- in: Ladislav Hejdánek, Wahrheit und Widerstand. Prager Briefe, transl. Milan Walter – Eva Bauer, München: P. Kirchheim, 1988, p. 60–68
Represionen gegen die Charta ’77 und gegen das „Komite zur Verteidigung der zu Unrecht Verfolgten“ (VONS)
Lieber Freund,
ich habe damit gerechnet, daß es Dich interessieren wird, wie ich die neuesten Ereignisse vom 29. Mai 1979 beurteile. Weil es aber sehr wenig Nachrichten gab und die Unsicherheit groß war, ob neue Informationen das Bild von der Tätigkeit des Sicherheitsdienstes nicht wesentlich verändern würden, habe ich mich entschieden, mit dem Schreiben einige Tage zu warten. Und ich denke, daß es richtig war. Heute können wir von der Sache doch ein abgerundeteres und übersichtlicheres Bild gewinnen. (Auch wenn, wie ich immer behaupte, erst die nächsten Wochen und Monate zeigen werden, was sich wirklich ereignet hat, weil die Geschichtsereignisse sich erst lange nach ihrem „objektiven“ Datum als solche konstituieren und festlegen lassen, da sich ihre wirkliche Bedeutung und ihr Charakter erst in späteren Reaktionen darauf zeigen werden.)
Heute sieht also die Situation so aus, daß offensichtlich nach langer Vorbereitungszeit und möglicherweise auch nach langem Zögern eine Aktion in Bewegung gesetzt wurde, die schon heute große Publizität genießt, die sich vermutlich noch vergrößern wird, und die offensichtlich zu einem großen Prozeß führen wird. Vielleicht sogar zu vielen Prozessen, ähnlich denen vor 1972. Ich möchte hier keine Details wiederholen, die Du in der 115. Mitteilung des „Komitees für die Verteidigung der zu Unrecht Verfolgten „ (VONS) selbst lesen kannst (falls Du dazu noch keine Gelegenheit hattest). Diese Aktion hat das VONS hart getroffen, zehn Mitglieder des Komitees sind gegenwärtig wegen ihrer Tätigkeit inhaftiert. In dieser Woche, am Dienstag, dem 5.6.79, wurde diesbezüglich eine offizielle Nachricht der ČTK in fast allen Zeitungen verbreitet. Am Abend des gleichen Tages ereignete sich jedoch eine weitere abscheuliche Tat, die man in bedeutungsschwerem Zusammenhang mit dem Angriff auf das Komitee sehen muß. Unter den verhafteten und noch heute in Haft gehaltenen Komiteemitgliedern sind nämlich auch zwei Sprecher der Charta ’77: Dr. Václav Benda und Jiří Dienstbier. Die letzte Sprecherin, Frau Zdena Tominová, wurde tagelang ständig von Männern und Frauen des Staatssicherheitsdienstes in Zivil beschattet, die mit zivilen Personenwagen ausgerüstet waren. So war es auch am besagten Tag, am Montag, dem 5. Juni 1979. Als Zdena Tominová von einem Besuch nach Hause zurückkehrte, wurde sie beim Betreten des Wohnhauses von einem großen maskierten Mann überfallen und gewürgt. Nachdem ihr gelungen war, diesem Gewalttäter zu entkommen und vor das Haus zu laufen, wurde sie von dem Mann eingeholt, zu Boden gerissen und, vielleicht um ihre Schreie zu unterbinden, mit dem Kopf auf den Bürgersteig geschlagen. Zum Glück wurde der Täter durch die herbeilaufenden Menschen aufgeschreckt und lief weg. (Weitere Einzelheiten kannst Du in der Mitteilung von Zdena Tominová aus dem Krankenhaus, in das sie mit einer Gehirnerschütterung eingeliefert wurde, sowie in den Mitteilungen von Julius Tomin an den Präsidenten der Republik und an das Innenministerium selbst lesen.)
