben, die unterdrückt und erniedrigt werden, als die, die unterdrücken und erniedrigen. Der Gedanke, daß man mit Hoffnung und Vertrauen in die Zukunft blicken kann, entsteht eher in den Köpfen derer, die zu wenig zu verlieren haben. Das Leiden muß nicht, kann aber zu Beginn und Quelle der Erneuerung werden, während die Beati possidentes nur den Erhalt des Status quo anstreben. Aber das sind nur Voraussetzungen und Bedingungen. Eigentlich geht es nicht darum, ob es Geschichte „war“, in der wir lebten, oder ob wir aus ihr herausgerissen oder vertrieben worden waren, sondern ob wir in ihr geschichtlich gelebt haben und ob wir uns weiterhin als historische Subjekte auf sie beziehen und an sie anknüpfen werden. Keinesfalls habe ich den Eindruck, daß Menschen in Konzentrationslagern und Gulags am Rande der Geschichte oder gar außerhalb der Geschichte gelebt haben.

    Ich würde jedoch noch weiter gehen. Das historische Leben mittel- und osteuropäischer Nationen, die nach dem Krieg in die Machtsphäre des Stalinschen Imperiums gerieten und bis vor kurzem dort geblieben sind, wurde auch nicht aus Europa herausgerissen. Europa lebte zweifellos ein Doppelleben; es war schließlich geteilt. Aber beide Leben waren historisches Leben, denn auf beiden Seiten arbeiteten an der Geschichtlichkeit ihrer Geschichte historische Subjekte, die an die Vergangenheit Europas anknüpften und sich an seiner Zukunft orientierten. Ich wage kein kategorisches Urteil zu treffen, doch meine Erfahrung aus Gesprächen mit vielen Besuchern aus dem Westen scheint darauf hinzuweisen, daß die Sorge um Europa und dessen Zukunft auf unserer Seite des Kontinents größer war. Es geht nicht nur um Gefühle und Gedanken, sondern vor allem um die Fähigkeit und Bereitschaft, praktisch etwas für die gemeinsame Zukunft Europas zu tun.

    Es handelt sich nicht und kann sich gar nicht um eine Rückkehr von uns in die Geschichte oder nach Europa handeln. Wir haben unsere eigene Geschichte gelebt, die wir uns nicht ausgesucht hatten, aber in der wenigstens einige von uns sich auf die europäische Vergangenheit beriefen, einschließlich der eigenen europäischen Vergangenheit, und sich zumindest auf die gemeinsame europäische Zukunft vorbereiteten, einschließlich der eigenen, gleichwohl armseligen europäischen Zukunft. Niemand soll sich einbilden, daß uns ein Umsteigen vom Leiterwagen direkt in einen internationalen Schnellzug erwartet; und niemand soll uns zu überzeugen versuchen, daß wir in einen solchen Schnellzug, der irgendwoher gekommen ist und wieder irgendwohin davonfährt, einsteigen sollen. Heute ist nicht die Zeit für solche Formen von Emigration (und es wäre nichts anderes) aus der eigenen Geschichte in eine fremde. Es handelt sich aber um eine ernste Frage, auf welche Weise wir diese doppelte europäische Geschichte verbinden, um sie in einer einzigen, gemeinsamen Zukunft zu verankern. Auf die Vergangenheit können wir uns nicht allzusehr verlassen. Europa war bisher eigentlich nie eine wirkliche Ganzheit, eine Einheit gewesen. Die europäische Geschichte ist voll von Streitigkeiten, Zwisten, Spannungen und Kämpfen, Schismen und Spaltungen, aber auch von Gewalt, Stumpfsinn und Willkür. Und von all dem sind jene glänzenden und einmaligen Leistungen abzugrenzen, an die wir bis heute anknüpfen können, ja sogar müssen. Europa wäre kein Europa ohne das Christentum; aber die Geschichte des Christentums in Europa ist voller Grauen. Das Christentum selbst ist auf einer Art Synkretismus und Symbiose griechischer und jüdischer Traditionen begründet, was gerade eben die Quelle immer wieder neuer Spannungen war, auch gedanklicher und geistiger. Europa hat und wird keine Zukunft ohne Europäer haben, die in vollem Bewußtsein und kritisch an die europäische Vergangenheit anknüpfen und sie zum Bestandteil der europäischen Gegenwart machen. Die Frage ist, ob sie es so tun werden, daß sie dazu nicht einmal Europäer sein müßten, oder ob sie bewußt ihr Europäertum aufbauen werden. Haben aber Europäer noch irgendeine europäische Zukunft? Hat Europa noch eine Zukunft als Europa? Oder besteht seine einzige Zukunft darin, daß Nichteuropäer daran anknüpfen werden, insofern sie es denn tun werden?

    Die meisten bisherigen Zivilisationen in der Geschichte der Menschheit sind irgendwie entstanden, lebten eine zeitlang, kulminierten einmal, danach alterten sie und vergingen irgendwie. Die europäische Zivilisation hat bisher die übrige Welt am meisten beeinflußt, wirkte jedoch bisher eher durch ihre sekundären (technischen) Produkte als durch ihre Prinzipien und Ideen. Einer der wesentlichsten Bestandteile der europäischen Tradition und der ganzen Zivilisation ist das geschichtliche Denken und Handeln, das darauf gründet, daß wir uns wie geschichtliche Wesen, historische Subjekte verhalten und handeln. Und ein zweiter, nicht minder wichtiger, besteht in der Tradition tiefer und komplizierter Durchreflektiertheit all unseres Denkens. Wir denken nicht nur geschichtlich, sondern durchdenken die Geschichtlichkeit unseres Denkens und Handelns. Und auch dieses Durchdenken hat wieder seine Geschichte, seine spezifische Geschichtlichkeit. Das ist etwas, was wir in keiner bisherigen, ob noch lebenden oder schon untergegangenen Zivilisation antreffen.

    Europa und Geschichte, Europa und Geschichtlichkeit gehören eng zusammen. Die Europäer müssen daher weiter wie Europäer leben und denken, oder sie müssen die Staffel an eine andere Zivilisation abgeben. Wenn eine solche Übergabe des Staffelstabs gelingt, wird das Europäertum im Wesentlichen auch außerhalb Europas weiterleben. Wenn nicht, dann wird das vielleicht tatsächlich das Ende der Geschichte sein.


    1Dieser Teil ist die gekürzte und leicht abgeänderte Fassung eines älteren Textes mit dem Titel Europa und Geschichte, ursprünglich erschienen 1990 in: Lettre International, tschechische Version, Nr. 1, S. 11-13.