- in: Ladislav Hejdánek, Wahrheit und Widerstand. Prager Briefe, transl. Milan Walter – Eva Bauer, München: P. Kirchheim, 1988, p. 11–15
Die Anfänge der Charta ’77
Sehr geehrter und lieber Freund,
ich kann Deine Fassungslosigkeit darüber, daß ich es abgelehnt hatte, Deine Unterschrift anzunehmen und weiterzuleiten, sehr gut verstehen; ebensogut verstehe ich Deinen Ärger über die Art und Weise, in der die Zeitungen, der Rundfunk und das Fernsehen und sogar einige politische Repräsentanten wegen der ganzen Sache möglichst viel Staub und Schmutz aufzuwirbeln versuchen. Aber überlege selbst, welchen Sinn Deine aktive Beteiligung hätte; Du würdest sofort von der Schule entlassen, in die Du nach dreijähriger Wartezeit endlich aufgenommen wurdest. Die Gesellschaft braucht jedoch gebildete, gelehrte und erfahrene Fachleute – und nicht Leute, welche zwar einmal mutig waren, aber ansonsten nichts anderes können. Es liegt kein Versagen darin, daß Deine Unterschrift nicht unter dem zu finden ist, was Du für die Wahrheit hältst. Ich neige dazu, die Vorsicht nicht als ein Versagen aufzufassen, auch nicht bei Erwachsenen. Ein Versagen beginnt erst dort, wo Du eine Unterschrift unter eine Lüge setzt, oder – was im Grunde das Gleiche ist – wenn Du für Deine Entscheidung andere und bessere Gründe Dir auszudenken beginnst als solche, die tatsächlich Deine eigenen waren, und wenn Du anfängst, Entscheidungen anderer zu bagatellisieren, die lieber das Risiko des augenblicklichen Konflikts gewählt haben. Im übrigen ist nicht aller Tage Abend. Du wirst noch etliche Wochen und Monate Gelegenheit haben, auch ein solches Risiko auf Dich zu nehmen. Ich schlage jedoch einen Aufschub vor: Bis dahin könnten wir versuchen, einige schwerwiegende Fragen allgemeiner Art zu behandeln. Gehen wir z.B. von Deinem scheinbar so nebenbei geschriebenen Satz aus: „Ich verstehe zwar nicht ganz, warum es zu einem solchen Protest erst jetzt kommt, …“ Alles hat nämlich seine eigene Zeit, seinen „Kairos“, eine Frist, einen Termin; es ist jedoch nicht einfach, diese Zeit zu erkennen. Einmal gelingt es, ein andermal nicht. Diesmal ist es, so denke ich, gelungen; ich möchte die Gründe erklären, die mich zu einer solchen Beurteilung veranlassen. Große Bedeutung für uns alle hatten die Gerichtsprozesse um die Musikergruppen „Plastik People of the Universe“ und „DG 307“ (sowie die vorangegangenen Prozesse in Pilsen). Hierbei hat sich nämlich etwas Neues gezeigt. Zum ersten Mal seit 1969 ist ein Kreis protestierender und Widerstand leistender Menschen entstanden, bereit, sich mit den vor Gericht Stehenden solidarisch zu erklären. (Im Jahre 1971/72 protestierten nur Gruppen oder einzelne Personen im Ausland.) Gemeinsam mit den internationalen Protesten ist es diesen Leuten zum ersten Mal gelungen, reale Ergebnisse zu erzielen: die Herabsetzung des Strafmaßes in Pilsen beim Berufungsverfahren, die Abänderung der Anklageschrift in Prag, eine Verminderung der Zahl der Angeklagten (zumindest für das erste Verfahren), für die Hauptangeklagten in Prag ein niedrigeres Strafmaß als in Pilsen, wo nur die Organisatoren vor Gericht standen, usw. So hat sich gezeigt, daß nach einer langen Zeit die politische Situation wieder etwas deutlicher wurde. Auf der anderen Seite mußte dies notwendigerweise ein neues Licht auf Helsinki und das Folgetreffen in Belgrad werfen.
