Einheit oder Dialog?
| docx | pdf | html ◆ article, German, origin: 2018
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  • Evropská integrita jako dialog

  • Einheit oder Dialog?1


    Tschechische Denker, die über die Voraussetzungen der politischen Integration Europas wie über eine aktuelle Aufgabe nachdenken, die den Europäern heute gestellt wird, können Patočkas Überlegungen weder über den „Untergang der westlichen Welt“ noch über den „Untergang Europas“ und die neue „nacheuropäische Welt“ bzw. „nacheuropäische Zeit“ stillschweigend übergehen. Patočka knüpft ausdrücklich an Barracloughs Überlegungen aus den sechziger Jahren an, doch zusammen mit diesen (sowie weiteren) erinnert er nur in einer neuen Variation an Spenglers älteren Gedanken. Was bedeutet es für uns, wenn wir ernst und tiefsinnig nicht nur über ein geeinigtes Europa sprechen, sondern insbesondere nachdenken wollen? Welche Frage dürfen wir nicht übergehen, nicht vergessen? Es ist eine der schwerwiegendsten Fragen: Ist das, wovon wir wie über die Zukunft Europas reden, wirklich noch Europa? Bedeutet das in bezug auf Organisation, Verwaltung, Wirtschaft und Finanzen, vielleicht sogar Militär geeinte Europa nicht eigentlich die Schaffung eines falschen Europas? Bedeutet es nicht das Ende, den Untergang Europas trotz der Beibehaltung der Firma? Ist nicht gerade jenes Gerede über ein integriertes Europa eine Art Sieg der byzantinischen Rhetorik und irgendwelcher äußeren Rituale, die das Ende Europas ankündigen?

    Wenn wir von politischer Zukunft Europas und politischen Voraussetzungen ihrer Integration reden, können und dürfen wir nicht vergessen, daß Europa als ϖόλις oder eher μεγᾰϖόλις trotz einiger bedeutender Versuche in der Vergangenheit bisher nicht nur niemals existierte, sondern auch niemals auf eine solche Weise projiziert wurde. Bislang haben sich Macht- sowie Kulturexpansionen europäischen, gegebenenfalls pseudoeuropäischen Charakters an keine geographischen Grenzen gehalten, sondern es ging ihnen um die ganze Welt (selbstverständlich um die sog. „unsere Welt“, in die dann großzügig und paternalistisch auch diejenigen einbezogen werden sollten, die ihr ursprünglich nicht angehörten, d.h. jene nichtkultivierten βάρβαροι, welche noch nicht einmal richtig reden, sich verständlich ausdrücken können, also die noch keinen λόγος haben). Es ist bezeichnend, daß alle ersten drei großen Versuche, der makedonische, römische und germanische, von europäisierten Barbaren unternommen wurden, d.h. von denen, die von ursprünglichen „Europäern“ für Barbaren gehalten wurden. Und eben diese ursprünglichen Europäer blickten auf die Aktivitäten europäisierter Barbaren nicht nur mit Mißtrauen, sondern oft auch mit Verachtung, ja sogar mit Haß. Gerade deshalb hat sich bald gezeigt, daß es hier weder nur, noch in erster Reihe um bloße Eroberung oder um eine neue Machthegemonie ging.

