- in: Ladislav Hejdánek, Wahrheit und Widerstand. Prager Briefe, transl. Milan Walter – Eva Bauer, München: P. Kirchheim, 1988, p. 21–28
Die Stellung der Kirche zur Charta ’77
Lieber Freund,
Du hast von der Synodalversammlung der Vertreter der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder, d.h. meiner Kirche gehört. Diese außerordentliche Versammlung ist wirklich nur deshalb einberufen worden, um auf den Text zu antworten, den 31 Kirchenmitglieder der Föderativen Versammlung zugeschickt und in dem sie ziemlich detailliert die „Stellung der Kirche und der Gläubigen“ in unserem Staat dargelegt und dokumentiert haben. Zwar hätte der Synodalrat gewiß auch ohne eine solche Vertreterversammlung reagieren können, aber das war nicht seine Absicht, wie dies auch aus dem ganzen Verhandlungsverlauf und aus den veröffentlichten Dokumenten hervorgeht. Weder ist irgendwo die Spur einer Bemühung um sachlichen Zugang zu sehen noch der Versuch einer sachlichen Argumentation. Das Dokument über die „Stellung der Kirche und der Gläubigen“ ist in Wirklichkeit jeder Bemerkung an die Adresse der Kirchenleitung ausgewichen, weshalb auch der Synodalrat in der Ausführung keinen Angriff auf sich selbst hätte sehen müssen; dennoch legte er der Synodalversammlung einen Brief an die Föderative Versammlung zur Annahme vor, in dem „die Darlegung der Grupe der '31' vom 7. Mai 197 in ihre Grenzen verwiesen wurde“ und in dem es heißt, daß „nur der Synodalrat die Kirche vertreten und ihre Interessen und ihr Recht wahren darf“. Als Begründung wird aufgeführt, daß „die Eingriffe einiger Brüder in die Kompetenzen und in die Verpflichtungen des Synodalrates schon einige Jahre andauern und untragbar geworden sind“. Der Synodalrat hat sich also gemeldet, obwohl die Darlegung nicht an ihn adressiert war, reagierte jedoch nicht sachlich, sondern hat die ganze Angelegenheit auf die Ebene eines Kompetenzstreites geschoben. In seinen Augen ist das ein „Ausdruck der Disziplinlosigkeit“, eine „eigensinnige Aktion“, eine „anmaßende Aufforderung“. Über den Inhalt der Darlegung finden wir in dem Bericht an die Gemeinden der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder jedoch kein Wort. Die Anmaßung liegt darin, daß die 31 Kirchenmitglieder sich direkt an die Föderative Versammlung gewandt haben, statt erst eine Einwilligung der Kirchenleitung einzuholen (die sie natürlich nicht bekommen hätten), oder noch besser, stattdessen weiterhin „den Kampf“ um die Existenz der Kirche dem Synodalrat selbst zu überlassen. Die Kirche kann jedoch nach Überzeugung des Synodalrates nicht ohne die notwendige Disziplin leben, „die jeder, der Kirchenmitglied bleiben will, wahren muß“. Deshalb hat die Synodalvertretung auf Empfehlung des Synodalrates die neue Disziplinarordnung (die bereits vor Jahren durch die synodale Vereinbarung aufgehoben worden war jetzt wurde sie „verbessert“) angenommen und zugleich einige Disziplinarausschüsse ernannt, „denen die Disziplinarverstöße zur Beurteilung übergeben werden sollen“. Und weil dies das einzige war, was der Synodalrat nicht allein machen konnte, ohne die Zustimmung der Synodalversammlung einzuholen, ist es sonnenklar, daß die außerordentliche Versammlung gerade deswegen einberufen wurde, um die Richtlinien zu verabschieden, mit deren Hilfe all diejenigen disziplinarisch belangt werden könnten, die eine solch schwere Schuld auf sich geladen haben. Unter ihnen steht dann an erster Stelle Ing. Dr. J. S. Trojan, ehemaliger Pfarrer der Gemeinde von Libiš, seit einigen Jahren Pfarrer ohne staatliche Zustimmung, die ihm ohne jedwede Angabe von Gründen entzogen wurde, obwohl der Akt der Entziehung der staatlichen Zustimmung sich auf kein Gesetz berufen kann (deshalb wurde in diesem Fall eine andere Formulierung gewählt). Das ändert jedoch nichts an der Sache selbst, er wird in dem Berichtstext direkt als „einer der Hauptakteure der ganzen Aktion“ denunziert.