Inzwischen sind aber die drei Sprecher der Charta ’77 wieder komplettiert worden. Mit einer Erklärung haben wir bis zum Dienstag gewartet, weil noch nicht ganz klar war, ob die zwei festgehaltenen Sprecher im Laufe des Montags entlassen würden. Dazu ist vielleicht eine kleine Erläuterung nötig: Nach unseren Gesetzen dürfen die Bürger nur maximal 48 Stunden festgehalten werden. In dieser Zeit muß entweder Anklage erhoben und eine Haft angeordnet werden, oder aber der Bürger muß freigelassen werden. Diese Bestimmung wird oft dazu mißbraucht, Bürgern ihre Bewegungsfreiheit für 48 Stunden zu nehmen, indem eine Untersuchung vorgetäuscht wird, um sie z.B. daran zu hindern, an einem Begräbnis teilzunehmen. Wenn die Anklage erhoben und die Untersuchungshaft angeordnet wird, hat der Staatsanwalt weitere 48 Stunden zur Verfügung, um über die Haftanordnung endgültig zu entscheiden. Auch hier läßt sich an Hand einer Reihe von Beispielen belegen, daß diese Bestimmung mißbraucht wird – siehe z.B. die „Luftballon-Aktion“.
Hier beginnt jedoch die Willkür in der Auslegung des Gesetzes. Im allgemeinen wird es seitens des Sicherheitsdienstes für legitim gehalten, die beiden 48-stündigen Fristen einfach zu addieren. In Wirklichkeit widerspricht dies dem Gesetz, weil die staatsanwaltliche Frist bereits vom Zeitpunkt der erhobenen Anklage zählt, und die wird häufig gerade in der letzten Minute der ersten 48-stündigen Frist nach der Verhaftung erhoben. Und so kommt es regelmäßig zu ungesetzlichen Überschreitungen der staatsanwaltlichen Frist um viele weitere Stunden. Das ist aber noch lange nicht das Ende der Willkür. Infolge einer ganz speziellen, gänzlich willkürlichen Auslegung der Gesetze werden in die staatsanwaltliche Frist die Samstage, Sonntage (und eventuellen Feiertage) nicht mit eingerechnet. Dies war gerade für unsere Überlegungen von entscheidender Bedeutung. Denn gemeinsam mit weiteren VONS-Mitgliedern waren zwei Sprecher der Charta ’77 am Dienstag, dem 29.5.79, in den frühen Morgenstunden festgenommen worden. Nach dem Gesetz hätten sie spätestens am Donnerstag, dem 31.5.79, ebenfalls morgens entlassen werden müssen. Sofern eine Anklage erhoben und die Haft angeordnet worden wäre, hätten sie bei negativer Entscheidung des Statsanwaltes spätestens am Samstag, dem 2. . 9, wiederum morgens freigelassen werden müssen. Weil man aber in einigen Fällen absolut gesetzwidrig in die staatsanwaltliche Frist den Samstag und Sonntag nicht miteinbezieht, war es möglich, daß es sogar erst am Montagmorgen oder gar im Laufe des Tages zur Entlassung kommen konnte (da auch der Zeitpunkt der Festnahme sehr oft mit einer viel späteren Uhrzeit angegeben wird, als dies in Wirklichkeit der Fall war).