    Europäische Geschichte bringt etwas zum Vorschein, was archaischen Menschen einfach aus Mangel an Perspektive entging, nämlich daß es einen Unterschied gibt zwischen einerseits Entstehung, Dauer und Untergang von Reichen, und Entstehung, Dauer und Untergang von Kulturen. Es gibt Kulturen, die in einer Symbiose mit bestimmten Reichen leben, nach deren Fall aber nicht überlebensfähig sind. Und es gibt Kulturen, die ursprünglicher sind als die Entstehung jedes beliebigen Reiches, oder die mit keinem großen Reich je zusammenleben konnten, zumindest nicht auf Dauer. Antike griechische Staaten und Ministaaten haben zusammen in verschiedenen gegenseitigen Beziehungen und manchmal in Zusammenarbeit eine große Kultur geschaffen, ohne die Europa gar nicht denkbar ist, aber kein einziges Reich gebildet, wenn sich auch eine deutliche Entwicklung von manchen bedeutenden Gravitationszentren nicht übersehen läßt. Die Makedonen wurden von der Mehrheit der Griechen für Barbaren gehalten und mußten sich daher ihre griechischen Vorfahren und ihre zugleich göttliche und hellenische Herkunft ausdenken. Die Kriege gegen die Perser wurden im Namen des gesamten Griechenlands geführt, und es ging in ihnen weder allein um Eroberung, noch um Beute, sondern vor allem um die Ausdehnung der (kulturellen) Welt, um die Verbreitung griechischer Denkweise und Kultur. Gerade deshalb nahmen an Alexanders Feldzügen zusammen mit den Kriegern auch damalige Wissenschaftler und Gelehrte teil, und neben der Zwangsaufsicht über die Verwaltung des Landes wurden an wichtigen Orten Modelle griechischer Lebensweise erbaut (wie es schon zur Zeit der älteren griechischen Kolonialisierung die Regel war, an die die Makedonen anknüpfen konnten). Europa war niemals mit einem Reich identisch, sondern es war eine bestimmte Kultur oder kulturelle Tradition (am besten vielleicht: eine ganze Reihe kultureller Traditionen). Daher gilt auch für die Zukunft, daß Europa als europäische Tradition (die Gesamtheit europäischer Traditionen) nicht durch bloße Werkzeuge, nur äußere Mittel begründet und erhalten werden konnte und kann. Gerade deshalb wird unsere Hauptfrage sein, ob die bisherigen europäischen Traditionen irgendeinen Hinweis in diese Richtung liefern.

    Der Gedanke der europäischen Integrität bedeutet die Betonung Europas als Einheit, als Ganzheit. Wir könnten fragen, ob Europa überhaupt je eine Ganzheit darstellte und worin seine Integrität bestand, wenn nicht in Eroberungen und Unterwerfungen (von denen es freilich sonst auch in der europäischen Geschichte sehr viele gab). Sollte jemand meinen, daß Europa niemals ein Ganzes war, genügt es nicht zu mutmaßen, was seine beabsichtigte und erwartete Integrität künftig begründen könnte; vielmehr muß man daraus klar den Schluß ziehen, daß es sich hier um kein Europa im älteren, ursprünglichen Sinne handeln wird, sondern um etwas anderes, was wir irrtümlicherweise oder vielleicht zwecks geplanter Verwirrung mit diesem Namen versehen werden. Es ist sicher überflüssig, Worte und Zeit durch die Feststellung zu verlieren, daß geographische Zusammengehörigkeit keine Einheit verbürgen kann. In der Geschichte formierte und verbreitete Europa sich schon gleich seit Anbeginn um das Mittelmeer herum, so daß dazu eigentlich auch Kleinasien (die ersten erwähnten Philosophen kommen nach Griechenland aus Kleinasien als Flüchtlinge vor den Persern, während die Makedonen die Situation zeitweilig umkehren) und Nordafrika gehörten, während der „europäische“ Norden erst viel später nach Europa gelangte, und zwar vor allem erst durch das Christentum.

    Gerade die geschichtliche Rolle des Christentums ist für Europa konstitutiv. Die griechische Philosophie scheint nach ihrem Höhepunkt in Platon und Aristoteles im Niedergang begriffen und vor allem unfähig zu sein, das erreichte Niveau des Denkens aufrechtzuerhalten. Einzelne Einfälle vermehren sich, aber die Anzahl großer Denker nimmt ab. Selbst ein so großer Denker wie Plotin gibt sich mit dem orientalischen Mythos und der Mystik ab, noch mehr dessen Anhänger. Die hellenistische Philosophie besitzt zu wenig Motivation zum erneuten Kampf gegen den Mythos und neigt zur Synkrisis, ja geradezu Verworrenheit; um so mehr, als sich die neuen Mythen in pseudophilosophische Fetzen kleiden. Einen triftigen und tatsächlich starken Grund für die Ablehnung des Mythos und den geistigen Kampf gegen ihn haben nur bestimmte Gruppen von Juden und Christen, später auch manche arabische Gelehrte, die vor allem bei den arabischen Eroberungszügen insbesondere in Nordafrika griechische philosophische und wissenschaftliche Schriften vorfinden. Wir können annehmen, daß es ohne gewisse jüdische, arabische und christliche Denker höchstwahrscheinlich nicht nur zu einem großen Niedergang der griechischen Philosophie und Wissenschaft, sondern zu ihrem tatsächlichen Ende gekommen wäre. Eine Weile nach dem Fall Roms sah es tatsächlich wie das Ende aus. Ihre Erneuerung war schwierig, dauerte ziemlich lange und wurde zum Teil auch durch arabische Vermittlung ermöglicht, und zwar nicht nur literarische, sondern eine Zeitlang auch politische (z.B. dank des ziemlich liberalen intellektuellen Milieus auf der Pyrenäenhalbinsel). Europäische Traditionen sind daher von jüdischer Überlieferung und arabischer Vermittlung der griechischen und hebräischen Antike untrennbar und ohne sie undenkbar. Es handelte sich jedoch nicht immer um positive Elemente, sondern manchmal verlief die geistige Entwicklung Europas auf ziemlich krummen und zuweilen niederträchtigen Wegen. An die müssen und sollen die Europäer in der Zukunft jedoch nicht anknüpfen. In der Geschichte sollte man frei an das beste aus der Vergangenheit anknüpfen und sich nicht von der Trägheit früherer Zeiten versklaven lassen.

