- in: Ladislav Hejdánek, Wahrheit und Widerstand. Prager Briefe, transl. Milan Walter – Eva Bauer, München: P. Kirchheim, 1988, p. 35–43
Konservative, gemäßigte und radikale Strömungen innerhalb der Charta ’77
Lieber Freund,
aus Deinem Brief erfahre ich, daß Dir und Deinen Freunden der Brief des Historikers Dr. Jan Tesař an Professor Dr. Jiři Hájek sowie die Antwort von Prof. Hájek schon bekannt sind. Du schreibst, daß ihr auch die beiden Interviews von Prof. Hájek kennt, allerdings nur aus der Übersetzung. Dazu möchte ich nur anmerken, daß die Übersetzung aus der „Arbeiterzeitung“ ziemlich verläßlich, die Übersetzung aus dem „Spiegel“ hingegen leider erheblich gekürzt ist (und leider auch ohne Hinweis auf die Kürzung). Ich hoffe, daß das bald berichtigt wird, weil gerade dieses zweite Interview von sehr viel größerer Bedeutung und zudem auch die Hauptursache der Kontroverse ist.
Ich denke, daß wir bei der ganzen Angelegenheit die sachliche und formale Seite voneinander trennen müssen. Formal gesehen, ist der Brief von J. Tesař sehr unbefriedigend und in macher Hinsicht sogar ungeheuerlich. Ich glaube jedoch nicht, daß es besonders verdienstvoll wäre, sich mit diesem Umstand näher zu befassen. Der Autor fügt nämlich durch die unangebrachte Form vor allem sich selbst und seiner Position Schaden zu, was darauf hindeutet, daß es sich nicht um eine geplante Anwendung unsauberer Methoden handelt, sondern eher um eine Ungeschicklichkeit, die von einer starken Verärgerung verursacht wurde. Die äußerst zweifelhafte Begründung einer „moralischen Berechtigung“ des Autors, einen festgelegten Standpunkt einzunehmen, kommt einer falschen Beschuldigung gleich, die uns an die Situation vor einem Jahr erinnern muß, wo allerdings die Unterstellungen von einer ganz anderen Seite ausgingen.
Der Brief von Tesař ist weder eine Analyse noch eine sachliche Polemik, sondern eine Agitation gegen Hájek. In dem Augenblick, wo in der Erwartung, daß bald grünes Licht gegeben wird, das Vorgehen einiger Organe der Staatssicherheit an Grobheit zunahm und wo sich die Signale eines vorbereiteten neuen Angriffes auf die Charta ’77 vermehren, muß jedem ein ähnliches Verhalten als außerordentlich widersinnig erscheinen. Aber das alles sind nur periphere Aspekte der ganzen Angelegenheit. Den Grund sehe ich anderswo: In seinen Bedenken, „daß die Charta ’77 in ihrer jetzigen Form erstarrt“, sowie in der Betonung, daß es notwendig sei, „voranzuschreiten“ und „allmählich“ zu neuen Formen des Kampfes für die Menschenrechte „überzugehen“, ist der Brief von Tesař charakteristisch. Professor Hájek ist nach Tesař „ein Gemäßigter“ und neigt „zur Konservierung des gegebenen Zustandes“ (hoffentlich im Rahmen der Charta ’77 und nicht im Rahmen des etablierten Systems, auch wenn es nicht ganz auszuschließen ist, in Hinblick darauf, daß Hájek mit seinem „Kurs“ verdächtigt wird, daß er „sich letztendlich doch mit den heute herrschenden Repräsentanten einigen wird“ und daß er „wieder in die Partei und in die Staatsführung aufgenommen wird“, – also, daß er sich zumindest dahingehend orientiert). Sich selbst präsentiert Tesař demgegenüber als einen Radikalen (zumindest proklamiert er dies; das, was er schreibt, erscheint mir sonst nicht allzu radikal).