So kam es, daß die beiden neuen (eigentlich alt-neuen) Sprecher der Charta ’77 erst am Montag im Laufe des Tages bekanntgegeben wurden. Es ist sehr wahrscheinlich, daß dies nicht schnell genug allgemein bekannt wurde, so daß der terroristische Angriff auf Frau Zdena Tominová anscheinend nur den Sinn haben konnte: die Ausschaltung des letzten Sprechers der Charta ’77. Der Fall Zdena Tominová erhellt jedoch den Angriff gegen das VONS-Komitee und wirft rückwirkend ein schärferes Licht auf die Ereignisse. Es ist auch charakteristisch, daß die amtlichen Repressionen gegen die Charta ’77 (gegen VONS usw.), die eine quasi legale Form annehmen (auch wenn in der Sache die Legalität sehr oft, sogar regelmäßig gebeugt, gedehnt, gebrochen und direkt verletzt wird), gewöhnlich von ausgesprochen illegalen, geheimgehaltenen resp. nichtöffentlichen und sehr oft direkt strafbaren Aktionen begleitet werden. Irgendwann wird es nötig sein, ein möglichst vollständiges Verzeichnis aller Straftaten zu erstellen, vor allem der Gewalttaten gegen die Unterzeichner der Charta ’77. Nur als Beispiel erinnere ich an die Verfolgung von František Kriegel und seiner Frau, von Jiři Hájek, an die Gehirnerschütterung von Pavel Kohout, an das gebrochene Bein von Pavel Landovský, an die beiden Entführungen in den Wald und den Sprengstoff unter dem PKW, an die gebrochenen Rippen nach einem Überfall u.ä. Regelmäßig werden dem Staatsanwalt oder direkt der Generalstaatsanwaltschaft diese Straftaten gemeldet, aber bislang ist in keinem einzigen Fall der Täter ermittelt und gefaßt worden. Mir ist außerdem nicht einmal bekannt, daß überhaupt regelmäßig Ermittlungen eingeleitet worden wären. (In einigen Fällen ist dies geschehen; in einem Fall war die Ermittlung sogar sehr gründlich, aber nach einer gewissen Zeit wurde sie plötzlich eingestellt, obwohl sie nicht ganz ohne Ergebnisse hätte bleiben können.)
Ich denke nicht, daß diese und ähnliche Straftaten irgendwie in einem direkten Zusammenhang mit den offiziell geplanten Repressionen gegen die Vertreter der Menschen- und Bürgerrechte und gegen die Initiative für die Einhaltung der Gesetze in unserem Lande gebracht werden können. Nach meinem Urteil kann jedoch kein Zweifel darüber bestehen, daß in unserem Land geheime Gruppen existieren, die in verschiedenem Maß unsere Bürger terrorisieren, sich ihre Nachgiebigkeit erzwingen und gegen all jene sehr scharf vorgehen, die des Nonkonformismus verdächtigt werden. Ihre Interessen und Ziele sind materielle, aber nach außen hüllen sie sich in ein ideologisches Mäntelchen. In den Diensten dieser Gruppen stehen sowohl einzelne Personen wie auch ganze Gruppen, deren Aktivitäten gänzlich illegal und im technischen Sinne oft terroristisch sind. Dieser Zustand ist die Quelle für eine riesige Bedrohung der ganzen Gesellschaft, weil er nicht zugegeben wird, und die Mehrheit der (nicht betroffenen) Bürger sich dessen in seiner Konkretheit überhaupt nicht bewußt ist. Und es existiert keine Kraft, die diesem Zustand offiziell entgegenwirken könnte (gerade, weil er gar nicht erst zugegeben wird). Wenn dann eine Gruppe von Bürgern auftritt, die mit ihren sehr begrenzten und unzureichenden Mitteln Informationen über solche Fälle zu sammeln beginnt (und das war nicht einmal das Hauptziel des VONS-Komitees, das in erster Linie auf die gesetzwidrige Verfolgung der Bürger von öffentlichen, ja sogar amtlichen Positionen aus hingewiesen hat), müssen sich jene illegalen Gruppen äußert bedroht und dazu gezwungen fühlen, gegen diese Bürger etwas zu unternehmen. Einerseits versuchen sie Situationen zu provozieren, in denen es zu offiziellen Eingriffen kommen könnte; weil sie ihre Leute auch in wichtigen Funktionen haben, mißbrauchen sie die Vorschriften