    Ein solches Geschichtsbewußtsein, das alles geschichtliche Handeln und damit auch die Geschichte selbst bedingt, ist allerdings integraler Bestandteil der besten europäischen Traditionen. Die freie Wahl dessen, woran ich anknüpfen werde und woran nicht, was ich beleben möchte und was ich im Gegenteil absterben und in Vergessenheit geraten lasse, setzt eine gewisse neue Lebensorientierung voraus, die der Orientierung archaischer Menschen an gegebene Archetypen direkt entgegengesetzt ist. Eine solche freie Wahl unterscheidet bereits nicht nur zwischen dem, was wirklich und was bloß scheinbar ist, wozu das griechische Denken verleitet, sondern auch zwischen dem, was in die Zukunft führt und was uns in die Vergangenheit zurückreißt. Die Vergangenheit bekommt so eine neue, andersartige Bedeutung: Die Vergangenheit (genauer Urvergangenheit) hört auf, die „wahre“ (d.h. überzeitliche) Wirklichkeit zu sein, sondern wird als das begriffen, was nicht mehr ist (während im Mythos die Urvergangenheit das darstellt, was „ist“, d.h. was sich immer wieder als das „Seiende“ zeigen kann). Einer der bedeutendsten Hinweise des vorbegrifflichen (und somit vorphilosophischen) althebräischen Denkens besteht in der Erkenntnis, daß nicht das, was war und nicht mehr ist, sondern was kommt, viel wirklicher, da bedeutender ist, d.h. die (wahre, durch die Vergangenheit nicht entfremdete und nicht überwälzte) Zukunft. Dieser bis dahin und auch niemals danach überwundene Nachdruck der jüdischen Propheten auf das Neue, das, was kommt, die Zukunft, ist untrennbar verbunden zunächst mit Israel als dem Subjekt, an das diese Zukunft persönlich herankommt und dem sie sich öffnet, und später vor allem in der christlichen Reinterpretation mit jedem, wenn auch dem menschlich gesehen elendsten Einzelnen als dem Subjekt der gelobten Zukunft, der Zukunft als Herausforderung.