Den Vorwand für seine Attacke sucht Tesař darin, daß der Sprecher der Charta ’77 in einem Interview politische Ansichten ausgesprochen hat, ohne ausdrücklich darauf hingewiesen zu haben, daß er nur für sich selbst spricht. Er verlangt schließlich von Prof. Hájek, daß er „künftig in seinen Formulierungen unterscheiden möge, ob er nur für sich selbst, für seine politische Richtung oder für die Charta ’77 als ganze spricht“. Ich meine aber, daß dies überflüssig ist, weil in einem Interview kein Sprecher „ex cathedra“ sprechen kann. Er kann über Grundsätze, Ziele oder Standpunkte der Charta ’77 sprechen, sofern er das ausdrücklich erwähnt, aber auch in einem solchen Fall hat seine Interpretation niemals einen offiziellen Charakter, weil sie weder ein Dokument noch eine Mitteilung im gebräuchlichen Rahmen ist. Demgegenüber ist es notwendig, auf der gänzlichen Freiheit der Sprecher zu beharren, und nicht nur die politische, sondern auch die kulturelle, ästhetische, religiöse, philosophische usw. Orientierung zu behalten.
Jan Tesař unterstreicht eingangs, daß er J. Hájek das Recht auf seine politische Haltung nicht streitig machen möchte; wenn er sich an diesen Grundsatz hielte, sähe seine Agitation wesentlich schwächer aus. Meinungsvielfalt ist nämlich in der Charta ’77 nichts Neues. Wir wissen und haben von Anfang an von ihr gewußt. Bislang haben wir es aber nicht für notwendig gehalten, unsere inneren Meinungsstreitigkeiten auszubreiten, und haben uns auf das, was uns verbindet, konzentriert, das heißt auf das, was programmatisch im ersten Dokument der Charta ’77 zum Ausdruck kam.
Jetzt aber denkt Tesař, daß die Zeit der Polemiken gekommen ist. Er ist zwar entschlossen, „für das Recht auf freie Meinungsäußerung und für die Durchsetzung auch solcher Meinungen“, die er selbst für äußerst „reaktionär“ hält, „zu kämpfen“ (daraus ist ersichtlich, daß er bereit ist, auch die „reaktionärsten“ Meinungen innerhalb der Charta ’77 zu respektieren – ich begreife nicht, warum er sich dann für einen Radikalen halten kann); trotzdem attackiert er in erster Linie Prof. J. Hájek und „seinen Kurs“, entweder, weil er in beiden Fälen gerade jene äußerste Reaktion sieht – oder, weil ihm die Gefahr von dieser Seite größer erscheint als von der Seite der größten Reaktion. Aber so drückt er es nicht aus; denn das wäre sehr absurd. Den Anlaß für diese sonderbare Polemik muß er jedoch grundsätzlich begründen. Und so begründet er seine Handlungsweise dadurch, daß Prof. J. Hájek die Funktion des Sprechers innehat und daß er sie – mit anderen und nicht seinen Worten ausgedrückt – zur Täuschung der internationalen Öffentlichkeit mißbraucht, indem er seine persönliche Meinung und Haltung für die Meinung aller Unterzeichner ausgibt. Das ist jedoch ein wenig überzeugender und eigentlich ungeschickter Vorgang, wie ich zu zeigen versucht habe. – Aber die inhaltliche Seite des eigentlichen Streites erscheint mir am wichtigsten.
Jan Tesař schreibt, daß es im geschichtlichen Wesen jeder Reformbewegung liegt, sich in Gemäßigte, Liberale und Radikale aufzuspalten. Daß dies auch unter uns geschieht, ist normal und zeugt davon, daß sich unsere Gesellschaft wieder aufrichtet und sich wieder politisch zu „kultivieren“ beginnt. Dem muß ich aus mehreren Gründen entschieden widersprechen (damit keine Mißverständnisse entstehen: nur für mich selbst): In der Hauptsache ist die Charta ’77 keine Bewegung im ursprünglichen Sinne des Wortes, sondern sie ist eine gemeinsame Einstellung, ein gemeinsam verteidigtes Prinzip. Und bislang existiert keine legitime Möglichkeit, daß die Charta ’77 zu einer Bewegung (oder einer Organisation usw.) wird. Dazu wäre ein Wechsel der Umstände nötig, der erst eine Versammlung aller Unterzeichner ermöglichen würde, bei der sie sich einstimmig oder zumindest mit überwiegender Mehrheit für den Verzicht auf die Grundsatzerklärung vom 1. 1. 1977 und die darauf gegründete Linie und alle weiteren Aktivitäten der Charta ’77 entscheiden würden. Aber auch das wäre nicht einfach, weil z.B. nur ein einziger Unterzeichner, der sich entschiede, die ursprüngliche Linie beizubehalten, notgedrungen das Recht hätte, den bisherigen Kurs fortzusetzen. So daß ich die einzige Möglichkeit in dem völlig unwahrscheinlichen Fall sehe, daß sich alle Unterzeichner ohne Ausnahme träfen und das Ende der Charta ’77 einstimmig beschlössen.