Ob unter Druck oder spontan, der Synodalrat tat, was er tat. Eine besondere Initiative entwickelte der Synodalkurator. Er hat angeblich selbst den Text der neuen Disziplinarordnung vorbereitet. Obwohl ausgebildeter Jurist (der jedoch niemals in seinem Fachgebiet gearbeitet hat), sorgte er dafür, daß sich die neue Disziplinarordnung auch auf die Fälle der Vergangenheit bezog. In seiner Anpassungsbereitschaft war er (mit ihm freilich auch die übrigen Mitglieder des Synodalrates und ein großer Teil der Synodalvertretung) willig, einen uralten juristischen Grundsatz zu verleugnen, daß es vor der Bekanntgabe des Gesetzes kein Vergehen geben kann (nullum crimen ante legem). Es gab eine Zeit, da brachte ich ihm Achtung entgegen. Heute ist das jedoch vorüber.
Ich habe auch den Synodalsenior geachtet. Sein resolutes Auftreten, seine väterlichen Manieren und seine äußerliche Würde versprachen zunächst einen willkommenen personellen Wechsel des höchsten Kirchenrepräsentanten. Bis heute bin ich davon überzeugt, daß bei günstigerer Zusammensetzung der übrigen Mitglieder des Synodalrates sein Bild in der Geschichte unserer Kirche wesentlich besser hätte ausfallen können. Noch vor sieben, acht Jahren war ich auf meine Kirche stolz. Im tiefsten Herzen habe ich mich törichterweise gefreut, daß sie besser sei als die anderen. Heute sehe ich, wie sehr ich mich geirrt habe, und bin froh, daß ich es sehe. Erst in den letzten schweren Jahren habe ich erkannt, daß ich genauso wie der bekannte Pharisäer geneigt war, Gott dafür zu danken, daß meine Kirche und ihre Repräsentanten nicht wie die anderen Kirchen und deren Repräsentanten sind. Heute bin ich geheilt – und zwar gründlich. Heute sehe ich die wirklichen „Qualitäten“ meiner Kirche; ich sehe auch, daß meine Kirche den Synodalrat hat, den sie verdient. Die bürgerliche und moralische – wenn nicht gar die geistige – Wiedergeburt und Wiedergutmachung warten noch auf uns. Ihre Voraussetzung ist die Buße, die gänzliche Umkehr des Denkens und des Lebens. Erst heute begreife ich vollständig Hromádkas längst vergangene Worte, als er sagte, daß wir eine bourgeoise Kirche sind. Das Kleinbürgertum feiert erst heute in der Kirche seinen eigenen großen Sieg. Und wenn es vor 50 Jahren, zur Zeit von Hromádkas Kampf nötig gewesen war, dagegen vorzugehen, so ist es heute zehnmal mehr vonnöten. Ich habe den Synodalsenior ziemlich verehrt. Heute bin ich mir auch recht sicher, daß er am Anfang große Vorsätze hatte. Aber er hat es nicht geschafft, dem Druck des Kleinbürgertums in der Kirche zu widerstehen; er schaffte es nicht, sich auf seine eigenen Füße zu stellen. In seinem Fall ging es jedoch in erster Linie nicht um Charakterschwäche oder Charakterfehler, sondern – so scheint es mir – um eine mangelhafte theologische Verankerung und um theologische Oberflächlichkeit. Was können wir aber von einem Synodalsenior verlangen, wenn wir uns die Professionellen, die Lehrer der Theologie, anschauen?