Nachdem die Texte der Vereinbarungen von Helsinki publiziert worden waren, hatte das gewisse Hoffnungen geweckt. Diese flauten jedoch bald ab, als sich zeigte, daß sie für das innenpolitische Leben im Lande nichts brachten. Das Hauptgewicht der Vereinbarungen sollte offenbar in internationalen Beziehungen zur Geltung kommen. Und hier hatten diese Vereinbarungen ihren Sinn, wenn nicht sogar den einzigen Sinn: nämlich die Bestätigung des Status quo, die Anerkennung der Grenzen der eigenen Einflußsphäre und der eigenen Interessen. Aber im Jahre 1975 kam es zu einem unauffälligen, aber um so gewichtigeren Akt, nämlich zur Ratifizierung von zwei bedeutsamen internationalen Abkommen durch die Föderative Versammlung und den Präsidenten. Diese Abkommen traten Ende März in Kraft, wurden aber erst Mitte Oktober des vergangenen Jahres (d.h. 1976) im Gesetzesblatt publiziert, alles in tiefster Stille. Trotzdem ergab sich dadurch die erste Aufgabe: Alle Bürger müssen sich dessen bewußt sein, allen muß bewußt werden, was die Ratifizierung dieser Vereinbarungen bedeutet, die die Tschechoslowakei bereits im Jahre 1968 unterzeichnete, nämlich, daß sie dadurch zum Bestandteil unserer Rechtsordnung wurden, daß das jetzt unsere Gesetze sind, durch welche in Zukunft alle unsere bisherigen Gesetze notwendigerweise neu interpretiert werden müssen: Falls einige ältere Formulierungen zu dem neuen Gesetz in Widerspruch stehen sollten, müssen sie entweder annulliert oder abgeändert werden. Es war notwendig, etwas zu unternehmen, was allgemeines Interesse bei möglichst vielen Bürgern erwecken würde, Interesse für das internationale Abkommen, für die Allgemeine Deklaration, für die Menschenrechte und für die bürgerlichen Freiheiten überhaupt und ein Interesse dafür, daß jetzt ein Gesetzesweg zu einer Bürgerinitiative eröffnet ist, die gemeinsam mit der Föderativen Versammlung und dem Präsidenten unserer Republik den Akt praktisch unterstützt, die helfen könnte, im alltäglichen bürgerlichen Leben die Vereinbarungen in die Tat umzusetzen.
Zugleich mußte sich jeder Bürger, der von der Ratifizierung etwas erfahren hatte und der die heute schon berühmte Bekanntmachung Nr. 120 aus dem Gesetzesblatt, Teil 23, vom 13. Oktober 1976 gründlich studiert hatte (falls er beide Vereinbarungen nicht bereits von früher kannte), noch die weitere Frage stellen, wie es möglich war, daß solche neuen Gesetze zum Bestandteil unserer Rechtsordnung werden konnten, die in einem offensichtlichen Widerspruch zu unserer staatlichen Praxis, d.h. der politischen, gerichtlichen und der anderer Amtsorgane stehen. Auf eine solche Frage sind zwei Antworten möglich. Entweder ist das der Beginn eines Kampfes um eine neue Politik, oder es ist nur ein weiteres Verschleierungsmanöver und eine Komödie vor der Belgrader Folgekonferenz. Zu entscheiden, von welcher Antwort die Bürger künftig auszugehen hätten, war allerdings sehr schwer, auch wenn die Stimmung der Mehrheit der Bürger zu der zweiten Antwort neigte. Und so war es notwendig, auch aus diesen Gründen etwas zu unternehmen, was in Übereinstimmung mit den beiden Vereinbarungen und deren eigentlichem Sinn stand, damit klar wurde, wie die Dinge wirklich stehen. Kurz, es war einfach unerläßlich, sich um eine Klärung zu bemühen, die ans Licht bringen sollte, was bislang verdeckt geblieben war, und worüber man nur ungesichert mutmaßen konnte – und das sowohl auf der Seite derer, die auf die Durchsetzung der Vereinbarungen hofften, wie auch auf der Seite derer, die sich vor einer solchen Durchsetzung nur noch fürchten konnten.
Natürlich gab es noch einen dritten Grund: das Herannahen der Belgrader Folgekonferenz, auf der die Einhaltung der Vereinbarungen von Helsinki kontrolliert und bewertet werden sollte. Außerdem hat sich unser Staat zugleich mit der Ratifizierung verpflichtet, über die angenommenen Regelungen und den erlangten Fortschritt bei der Einhaltung der Menschenrechte, die durch die beiden Vereinbarungen akzeptiert wurden, zu berichten. Das bedeutet, daß die Repräsentanten unseres Staates sowohl in Belgrad als auch in gewissen Zeitabständen dem Generalsekretär der UNO berichten werden. Den Bürgern kann es natürlich nicht gleichgültig sein, ob diese Berichte wahr oder falsch sein werden. Sicherlich steht an erster Stelle die Aufgabe, den Vereinbarungen über die bürgerlichen und politischen wie auch den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten in unserem Staat, in unserer Gesellschaft Geltung zu verschaffen. Aber wir dürfen die Meinung der Weltöffentlichkeit nicht unterschätzen. Im Gegenteil, wir müssen alles dafür tun, daß sie die Durchsetzung der Menschenrechte auch in unserem Lande mit ihrer Sympathie und ihrer Hilfe unterstützen kann. Eine wirkliche, dauerhafte und wahrhafte Unterstützung ist natürlich nur dort möglich, wo sich alles in der wahren Gestalt und im vollen Licht zeigt. Die Stimme der Weltöffentlichkeit muß notwendigerweise schwankend und leiser werden, wenn sie von unrichtigen Informationen und falscher Beurteilung der Ereignisse oder dem falschen Stand der Dinge ausgeht. Auf die Wahrheit berufen sich traditionell gerade die Schwachen. Die Wahrheit in den Händen der Gewalttäter und solcher, die die Macht haben, hört bald auf, eine Wahrheit zu sein und verwandelt sich in Halbwahrheiten und Lügen. Weil die Verfechter der Menschenrechte bei uns die Schwächeren sind, dürfen sie niemals eine Gelegenheit auslassen, durch die Wirklichkeit die Wahrheit zu beleuchten und die Wahrheit und die zutreffenden Informationen mit allen Mitteln und auf allen Wegen zu verbreiten – also auch über die Kreise der ausländischen Verfechter der Menschenrechte und besonders durch die ausländischen Medien, wenn ihnen der Zugang zu den einheimischen (im Widerspruch zu unseren Gesetzen) verweigert wird.