Zum anderen entspricht es durchaus nicht der Wirklichkeit, daß derzeit die erwähnte Zersplitterung in Gemäßigte, Liberale und Radikale auch in der Charta ’77 selbst vor sich gehe. Diese Meinungsvielfalt gab es schon zu Beginn der Initiative; und es ist das Spezifischste am Charakter der Charta ’77, daß sie keine Gemeinschaft ist, die auf der Basis gemeinsamer politischer Anschauungen und Programme oder sonstiger Auffassungen gegründet wurde, sondern einzig und allein auf zwei Prinzipien basiert, auf die sich die Menschen geeinigt haben, die ansonsten weltanschaulich, geistig, kulturell, politisch usw. unterschiedlich orientiert sind und zu verschiedenen gesellschaftlichen und beruflichen Gruppen gehören. Das eine Prinzip ist die Durchsetzung der Respektierung der fundamentalen Menschen- und Bürgerrechte eines jeden Individuums auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens. Dieses Prinzip ist universal, sozusagen allgemein menschlich, weil es sich mit der gleichen Forderung an alle Menschen in der Welt wendet und nach ihrer Solidarität und Beteiligung ruft. Das zweite Prinzip ist konkret gesellschaftlich und politisch bedingt. Es ist der Grundsatz der Gesetzlichkeit, des Respektes vor Gesetzen, – d.h. konkret vor unseren tschechoslowakischen Gesetzen.
Selbstverständlich bin ich mir der Grenzen und der Problematik dieses zweiten Prinzips bewußt; deswegen werde ich mich mit ihm näher befassen. Aber es ist genauso unbestreitbar, daß die Charta ’77 gleich mit ihrem ersten Dokument eindeutig erklärt hat, daß sie mit ihren Aktivitäten in den streng gesetzlichen Grenzen verbleiben will. Das muß und kann eigentlich auch gar nicht als Konservierung eines status quo ausgelegt werden. Es existieren gesetzliche Wege, wie gültige Gesetze novelliert werden können. Zu ähnlichen Novellierungen kommt es notgedrungen in jeder Gesellschaft. Unsere Gesellschaft z.B. steht heute vor ziemlich umfangreichen Novellierungen einer ganzen Reihe von Gesetzen (die Verfassung nicht ausgenommen) im Rahmen der Anwendung und Konkretisierung der ratifizierten internationalen Pakte (siehe die heute bereits berühmte Nr. 120), worauf die Charta ’77 in ihrem umfangreichen Dokument Nr. 15 die Föderative Regierung und auch die Föderative Versammlung aufmerksam gemacht hat.
Unsere tschechoslowakischen Gesetze sind in ihrer Mehrzahl nicht schlecht, und es ist gut möglich, von ihnen auszugehen; ihre Formulierungen sind aber sehr oft unzureichend, d.h. zu dehnbar, zu ungenau, mehrdeutig und sie haben noch allzu viele dehnbare Ausnahmen. Viel wichtiger ist jedoch die Tatsache, daß man zu wenig auf deren Einhaltung achtet, und daß gerade die staatlichen Organe wenig guten Willen zeigen, sie auf alle Bürger der Republik gleichermaßen anzuwenden. Ideologisch wird das mit der klassenmäßigen Anwendung der Gesetze begründet. In Wirklichkeit schafft es Raum für die willkürliche Verfolgung eines jeden, der bei irgendeinem der Mächtigen Mißfallen erregt. Gerade deshalb hat der eindeutige Nachdruck auf die Einhaltung der Legalität zumindest in unserer Situation (ich selbst denke allerdings, nicht nur in unserer Situation) seine tiefe Berechtigung. Ich gebe zu, daß es sich in Einzelfällen zeigen könnte, ob die Methode des bürgerlichen Ungehorsams angemessen oder gar unverzichtbar ist. Ein klassischer Fall waren z.B. die Protestmärsche ans Meer, mit denen einst die Inder das Gesetz über die Salzsteuer gleich massenweise zu übertreten pflegten. Sofern unsere Bürger zu ähnlichen Aktionen greifen sollten, könnten sie das in Form einer separaten Bürgerinitiative tun, aber sie könen es nicht auf der Grundlage der Charta ’77 und in deren Rahmen realisieren. Sogar in Fällen, in denen es sich überhaupt nicht um eine Übertretung eines Gesetzes oder einer gültigen Vorschrift, sondern um die bloße