Der Synodalsenior kann sich dagegen wehren, daß man mit ihm unwürdig umspringt. Aber es muß auf den ersten Blick sichtbar sein. Wenn es jedoch geschickt und vorsichtig gemacht wird, dann wird er es gar nicht merken. Und so hat er auch überhaupt nicht mitbekommen, daß sie ihn eigentlich in eine Kasperrolle hineinmanövriert haben. Im Erklärungstext schreibt man über die 31 Bösewichter, daß „sie in ihrer Unzugänglichkeit dringenden Argumenten, Bitten und Geboten des Synodalsenioren, des Hirten der Kirche, nicht gefolgt seien“. Auf diese Weise schmieren sie ihm Honig um den Mund, so daß er alles glaubt und tatsächlich von sich selbst meint, daß er der „Hirte der Hirten“ sei. Man sollte meinen, daß dies nicht wahr sein darf, daß so etwas vier Jahrhunderte nach der Weltreformation und sechs Jahrhunderte nach Hus' Reformation in der tschechischen Kirche gar nicht möglich sein kann. Aber es ist die Wahrheit. Die Formulierung „semper reformanda“ werden wir wieder einmal tödlich ernst nehmen müssen. Unsere Brüder aus dem Synodalrat haben sich plötzlich einen herrschaftlichen Umgang mit der Kirche, mit den Gemeinden und den einzelnen Mitgliedern zugelegt. Wer nicht blind ist, den muß das episkopale Syndrom stutzig machen, das leider nur innerkirchlich nachweisbar ist, während sich die Mitglieder des Synodalrates nach außen eher wie „servi servorum“ benehmen (mit einer rühmlichen Ausnahme), insbesondere in ihrem Verhältnis zu den staatlichen Ämtern. Der „Hirte der Hirten“ beruft nicht nur die außerordentliche Versammlung der Synodalvertreter nicht ein, wenn die Staatsverwaltung ohne irgendeine Begründung einem Prediger nach dem anderen die staatliche Erlaubnis entzieht, sondern verhindert sogar eine diesbezügliche Diskussion auf einer ordentlich einberufenen Synode. Der „Hirte der Hirten“ verläßt nicht einmal seine Hirtenschar, um die in Schwierigkeiten und in Unglück geratenen Brüder aufzusuchen, sondern behauptet, daß sie sich das selbst eingebrockt hätten (und daß man hier nichts machen könne). Ja, er denunziert sogar gemeinsam mit anderen namentlich Dr. Trojan als „einen der Hauptakteure der ganzen Aktion“. Wann hat sich dieser „Hirte der Kirche“ öffentlich für die Lehrer eingesetzt, die nicht unterrichten dürfen, weil sie Christen sind und zugleich Kirchgänger? Wann hat sich dieser „Hirte der Kirche“ schon öffentlich für die Kinder eingesetzt, die von klein auf einem ihrem Alter unangemessenen Druck seitens der Schule ausgesetzt sind, nur damit die Anmeldezahlen zum Religionsunterricht möglichst niedrig bleiben? Wann hat er seine Unterstützung den jungen Leuten gewährt, die trotz ihrer außerordentlichen Begabung nicht studieren können und dürfen, weil bekannt ist, daß sie sich zu Christus bekennen? Was hat dieser „Hirte der Kirche“ öffentlich dafür getan, daß sich auf der regionalen und ganzkirchlichen Ebene auch Kinder unter 18 Jahren versammeln dürfen, und daß christliche Arbeitskreise weiterhin nützlich sein können? Was hat dieser „Hirte der Kirche“ dafür getan, um erneut die ökumenischen Kontakte zwischen den Gemeinden zu ermöglichen? Und dafür, daß die Arbeit des ökumenischen Seminars wieder beginnen kann, die vor Jahren auf den verordneten Wunsch der Staatsverwaltung eingestellt wurde? Was hat dieser „Hirte der Kirche“ dafür getan, daß sich in der Kirche überhaupt wieder Fachleute betätigen können, die woanders Berufsverbot bekamen? Wo und bei welchen weiteren Gelegenheiten hat er also „seine ganze Autorität in die Waagschale geworfen“, als es um die ihm anvertrauten „Unterhirten“ und Schäfchen ging? Angesichts all dieser verheerenden Erscheinungen zu schweigen und sich nicht verpflichtet zu fühlen zurückzutreten, nicht einmal in einer solch zugespitzten Situation, als er hart bedrängt wurde, persönlich und für den Synodalrat insgesamt z.B. die Charta ’77 zu verurteilen, als jene halbherzige, spitzfindige Äußerung nicht ausreichend war und eine andere, klare, eindeutige Stellungnahme verlangt wurde, zeugt von seiner Charakterschwäche. Damals hatte er wahrscheinlich zum letzten Mal die Gelegenheit, angesichts einer solchen Willkür und Ungesetzlichkeit durch seinen Rücktritt seinen Widerwillen und seine Ablehnung zum Ausdruck zu bringen. Aber der „Hirte der Hirten“ wählte einen anderen Weg, um die Kirche zu „retten“: er begann einem Pfarer, der schon seit Jahren keine statliche Tätigkeitserlaubnis hate, Aug’ in Aug’ auch noch mit der kirchlichen Suspendierung zu drohen. Dazu bestellte er ihn extra zu sich in die Wohnung und las ihm (sic!) in Anwesenheit des Synodalkurators eine vorbereitete Erklärung