und die Gesetze, indem sie sie willkürlich auslegen, und erzielen damit repressiven Druck und auch außergesetzliche Verfolgung mit Hilfe ganz offizieller Institutionen. (Und dies geschieht vor allem unter Zuhilfenahme der ideologischen Begründung, daß diese Aktionen „gegen den Klassenfeind“ gerichtet seien, wodurch sie gleichzeitig auch solche Menschen einzuschüchtern versuchen, die es wagen sollten, sich gegen sie zu stellen.) Auf diesem Wege nehmen sie großen Einfluß auf den ganzen Lauf des ganzen Staatsapparates, der vielen Bürgern dann als ein Apparat erscheinen kann, der vollständig auf der Seite dieser illegalen, beutegierigen, faktisch außerhalb des Gesetzes stehenden Gruppen und Einzelnen steht. Deshalb ist es auch nötig, solche Einschüchterungsmaßnahmen anzuwenden, die sich völlig den Möglichkeiten der offiziellen Organe entziehen. Und hier beginnen die Formen eines weniger massiven Terrors, der jedoch hie und da in auffälligere, nämlich direkt verbrecherische Form übergeht. Die Parallelität dieser beiden Mittel, mit denen sich diese illegalen Gruppen an den Mitteln der staatlichen Macht parasitär beteiligen und somit gesetzwidrig einen Einfluß auf die gesellschaftliche Entwicklung nehmen (die sie – das ist evident – im höchsten Maße bremsen, paralysieren und demoralisieren), ist charakteristisch und erzeugt eine Situation, in der der Kampf gegen eine solche Gefahr äußert erschwert wird und ein außerordentlich großes Risiko für die Bürger mit sich bringt. Das wird z.B. in der Analyse der offiziellen Mitteilung der ČTK offenkundig.
Angesichts dessen, daß die Entscheidung des Gerichts noch nicht erfolgte, hätte diese Nachricht der ČTK äußerst objektiv sein müssen, und vor allem hätte sie sich vor einer einseitigen Einflußnahme auf die öffentliche Meinung sowie auf den Gerichtsverlauf und vor allem auf die Richter selbst hüten müssen. Das genaue Gegenteil ist aber der Fall. In der Nachricht wird von einer organisierten Tätergruppe (!) gesprochen, die „längere Zeit permanent verlogene Informationen erfand, sie dann vervielfältigte und auf dem Gebiet der ČSSR und auch im Ausland mit dem Ziel verbreitete, öffentliches Mißtrauen gegenüber der Republik und den staatlichen Organen hervorzurufen“. Wer hat darüber entschieden, daß diese Informationen verlogen sind? Solange dies das Gericht nicht auf der Grundlage einer sachlichen Beurteilung feststellt (und nicht, wie man es gewöhnlich macht und wie es 1972 gemacht wurde, wo z.B. im Verlauf beider Gerichtsverfahren in unserem Fall der Text der angeblichen Flugblätter nicht ein einziges Mal zitiert wurde und wo nicht bewiesen wurde, daß er den Gesetzen widerspreche), ist das eine unzulässige Verleumdung und eine Beeinflussung des Gerichts und der Öffentlichkeit. Im Gegenteil beruhten die Mitteilungen des VONS-Komitees immer auf Fakten, waren sehr nüchtern formuliert, und die Bewertungen waren stets auf ein bis zwei Sätze beschränkt, wovon sich jeder überzeugen kann, da die Mitteilungen immer veröffentlicht und sogar den Ämtern zugeschickt wurden. Die offizielle Nachricht der ČTK hat den Namen des VONS-Komitees verschwiegen, wodurch sie die Öffentlichkeit verunsicherte, da sie verheimlichte, um welche Aktivität einer „organisierten Gruppe“ es sich handelt.
In der Nachricht der ČTK wird sogar unerlaubterweise die Bewertung der Absichten vorweggenommen, die die Mitglieder des nicht genannten Komitees mit ihren Aktivitäten angeblich verfolgten, weil es dort nämlich heißt, „mit dem Ziel, in der Öffentlichkeit Mißtrauen gegenüber der Staatsverfassung der Republik und ihren Organen hervorzurufen“. Die oben erwähnte charakteristische Parallelität der legalen und der illegalen Mittel wird auch in dieser Formulierung offenkundig.