    Gerade im Christentum treffen sich zwei große Denk-, aber auch ganze Lebenstraditionen, nämlich die griechische und die jüdische, und zwar nicht nur, um aufeinander Einfluß auszuüben und auf ihrem Gegenüber Spuren dieses Einflusses zu hinterlassen, sondern sie geraten in ein Jahrhunderte und Jahrtausende dauerndes Gespräch, in dem nicht die äußere Macht und Stärke das Argument ist, sondern nur die innere Überzeugungskraft. Das ist ein Phänomen, zu dem wir bei gegenseitigem Begegnen und Beeinflussen anderer kulturellen Traditionen nichts Vergleichbares finden. Das Gespräch und die Begegnung im Gespräch trägt bis heute die griechische Bezeichnung: Dialog (διάλογος). Es handelt sich um eine griechische Erfindung, man könnte sagen eine Art Gegengift gegenüber dem einseitig zwingenden λόγῳ. Das Wesen der Einrichtung des Dialogs ist die Offenheit in der Überzeugung, daß es da, wo im Gespräch zwei oder mehr Menschen zusammentreffen, geschehen kann, daß sie von der „Wahrheit“ angesprochen werden, d.h. vom Gedanken, den zuvor keiner der Teilnehmer hatte (ansonsten ginge es um bloßes Überreden von seiten dessen, der mit dem Gedanken gekommen ist). Durch die Vermittlung insbesondere der christlichen Spitzendenker (und tatsächlich keiner anderen, außerchristlichen) kam es zu jenem weltgeschichtlichen ideellen und geistigen, Jahrtausende andauernden „Ereignis“ der Begegnung und des Zusammenstoßes der griechischen und der hebräischen Tradition im Gespräch, im Dialog, dessen Ergebnis etwas zu sein scheint, was sich von keiner von ihnen allein ableiten läßt. Dieses „Etwas“ ist das eigentliche Europa. Die politische, ökonomische, finanzielle und überhaupt irgendeine organisatorische Integration von Staaten und auf dem europäischen Subkontinent lebenden Völkern kann vielleicht dabei helfen (aber nur beihelfen), daß dieses noch nicht völlig verwirklichte Europa zur lebendigen (und somit nicht absterbenden, nicht endenden) Pluralität von Traditionen wird, die miteinander im Gespräch bleiben, wenn auch in einem scharf kritischen und kämpferischen; nichts stünde nämlich in größerem Widerspruch zu den besten europäischen Traditionen, als wenn dies in irgendeinem kulturellen und ideellen „Eintopf“ enden sollte, wo die Toleranz größeres Gewicht besäße als Wahrheit, Richtigkeit, Gerechtigkeit, Recht und so weiter und so fort.

    Sehr oft ist jedoch das Europäertum, wie wir es aus historischen Schilderungen kennen, von dieser Vision eines paneuropäischen (und in der Perspektive sowie in Wirklichkeit die gesamte Welt betreffenden) Dialogs äußerst entfernt. Daher bleibt nichts anderes übrig, als sich auf etwas zu stützen, was ich als „Sokratessche Vision“ bezeichnen würde, nicht deshalb, weil sie von Sokrates bereits klar formuliert worden wäre, sondern weil sie mit seinem sog. wissenden Nichtwissen sehr eng verknüpft ist. Eine ziemlich späte Legende schreibt jenen Gedanken sogar einem noch älteren Philosophen zu, nämlich Pythagoras, der auch, wie viele anderen, aus seinem Geburtsort Samos nach Hellas (Μεγάλη Ἑλλάς in Süditalien) geflüchtet ist. Dieser soll für sich die Bezeichnung Weiser, σοψός, abgelehnt haben, denn die Weisheit ist nur den Göttern vorbehalten. Uns Menschen bleibt nur die Sehnsucht nach der Weisheit und die Liebe zu ihr, also ψιλοσοψία vorbehalten. Bei Platon, der die Argumentation scheinbar wiederholt, ohne Pythagoras zu zitieren, wird dann ψιλοσοψεῖν mit ψιλἀληθεῖν gleichgestellt. Wir könnten somit sagen, daß zum wahren Europäertum die Sehnsucht nach Wahrheit und die Liebe zu ihr gehören, aber gleichzeitig auch das Bewußtsein, daß der Mensch diese Wahrheit nicht besitzt und in seinem Besitz nicht haben kann, sondern daß er nach ihr immer wieder streben muß, und zwar im Gespräch, im Dialog mit denjenigen, die sie anders angehen, indem sie andere Wege einschlagen, aber mit der gleichen Sehnsucht und Liebe zur Wahrheit. Europa hat nur eine Zukunft als Gemeinschaft derer, die miteinander reden, die im Gespräch, im Dialog bleiben und die inmitten des Gesprächs miteinander das Licht der Wahrheit erwarten, welche das erleuchtet, was gerade der richtige Schritt, die richtige Tat in den gegebenen Umständen ist. Ansonsten wird das, was wir politisch integrieren wollen, nur „Europa“ heißen, aber mit wirklichem Europäertum nur wenig zu tun haben.


    1Der Text mit dem Titel Europäische Integrität als Dialog war ein Vortrag auf dem Symposium Identität, Integrität und Integration im September 1996 in Prag; erschienen auch in: Křesťanská revue 64, 1997, Nr. 1, S. 5-8.