vor. Und dann bezeichnete er diesen Pfarrer als den einzigen ohne staatliche Tätigkeitserlaubnis, und überließ ihn dadurch der Staatsverwaltung zur Bestrafung; und überdies auch zur Bestrafung durch den neu errichteten Disziplinarausschuß der Kirche. Und sollte dies nicht durchführbar sein, so sollte er zumindest durch die für diesen Zweck extra errichtete Kommission diszipliniert werden. Das ist ein kühnes Beispiel für eine tief christliche Haltung; den Wölfen wird ein ohnehin schon verwundetes Schäflein vorgeworfen, eventuell auch irgendein Hirte, der sich im Kampf einige Schrammen holte, der nichts zur „Herstellung guter Beziehungen mit den Wölfen“ beigetragen hat. Aber das alles basiert auf einem Mißverständnis oder besser auf einer schlechten Theologie. Wer nämlich aufmerksam liest, in welchem Zusammenhang im Matthäusevangelium Jesu Aussage: „Seht, ich sende euch wie Schafe mitten unter die Wölfe; seid daher klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben“ (Mt 10, 16) steht, der muß einsehen, daß die Wölfe weder unter den Heiden noch unter den Samaritern sind, sondern daß es die Israeliten selbst sind (Mt 10, 5–6). Deshalb ging es mir persönlich ein wenig gegen den Strich, als in dem Schriftsatz über „die Stellung der Kirche und der Gläubigen“ die Kritik ausschließlich gegen das Vorgehen der staatlichen Organe gerichtet war. Heute besteht kein Zweifel darüber, daß jede Kritik an der Kirchenleitung ein willkommener Vorwand zu vielleicht noch schärferen Reaktionen des Synodalrates wäre. In diesem Sinn kann das taktische Vorgehen, eine kritische Darstellung der Kirche zu unterlassen, für besser gehalten werden. Aber was taktisch gut ist, muß noch lange nicht christlich sein. Im christlichen, d.h. im Sinne Christi muß jede radikale Kritik vom „Gotteshaus“ ausgehen (so war das erste, was Jesus nach dem Betreten Jerusalems tat, die Vertreibung aller im Tempel anwesenden Händler und Käufer und das Umstürzen aller Tische der Geldwechsler und Taubenhändler, weil durch dies alles der Tempel zur „Räuberhöhle“ wurde). Kurz, die Räuber und die Wölfe müssen in erster Linie in der Kirche und keineswegs außerhalb ihrer gesucht werden.
Warum tut der Synodalrat das alles überhaupt? Benutzen wir hier einige Formulierungen, die vor mehr als zwanzig Jahren J. L. Hromádka benutzt hat: Geschieht es „… aus theologischen Gründen? Aus dem wahren Glauben? Oder aus Trägheit, Borniertheit, Angst öder gar aus Feigheit?“ In dem Bericht an die Synodalgemeinden berichtet der Synodalrat: „Dieses eigenmächtige Handeln einer Gruppe von Brüdern hat uns von Anfang an mit großer Sorge um die Lehre, um die Einheit und die Sendung der Kirche erfüllt“. Es ist sonderbar, daß an erster Stelle die Sorge um die Kirchenlehre aufgeführt ist, aber in dem ganzen Brief nicht ein einziger Beweis einer dogmatischen Verfehlung in dem Text zu finden ist, der an die Föderative Versammlung abgesandt wurde. Das Konzil von Konstanz hat noch die Zitate aus den Predigten von Jan Hus aufeinandergehäuft und sich dadurch geholfen, daß es sie aus dem Zusammenhang riß. Der Synodalrat macht so etwas nicht mehr, er äußert nur die Sorge um die Kirchenlehre – und der Kirche soll dies zur Verurteilung des Textes genügen, den sie überhaupt nicht kennt und mit dem sie auch nicht bekannt gemacht wurde. Die langwierige Argumentationsarbeit soll die Fakultät auf sich nehmen. Und so schreibt die Fakultät ihre AchtPunkte-Erklärung nieder; aber derjenige, der sie vorbereitete, hat sich damit wirklich keine große Mühe gemacht. Jeder Punkt ist ein Eigentor und zudem Unterstellung und Lüge. Die Fakultätslehrer selbst charakterisieren die Früchte ihrer Geistesschöpfung folgendermaßen: „Die Thesen heben die aktuellsten Aspekte unserer Glaubenstradition hervor und lehnen zugleich die wichtigsten, theologisch falschen programmatischen Forderungen ab, die unsere Glaubensentscheidungen verwirren“. Also der ganze Unsinn und alle die Erdichtungen, die nicht einmal die Fakultätslehrer selbst unterschrieben haben – sicherlich aus Bescheidenheit – sprudeln hier als die Frucht der Glaubensentscheidung hervor. Sollte jemandem darin etwas verworren erscheinen, dann bedenke er, daß die Glaubensentscheidung der Professoren verwirrt war infolge von „mehrjährigen Anstrengungen, die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder in den politischen Kampf, in eine Position zu drängen, die theologisch nicht berechtigt ist und die die gesellschaftlichen, politischen und sozialistischen Bedingungen negiert, in denen wir leben und an deren Entstehung wir uns beteiligen wollen“.
