Europäer sein
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  • Budoucnost Evropy a my

  • Europäer sein1


    Irgendwo in Europa geboren zu werden und zu leben, genügt überhaupt nicht, wenn jemand ein Europäer werden soll. Als Europäer wird man nämlich nicht geboren, sondern man muß es zu sein lernen; und noch genauer: Man muß lernen, es immer wieder zu werden. Denn ein Europäer zu sein, ist kein Endziel, nach dessen Erreichen man haltmachen und stehen bleiben kann. Wir alle sind nur teilweise Europäer, jemand mehr, jemand weniger (so wie jemand gebildeter und ein anderer weniger gebildet, jemand fleißiger und ein anderer weniger fleißig ist u. ä.). Daher war Slogan aus der Zeit nach November 1989, daß wir „nach Europa zurückkehren“ äußert irreführend (übrigens wäre damals die Frage naheliegend gewesen, ob sich unsere westlichen Mit-Europäer immer „europäisch“ genug verhalten hätten, z.B. in der Zeit um München). Es ist nicht möglich, in Europa wie irgendwo an einem Ort zu „sein“ (sei es als Tourist oder Gast); ein Europäer zu sein bedeutet vor allem auf eine bestimmte Art zu leben und zu denken – und sich insbesondere auf eine Weise an das anzulehnen, was bereits vor uns längst oder unlängst Europäer gelebt und gedacht haben. Dadurch, wie wir leben und denken, werden wir entweder immer mehr zu Europäern – oder wir hören ebenfalls auf, sie zu sein (wir können sogar aufhören, Europäer zu sein, indem wir nur unkritisch manche ältere Europäer nachahmen). Europa ist kein geographisch abgegrenztes Gebiet, sondern es ist dort, wo Europäer so leben und denken, daß sie sich in ihrem kritischen und kritisierenden Europäertum bestärken und verbessern. Wenn die Anzahl solcher aktiven Europäer zunehmen wird, ist die Zukunft Europas gut; wenn sie abnehmen wird und wenn „ehemalige“ Europäer aufhören, über ihr Europäertum zu wachen und es zu pflegen, wird es das Ende von Europa und dem Europäertum bedeuten. Gerade deshalb, weil es nicht nur um Europa im geographischen Sinne geht, können Europäer aus Europa wegziehen und dabei ihr Europäertum mehr oder weniger aufrechterhalten und weiterentwickeln (heute leben viele Europäer auch auf anderen Kontinenten – und Europa und das Europäertum wird in ihnen fortgesetzt, was den Europäern in „Europa“ schon mehrmals nützlich war); und umgekehrt können sich wiederum Menschen verschiedener Herkunft vom ganzen Planeten in „Europa“ und das Europäertum im kulturellen Sinne hineinleben und hineindenken, in manchen Fällen brauchen sie nicht einmal den Boden eines europäischen Landes zu betreten – und können dennoch im kulturellen, ideellen und geistigen Sinne „Europäer“ werden; es gibt eine ganze lange Reihe historischer wie zeitgenössischer Beispiele dafür. Wir selbst haben doch erst frühestens irgendwann im letzten Viertel des ersten Jahrtausends begonnen, Europäer zu werden! Europa selbst hat übrigens erst in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts v. Chr. begonnen, Europa zu werden.