Einhaltung eines konkreten gesetzlichen Bürgerrechts in der Praxis handelt, kann eine solche Initiative nicht als eine Aktivität der Charta ’77 aufgefaßt und erklärt werden, und sie kann und soll sich nicht auf die Charta ’77 berufen, sondern sie kann und sie soll sich direkt auf die geltenden Gesetze berufen, in denen das besagte Bürgerrecht garantiert wird. So gehört z.B. zu den Rechten jedes tschechoslowakischen Bürgers, daß er ins Ausland reisen oder sogar für eine begrenzte Zeit oder für immer dort leben darf. Dieses Recht wird jedoch permanent beschnitten und durch das Verfahren unserer Ämter verletzt, was schon immer berechtigter Gegenstand der Kritik seitens der Charta ’77 war und stets sein wird. Aber das bedeutet nicht, daß die Auswanderung aus der Republik oder das Reisen ins Ausland als eine Initiative oder Aktivität der Charta ’77 hätten aufgefaßt werden können. Ebenfalls können sich die nichtoffiziellen Bildungskreise oder Studienteams auf unsere Gesetze berufen (die ratifizierten internationalen Abkommen eingeschlossen), aber sie stellen keine Aktivität der eigentlichen Charta ’77 dar, sondern sind eine separate Bürgerinitiative.
Wenn die Charta ’77 von Anfang an durch eine große Meinungsvielfalt der Unterzeichner gekennzeichnet ist, so läßt sich begreiflicherweise diese Meinungsvielfalt heute nicht als der Beweis dafür betrachten, daß „sich unsere Gesellschaft aufrichtet und sich wieder politisch zu kultivieren beginnt“. Ich bin der Überzeugung, daß eher das Gegenteil der Fall ist.
Der gesunde Menschenverstand und die gesunden normalen Reaktionen der Mehrheit der Bürger lassen sich nicht mit politischer Reife und politischer Bildung gleichsetzen. Die Charta ’77 genießt die unqualifizierten Sympathien der Mehrheit der Bürger einfach aus dem Grunde, weil sie den Zustand kritisiert, der den meisten Bürgern zuwider ist. Der eigentliche tiefere Sinn der Charta ’77 wird hingegen kaum ganz verstanden, darüber sollten wir uns nicht täuschen.
Er wird bisweilen auch von einigen Unterzeichnern nicht ganz verstanden. In entwaffnender Naivität kommen zu uns oft Unterzeichner mit einer Hoffnung, die wir leider enttäuschen müssen. Die Menschen, die sich entschlossen haben, die Tschechoslowakei zu verlassen, die sich alle möglichen Bescheinigungen besorgten, um damit ihren Auswanderungsantrag zu unterstützen, die jedoch mit der Begründung abgewiesen wurden, daß ihre Auswanderung „nicht in Einklang mit den Staatsinteressen steht“ – diese Menschen kommen dann zu uns, um sich auf die Charta ’77 zu berufen und um unsere Hilfe zu erbitten. Zu unrecht verurteilte Menschen kommen zu uns mit der Bitte um Wiedergutmachung. Verwandte von unschuldig Verurteilten wenden sich an uns, damit wir in hoffnungslosen Fällen „etwas unternehmen“, usw. Und wenn sie dann erfahren, daß wir praktisch in der gleichen Lage stecken wie sie selbst, sind sie oft sehr enttäuscht: Wozu ist denn die Charta ’77 da, wenn sie nicht helfen kann? Sie kommen überhaupt nicht darauf, zu überlegen, was sie selbst für andere Betroffene hätten machen können; sie möchten nur eine Instanz finden, an die man sich wenden kann und die alles für sie „regelt“. Unter solchen Menschen hat das radikale Gerede allerdings ein dankbares Publikum. Die Kritik der „Gemäßigten“ und der „Reaktionäre“, der Verrat an denjenigen, die sich angeblich separat mit den herrschenden Repräsentanten „einigen“ wollen, das Unterstreichen der Gefahr, daß „wir in den jetzigen Formen erstarren“, die Überbetonung der Notwendigkeit „voranzuschreiten“ und das Ausmalen der leuchtenden ausländischen Vorbilder (seien es die chinesischen, jugoslawischen, ungarischen oder neuerdings polnischen) usw. – das ales ist nur ein heruntergekommener radikalistischer Jargon, der von der wirklichen Radikalität noch meilenweit entfernt ist.