Das Komitee hat kein einziges Dokument, keine einzige Mitteilung veröffentlicht, in der unsere Staatsverfassung kritisiert worden wäre. Es ist jedoch zur Gewohnheit geworden, wenn jemand die gesetzwidrigen Handlungen der staatlichen Organe kritisiert, dies sofort als einen Angriff auf die Gesellschafts- und Staatsordnung abzuqualifizieren. Das ist jedoch eine willkürliche, der Verfassung und den Gesetzen widersprechende Auslegung. Zudem ist es nicht notwendig, Mißtrauen gegenüber der Arbeit der staatlichen Organe hervorzurufen. Es existiert bereits seit den 50er Jahren, als gerade die staatlichen Organe so viele Gesetzwidrigkeiten und direkte Justizverbrechen begangen haben, daß es für jeden Bürger eine bleibende Mahnung ist, auf der Hut zu sein, wenn sich Anzeichen einer Rückkehr, sei es auch nur einer teilweisen, zu ähnlichen Verhältnissen zeigen sollten. Wenn also eine Gruppe von Bürgern existiert, die ständig die Gesetzwidrigkeiten und Übergriffe der staatlichen Organe verfolgt, ist das sehr verdienstvoll und steht im Interesse der ganzen Gesellschaft und damit auch jedes einzelnen Bürgers. Solchen Menschen sollte umfangreich und von allen Seiten Hilfsbereitschaft entgegengebracht werden, damit sie ohne Hindernisse arbeiten können. Sie sollten nicht nur von der Öffentlichkeit Unterstützung erfahren, sondern auch von den staatlichen Organen; die Angestellten des Innenministeriums und des Justizministeriums sollten beauftragt werden, mit diesen kritikfähigen Bürgern zusammenzuarbeiten und ihnen ein Maximum an Informationen zukommen zu lassen, damit sie ihre Arbeit möglichst gründlich ausführen können. Aber das genaue Gegenteil ist wiederum der Fall. Dadurch, daß die Aktivität der kritikfähigen Verteidiger der Legalität durch die staatlichen Organe nicht akzeptiert wird, sondern im Gegenteil verfolgt wird, wird gerade die Repression gegen sie eine neue wichtige Quelle des Mißtrauens werden, das der Bürger gegenüber den staatlichen Organen und ihrer Korrektheit und Gesetzestreue bereits hegt. Dieses Mißtrauen wächst insbesondere bei denjenigen, die sich irgendwann einmal mit dem Text vertraut gemacht haben, in dem die Entführung eines Autobusses mit Studenten aus Říčany bewertet wurde; diese Lektüre gibt ihnen heute die Möglichkeit, die verlogene Behauptung, daß die Täter „verteidigt“ worden seien, persönlich zu beurteilen.