In ihrem sechsten Punkt sagen die Lehrer: „Die Kirche soll die Gemeinschaft der Einheit und der Bund des Heiles sein“. Auf den ersten Blick sieht dies nach der Wahrheit aus. Aber die schlimmste Lüge ist die, welche der Wahrheit am ähnlichsten ist. Über die Gemeinschaft der Einheit und über den Bund des Heiles sprechen hier die gleichen Professoren und Dozenten, die vor einiger Zeit den Studenten Tydlitát vom Studium ausgeschlossen haben, weil er es wagte, gerade im Geiste der Glaubenseinheit für den damals inhaftierten Pfarrer Svatopluk Karásek (er befand sich noch vor dem Gerichtsverfahren, in der Untersuchungshaft) öffentlich zu beten. Nicht jeder hat das Recht, über die Einheit und das Heil zu sprechen. Unsere werten Fakultätslehrer gehören zu jenen, von denen es heißt: „Den Schaden meines Volkes möchten sie leichthin heilen, indem sie rufen: Heil, Heil! Aber kein Heil ist da“ (Jer 6,14). Heil wollen sie vielleicht haben, aber was für ein Heil ist das für die Pfarrer, die nicht predigen dürfen, die nicht unterrichten dürfen (es sei denn, sie verleugnen ihren Glauben), für begabte junge Menschen, die wegen der „religiösen Überbleibsel“ nicht studieren dürfen, was für ein Heil für die Kleinsten, die nicht zu Christus gehen dürfen, sondern von Kindheit an von solchen Schlauköpfen lernen sollen, wie es unsere werten Fakultätslehrer sind? Von solchen Köpfen, die „ihre Hoffnung auf verlogene Worte setzen, welche nichts nützen“?
Die Professoren der Theologie beginnen ihren ersten Punkt mit der dreisten Erklärung, daß „wir im Rahmen der Gemeinschaft der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder Anteil an der universalen Kirche Christi haben“, und mit noch größerer Dreistigkeit fahren sie fort: „… die (d.h. die universale Kirche Christi) entstand aus der Gnade Gottes, lebt aus der Gerechtigkeit Christi und unterwirft sich der Führung seines Geistes“. Heute ist jedoch jedes Mitglied dieser Kirche vor die grundlegende Frage gestellt, ob der Zustand der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder nicht eher die Folge der Fügung Gottes als Ausdruck der Gnade Gottes ist? Lebt diese irdische Kirche oder Gemeinde aus der Gerechtigkeit Christi oder beteiligt sie sich eher an den Widrigkeiten, die die wahren Zeugen Christi entgegen jeder Gerechtigkeit verfolgen? Unterwerfen sich diese Kirche, ihre Leitung und ihre Fakultätsfachleute heute wirklich der Führung des Geistes, oder helfen sie eher umgekehrt mit all ihren Kräften, jedem den Mund zu verbieten, der im Sinne des Geistes und aus dem Geiste und aus der Wahrheit spricht? Was für eine Sendung hat die Kirche eigentlich? Und woran läßt sich erkennen, daß die Kirche ihre Sendung tatsächlich erfüllt?