Wenn jemand wirklich radikal werden will, muß er sein Ziel klar kennzeichnen und die Mittel genau bestimmen, mit denen er es erreichen möchte. Ich habe mir einen untrüglichen Lebensgrundsatz zu eigen gemacht: Wenn jemand die Notwendigkeit der Veränderung, insbesondere einer revolutionären, propagiert und nicht genau sagt, was er durch diese (noch so revolutionäre) Veränderung konkret erreichen möchte, ist er mit größter Wahrscheinlichkeit ein Betrüger. Und mein zweiter Grundsatz lautet: Wenn jemand ziemlich klar das Ziel und auch den Weg dahin zeigt, so spiele ich ein wenig mit seinen Formulierungen und versuche konsequent bis zu den Voraussetzungen zu gelangen, ohne die sein Programm nicht bestehen kann und die nicht deutlich ausgesprochen wurden. Manches sieht von Ferne schön aus, aber bei solch einer eingehenden Untersuchung kommen oft schwerwiegende Schönheitsfehler zum Vorschein.
Was sagt eigentlich Jan Tesař positiv? Er ist für politische Pluralität, er möchte die Veränderungen des gegebenen Zustandes, lehnt Kompromisse mit den Regierungsrepräsentanten ab, ist für die Internationalisierung unseres Kampfes, ist ein Radikaler und findet am Weg der Polen Gefallen. Das ist eine sehr bescheidene Grundlage für ein politisches Programm oder einen politischen Standpunkt. Ich bin nicht der Meinung, daß nicht einige kritische Bemerkungen zu Jiři Hájeks Standpunkt und zu seinen Formulierungen angebracht seien. Ich stehe mit ihm erst seit etwa einem halben Jahr in engerem Kontakt, und schon des öfteren war ich mit ihm nicht einer Meinung. Meinungsverschiedenheiten können aber auch auf Mißverständnissen beruhen; heute verstehe ich ihn besser als z.B. im Herbst. Ich sehe nicht nur seine Standpunkte, sondern allmählich beginne ich auch seine Motive zu begreifen. Das bedeutet noch keine Übereinstimmung; ich bin auch weiterhin mit ihm nicht einer Meinung, aber ich bin eher in der Lage, seine Einstellung zu respektieren. Dies alles vermisse ich völlig bei Jan Tesař. Er hat zwar in seinem Brief erklärt, daß sein Ehrgeiz darin liege, „die Konturen der Zukunft zu erfassen und es zu schaffen, die Wahrheit zum Ausdruck zu bringen“, aber irgendwie gelingt ihm das, wenigstens in diesem Fall, nicht. In seinem Text finde ich weit mehr Affekte und viel weniger Fakten, als es sich für einen Historiker gehört. Zugleich muß ich jedoch eingestehen, daß ich ihn in manchem verstehe, und daß einige seiner Motive mir nicht nur verständlich sind, sondern daß ich sie sogar mit ihm teile. Das wird Dich als Leser dieses Briefes höchstwahrscheinlich überraschen, nach dem, was Du bislang gelesen hast. Aber das ist eigentlich schon wieder ein anderes Kapitel.
Nachdem ich den offenen Brief von Tesař an Prof. Dr. J. Hájek gründlich durchgesehen und geprüft habe, muß ich jetzt nicht weniger gründlich auch Hájeks beide Interviews durchsehen und prüfen. Aber das hebe ich mir für den nächsten Brief auf. Diese Zeilen möchte ich jedoch gerne mit der Erklärung beenden, was die Charta ’77 für die Zukunft positiv bedeuten kann und bedeutet, obwohl sie zum Leidwesen und zur Enttäuschung (manchmal auch zum Zorn) einer Reihe von Menschen nicht gerade viel unternehmen kann, wie ich bereits gezeigt habe. (Darüber habe ich eigentlich auch schon geschrieben, aber vielleicht wird es nicht schaden, wenn ich es noch einmal versuche).