    Europa wurde zu Europa dank einer ganzen Reihe bemerkenswerter sozialer, moralischer, politischer und „technischer“ Erfindungen und dank einer Serie unzähliger schwieriger und nicht immer erfolgreicher Versuche, sie ins Zusammenspiel zu bringen. Daher bedeutet, Europäer zu werden und es aktiv zu sein, immer einerseits die europäische Geschichte zu kennen, andererseits so gut wie möglich zu erkennen, woran man sich halten und anknüpfen soll sowie was man vermeiden und zum zweiten Mal (oder einfach künftig) möglichst nicht zulassen darf. Eine richtige Orientierung in der Vergangenheit ist nicht einfach und kann nicht selten auf Abwege führen. Nicht jede Tradition ist so gut, daß wir sie fortsetzen können und dürfen. Auf die Traditionen muß man selektiv zugehen, manche pflegen und andere verlassen. Darin können sich Menschen oft nicht einigen. Es ist eine Sache der Gespräche und der Diskussion, und die Voraussetzung dafür bilden gute Kenntnisse und vernünftige Gründe, insbesondere dann die Bereitschaft zum Gespräch, zum Dialog. In der Zukunft werden wir uns alle viel mehr mit der Geschichte Europas und des Europäertums (und das bedeutet auch der anderen Europäer) befassen und die Geschichte des eigenen Landes, des eigenen Volkes, der eigenen Traditionen mehr im Kontext dieser europäischen Geschichte begreifen müssen. Und ähnlich muß es auch mit unseren Aussichten auf die Zukunft sein; gerade hier werden wir lernen müssen, mehr europäisch als tschechisch zu leben und zu arbeiten. Das bedeutet jedoch überhaupt nicht, daß wir unsere einheimischen Traditionen vergessen sollen – ganz im Gegenteil: Wir müssen uns ihrer entsinnen und gewissenhaft beurteilen, welche von ihnen nützlich und wertvoll für alle Europäer und für Europa sein können. Genau das wird deutlich etwas darüber aussagen, ob wir unser Europäertum als etwas Äußeres und Zufälliges sowie vielleicht auch irgendwie Ausnutzbares hinnehmen, oder als etwas, an dem wir auch bei uns arbeiten müssen – also ob wir unser Europäertum als unser persönliches Programm und unsere Verpflichtung verstehen.

    Nach vielen großen (und gewiß auch zahlreichen kleinen) Geistern gerät Europa seit dem Beginn der „Modernität“ stets in kleinere und größere Krisen; das kann nur schwerlich jemand leugnen wollen. Es ist freilich möglich, dies nicht sehen zu wollen; aus der Sicht guter europäischer Traditionen ist es allerdings sehr unwürdig, zu verfallen und zu sinken, ohne davon etwas zu ahnen, geschweige denn zu wissen. Viele weisen darauf hin, daß die Bedeutung Europas abnimmt, daß alles darauf hindeutet, daß die Welt andere Wege gehen wird, daß wir einfach in einer „posteuropäischen Zeit“ leben. So wie im Altertum der Mittelmeerraum die ganze Welt zu sein schien, sich dies aber als Irrtum erwiesen hat, zeigt sich, daß die Welt nicht nur Europa ist, ja daß sie von Europa und der europäischen Dominanz genug hat und anders nach ihrer Art, also nichteuropäisch, weiterleben will. Leider akzeptieren viele „Europäer“ diese Sichtweise, nehmen die moderne kulturelle Pluralität als eine „natürliche“ Verschiedenheit, wenn nicht Unvereinbarkeit hin und tendieren im Endergebnis zu einer Art Nivellierung, die alles relativiert und zu bewerten ablehnt. Wenn diese Sichtweise zu überwiegen beginnt, bedeutet es tatsächlich das Ende von Europa und dem Europäertum, weil es dem Absterben der tiefsten Wurzel alles Europäertums gleichkommt, die vollständige Zersetzung der Grundlage, ohne die Europa wirklich aufhört, es selbst zu sein. Diese Grundlage Europas und des Europäertums ist die immer wiederkehrende Frage danach, was in der gegebenen Situation „das Wahre“ sei, was tatsächlich wahr, tatsächlich gerecht, tatsächlich das ist, was „sein soll“ und was „werden soll“ und worüber nicht nur der Wille der Mehrheit entscheiden und sie allen oktroyieren kann.

    Gerade in dieser Angelegenheit verfügen wir Tschechen über einen großen geistigen Schatz in unserer Vergangenheit; und mit diesem Schatz könnten wir dazu beitragen, daß sich auch andere Europäer nach ihrer eigenen Vergangenheit umsehen können, ob sie nicht auch etwas Ähnliches besitzen. Aber mit etwas Derartigem als Anlage und Investition zur europäischen Zukunft beizutragen, wird nur dann möglich sein, wenn gerade wir selbst uns bewußt werden, was für ein wertvoller Schatz das ist. Warum sollte sich jemand für uns interessieren, wenn wir selbst ihn nicht hoch genug schätzen?

    1Der Text mit dem Titel Die Zukunft Europas und wir wurde in Písek am 24. 9. 2008 für den Sammelband Europäer über Europa geschrieben.