Nur ein Jahr vor Hitlers „Machtübernahme“ schrieb Dietrich Bonhoeffer diese wahrhaft prophetischen Worte: „Kirche ist ein Stück Welt, verlorene, gottlose, unter den Fluch getane, eitle, böse Welt; und böse Welt in der höchsten Potenz, weil in ihr der Name Gottes mißbraucht, weil in ihr Gott zum Gespielen, zum Abgott der Menschen gemacht wird, ja ewig verlorene, antichristliche Welt schlechthin, wenn sie aus der letzten Solidarität mit der bösen Welt heraustritt und sich gegen die Welt aufspielt, rühmt“. Zwar ist es nur die Hälfte dessen, was er in dem Zitat über die Kirche sagt, aber es ist gerade die Hälfte, die uns heute außerordentlich stark anspricht, nachdem wir uns mit den letzten Dokumenten des Synodalrates und der Fakultätslehrer bekannt gemacht haben. Wollen wir doch gemeinsam mit Kierkegaard ausrufen: „Wer immer du bist, mein Freund, wie anders dein Leben immer auch ist – du trägst an einer großen Schuld deshalb immer weniger, weil (…) du nicht daran teilnimmst, wenn sie sich über Gott lustig machen, indem sie das als das neue Gesetz des Christentums bezeichnen, was das neue Gesetz des Christentums nicht ist“.
Es ist sicher wahr – und darin bin ich mit Hromádka völlig einig -, „daß die Kirche als solche mit ihrem Dasein und ihrem Handeln ein politischer Faktor ist und daß sie auf ihren Schultern Bürde, Ehre, Schuld, Erfolge und Mißerfolge, Siege und Niederlagen der Völker, Staaten und der gesellschaftlichen Systeme trägt“. Es ist sicher auch wahr, daß „nur selten die Menschen eine echte innere Glaubensfreiheit erreichen, die den Christen in der politischen Handlung wirklich souverän macht“. Heute ist es offensichtlich, daß der geistige, moralische und politische Niedergang unserer Gesellschaft sich auch in unserer Kirche machtvoll offenbart. Aber die Kirche ist nicht nur dafür da, den Zustand der Gesellschaft widerzuspiegeln, oder unter den gleichen Krankheiten zu leiden wie die Gesellschaft, in der sie lebt, sondern den Weg zur Gesundung und Besserung aufzuzeigen. Das kann sie freilich nicht, wenn sie nicht ganz inmitten der Gesellschaft und der Welt steht. Und sie kann es nicht, ohne all die Krankheiten, die Mißstände, die Armut und das Leid der Gesellschaft, als wären sie ihre eigenen, auf sich zu nehmen.
Aber das bedeutet doch nicht, daß sie die Welt nur nachahmen soll, daß sie sich durch alles das anstecken lassen soll, wodurch die Welt angesteckt ist. Das hilft nicht, darin ist kein Vorteil zu sehen. Die Kirche ist verpflichtet, in all den Krankheiten, Mißständen, in Armut und Leid ihre eigene Schuld zu sehen – und dies nicht nur vorzutäuschen, sondern wirklich zu entdecken. Und um das auch wirklich zu können, muß sie all die Krankheiten, Mißstände, die Armut und das Leid überhaupt erst sehen und sie muß all das im rechten Lichte sehen, im Lichte der Wahrheit – ansonsten sind ihr ganzes Handeln und Gerede nur eine falsche und leere Geste. Dadurch, daß sich die Kirche zu den Krankheiten der Gesellschaft wie zu ihrer eigenen Schuld bekennt, schafft sie für sich die Möglichkeit, darüber öffentlich und wahrhaftig zu sprechen und nicht nur pharisäisch. Darin liegt die wahre Solidarität der Kirche mit der Welt und mit der Gesellschaft, in der sie lebt. Diese Solidarität liegt jedoch nicht darin, daß sich die Kirche (wenn auch nur durch ihre Repräsentanten) an der betrügerischen und verlogenen Beschönigung der bestehenden Wirklichkeit beteiligt, sondern darin, daß sie diese Wirklichkeit – und das bedeutet auch ihre eigene Wirklichkeit – in das volle Licht stellt ohne den Schatten der Selbstgerechtigkeit. Wenn sie das tut, bekommt sie am ehesten ihren Teil ab; die Glaubensfreiheit befreit uns aber vom Haß gegen die Welt. Die Glaubensfreiheit erlaubt uns jedoch auch, die falsche, nur vorgespielte „Einheit“ der Kirche teilweise zu demontieren und die Verlogenheit ihrer Beteuerungen aufzudecken, daß sie sich „im Namen der Glaubensfreiheit mit dem vielen Guten, was für den Menschen getan wird, identifiziert“ – Gutes tut in unserem Stat jemand, der nicht wagt, Weiß als weiß und Schwarz als schwarz zu bezeichnen.
Dein
Ladislav Hejdánek
Prag, den 9.6.1977