So also wurde der Gedanke der Charta ’77 geboren, die von Anfang an durch Unterschriften von Menschen mit unterschiedlichsten Anschauungen und Überzeugungen unterstützt wurde, welche sich jedoch in einer grundsätzlichen Angelegenheit einig waren: nämlich darin, daß die fundamentalen Menschenrechte auch bei uns respektiert werden müssen, und auch darin, daß mit der Willkür und dem Eigensinn, mit der Ungesetzlichkeit und der Ungerechtigkeit, die sich bei uns gefährlich eingenistet haben, einmal ein Ende gemacht werden muß. Deshalb konnte es geschehen, daß Kommunisten und Marxisten ihre Unterstützung für den Kampf um die Religionsfreiheit zugesagt haben – und umgekehrt haben die Christen ihre Unterstützung für diskriminierte und öffentlich erniedrigte Kommunisten und Marxisten zugesagt. Deshalb konnte es auch geschehen, daß selbst diejenigen gegen die Diskriminierung bei der Aufnahme der Kinder auf die Mittel- und Hochschulen protestierten, deren Söhne und Töchter studieren dürfen oder das Studium bereits absolviert haben; Menschen, die ohne Schwierigkeiten in ihren Berufen arbeiten können, haben dagegen protestiert, daß andere in den ihren nicht arbeiten durften. Das ist selbstverständliches demokratisches Verhalten: Auch wenn ich mit jemandem nicht einverstanden bin, respektiere und unterstütze ich sein Recht auf freie Meinungsäußerung und Publikation (sofern er natürlich das gleiche Recht der anderen respektiert); auch wenn ich zu vielem eine abweichende oder geradezu entgegengesetzte Meinung habe, bin ich mit meinem intellektuellen Widersacher und Gegner solidarisch, wenn er verleumdet, lügnerisch angegriffen und diffamiert wird, insbesondere dann, wenn er sich nicht selbst verteidigen kann.
Die Charta ’77 ist deshalb keine politische Plattform von Menschen mit gleicher Zielsetzung, sondern der Ausdruck ihrer grundsätzlichen Solidarität mit den fundamentalen und unveräußerbaren Rechten, die niemandem willkürlich vorenthalten werden dürfen; sie ist auch der Ausdruck des elementaren bürgerlichen, politischen Anstandes der Menschen, die sich ihren Platz in der Gesellschaft nicht mit Ellbogen, mit Schlägen unter die Gürtellinie freiboxen wollen, die aber auch nicht bereit sind, ungerechte Handlungen und ungesetzliche Verfahren zu dulden, egal ob diese sich gegen sie selbst oder gegen irgendein anderes Mitglied unserer Gesellschaft richten.
Die offiziell verbreiteten, angeblich spontanen, in Wirklichkeit jedoch auf durchsichtige Art und Weise organisierten „spontanen Meinungsäußerungen“ bringen schon sehr deutlich die moralischen (oder besser die unmoralischen) Grundsätze der sogenannten Kritiker der Charta ’77 zum Ausdruck. Und so wurde auch die Unterzeichnung des Textes durch Hanzelka, der u.a. darauf hingewiesen hatte, daß unzähligen jungen Leuten aufgrund ihrer Ansichten oder sogar wegen der politischen Meinung ihrer Eltern das Recht auf Ausbildung verweigert wird, in einer Fernsehsendung vor Hunderttausenden von Fernsehzuschauern empört wiederholt als „Frechheit“ bezeichnet, weil doch sein eigener Sohn studieren könne. So verbreitet unser Fernsehen den Grundsatz: Wenn Deine eigenen Kinder studieren können, nimm keine Rücksicht darauf, daß die Kinder von anderen nicht studieren können! Diese merkwürdige „Moral“ entspricht offensichtlich gänzlich der eines Universitätsprofessors für Anatomie, der in der Verurteilungsaktion gegen die Charta ’77 sich nicht schämte zu behaupten, daß ihm selbst niemals die Forschungsfreiheit bestritten worden sei, niemals Auslandsreisen verweigert worden seien, und der so tat, als ob er von den Zehntausenden nichts wüßte, denen diese Freiheit bestritten wird. Aber über eine solche „Moral“ werden wir uns vielleicht ein andermal unterhalten. Es wird im übrigen sehr lehrreich sein, die ganze hysterische Kampagne gegen die Charta ’77 und die „Chartisten“ im Detail zu durchleuchten. Heute wollte ich nur auf die Hauptmotive des Auftretens der Charta ’77 hinweisen – allerdings so, wie ich sie sehe. Bis dahin sei gegrüßt und ermutigt zum weiteren Nachdenken.
Dein
Ladislav Hejdánek
Prag, den 10.2.1977