Die moderne Gesellschaft wird von einer riesigen Geschwulst geplagt, nämlich dem Staat. Die Staatsorgane, wenn ich Friedrich Engels aus dem Jahr 1891 zitieren darf, die sich die Gesellschaft zur Erledigung ihrer Bedürfnisse und ihrer gesellschaftlichen Interessen geschaffen hat, „verwandeln sich mit der Zeit, indem sie den eigenen Interessen dienten, aus Dienern der Gesellschaft zu ihren Herren“. Engels hält diese unvermeidliche, in allen bisherigen Staaten ablaufende „Verwandlung des Staates und der Staatsorgane aus Dienern der Gesellschaft zu Herren über die Gesellschaft“ für unausweichlich, aber für ebenso unausweichlich hält er auch „das Hinwegfegen der alten Staatsmacht und ihren Ersatz durch eine neue, wirklich demokratische Ordnung“. „In Wirklichkeit ist jedoch der Staat nichts anderes als eine Maschinerie zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andere Klasse, und das in einer demokratischen Republik nicht weniger als in der Monarchie. Und bestenfalls ist der Staat das Übel, das das Proletariat beerben wird, wenn es im Kampf um die Klassenfrage siegen wird. Das siegreiche Proletariat wird genauso wie die Kommune so schnell wie möglich die schlimmsten Seiten des Übels abschneiden müssen, solange die neue Generation, aufgewachsen in neuen freien gesellschaftlichen Verhältnissen, nicht in der Lage sein wird, den ganzen staatlichen Schrott wegzuwerfen“. Zwanzig Jahre zuvor sah Karl Marx das Ideal darin, daß sämtliche Bildungsanstalten „kostenlos dem Volk geöffnet und zugleich von jeglicher Einmischung seitens des Staates und der Kirche befreit werden“, wodurch die „schulische Ausbildung nicht nur jedem zugänglich, sondern auch die Wissenschaft selbst von den Ketten befreit wird, mit denen sie die Klassenvorurteile und die Regierungsgewalt fesseln“. Ich zitiere die Klassiker, um auch die marxistischen Kollegen zu überzeugen. Marx und Engels haben die Einschränkung der Staatsmacht nicht der fernen Zukunft überlassen, sondern sie rechneten mit „dem Abschneiden der schlimmsten Seiten des Übels“ in allerkürzester Zeit, gleich nach dem Sieg des Proletariats.
Leider hat keiner von beiden darüber grundsätzlich genug nachgedacht, daß es nirgendwo hinführt, wenn das Übel der alten Staatsmaschinerie nach ihrer Liquidierung durch das Übel einer neuen Staatsmaschinerie ersetzt wird. Ihnen wurde nicht bewußt, daß beim Wegwerfen dieses „ganzen staatlichen Schrotts“ die Frage auftritt, wer den Schrott eigentlich hinauswerfen soll und wie. Wenn dazu Macht und Machtmittel eingesetzt werden, entsteht augenblicklich eine neue Staatsmaschinerie, ein neues Übel. Der Teufel läßt sich nicht mit Beelzebub vertreiben.
Das Zurückdrängen eines Staatsapparates und die engere Eingrenzung seiner Kompetenzen stellen eine der größten Aufgaben und eins der größten Probleme der modernen Gesellschaft dar. Niemals kann es gelingen, alles auf einmal zu leisten, sondern es ist notwendig, mit einer langsamen Entwicklung, die schrittweise vor sich geht, zu rechnen. Nichts kann mit Gewalt und Macht durchgeführt werden, sondern nur mit der zielbewußten und unermüdlichen Resistenz eines jeden einzelnen. Das Ziel ist nicht die Liquidierung des Staates (das würde nur ein Chaos verursachen), sondern die Konstituierung und die Stärkung des gesellschaftlichen Raumes, der aus dem staatlichen Machtbereich herausgenommen, vor der Einmischung seitens des Staates (der Kirche, der Partei usw.) geschützt und von den Ketten der Regierungsgewalt befreit wird. Und gerade diesen Raum will die Charta ’77 konstituieren, ihn nach und nach erweitern und bewahren helfen. Das ist ein Programm für die ganze Menschheit, für die ganze Welt.
Dein
Ladislav Hejdánek
Prag, den 2.3.1978
(Zur Kenntnisnahme an Dr. Jan Tesař und Dr. Jiři Hájek)