Aber nehmen wir für kurze Zeit an, daß die „ständige“ Aktivität des „Komitee für die Verteidigung der zu Unrecht Verfolgten“ wirklich widerrechtlich und strafbar war, und daß darauf diese Bürger „einige Male mit Nachdruck hingewiesen“ wurden, daß sie aber trotzdem ihre Aktivitäten „über längere Zeit“ weiter fortgesetzt haben (von Ende 1978 bis heute hat das Komitee 115 öffentliche Erklärungen abgegeben, die ebenfalls regelmäßig unseren Ämtern zugeschickt wurden), dann müssen wir uns fragen, wie es möglich war, daß unsere Staatsorgane so lange mit ihrer Entscheidung gewartet haben? Etwa deshalb, weil die Sache bei weitem nicht so klar war und weil sie befürchteten, daß eine neue Gesetzwidrigkeit höchst ungünstige innen- und außenpolitische Folgen gehabt hätte? War es etwa notwendig, auf günstigere Zeiten zu warten, in denen die Aufmerksamkeit bei uns und in der Weltöffentlichkeit durch ein Ereignis abgelenkt wäre, wie z.B. durch den Besuch des Oberhauptes der katholischen Kirche in seinem Heimatland Polen? Oder ging es eher um einen kleinen Versuch, die Verhandlungsfortschritte in Genf fast am Vorabend der Unterzeichnung des SALT-II-Abkommens zu torpedieren? Gegner der friedlichen Koexistenz und der Zusammenarbeit der Länder mit unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Systemen sind sowohl in den kapitalistischen wie auch in den sozialistischen Ländern zu finden. Und Anhänger eines neuen kalten Krieges finden sich eben auch bei uns. Es ist ganz gut möglich, daß sie – wenn sie nichts anderes bewirken könen – wenigstens nach Kräften provozieren wollen. Es kann doch nicht der geringste Zweifel daran bestehen, daß die möglichen Prozesse gegen die Verteidiger der Legalität und der Menschenrechte sowohl bei uns zu Hause als auch im Ausland vielfache Kritik hervorrufen und auch zum Gegenstand der Verhandlungen in Madrid im nächsten Jahr werden würden. Wann soll eigentlich der Prozeß stattfinden? Vielleicht noch im August, in der „toten“ Sommersaison? Und wie schnell sollen die Berufung und das Gerichtsverfahren der zweiten Instanz erledigt werden? Hegt vielleicht jemand Illusionen, daß es bis Madrid in Vergessenheit gerät?
Manchmal habe ich den Eindruck, daß jemand das alles auf dem Gewissen hat, der eine Massenbewegung des öffentlichen Widerstandes gegen das jetzige Regime im großen Ausmaß provozieren möchte. Das muß nicht unbedingt durch gute Absichten motiviert sein; denn wenn es zu einem Massenausbruch der Unzufriedenheit und des Widerstandes kommen sollte, wäre das für jene oben erwähnten illegalen Gruppen eine sehr willkommene Gelegenheit, mit ihren Gegnern aus den Reihen der Verteidiger der Menschen- und Bürgerrechte und der Legalität blutig abzurechnen. Aber niemand soll sich durch die Vorstellung Hoffnungen machen, daß die Härte der Eingriffe hier etwas ausrichten könnte. Persönlich bin ich ein Anhänger eines langsameren Weges zur Verbesserung, weil dessen Ergebnisse am sichersten und für die Zukunft am besten sind. Harte Mittel werden jedoch notwendigerweise eine harte Reaktion hervorrufen. Es reicht, sich ein wenig von der Geschichte belehren zu lassen. In den Händen der Repräsentanten des Regimes liegt nun die Entscheidung (nota bene, Mitentscheidung) darüber, wieviele Opfer nötig sein werden, um die Würde des menschlichen und bürgerlichen Lebens in unserem Land (und im ganzen Ostblock) wiederherzustellen. Auf die Dauer läßt sich das Anwachsen der gesellschaftlichen Kritik nicht verlangsamen oder stoppen. Das ist unsere Gewißheit, und in dieser Gewißheit haben wir standgehalten und werden es auch in Zukunft tun. Vielleicht wird das manchmal abschrecken; in der Regel ist es eben so. Aber niemals werden sich alle fürchten, und weitere werden zu uns stoßen. Unser Kampf für die Menschenwürde, für die Respektierung der Menschen- und Bürgerrechte, für die Freiheit aller als „die Bedingung für die freie Entwicklung aller“ läßt sich nicht aufkündigen und wird niemals enden. Wir sind bereit, auch Opfer zu bringen: Denn uns geht es um eine große Sache, für die es sich lohnt zu leben und zu sterben, wie schon am Anfang unseres Kampfes Professor Jan Patočka sagte.
Ob es nun zum Protest kommt oder nicht, eine Sache ist offenkundig: Niemandem in unserem Lande noch auf der ganzen Welt, der mit ein wenig Mühe all die Ereignisse verfolgt hat, entgeht, daß bereits heute das gegenwärtige Regime und seine Repräsentanten vor dem Gericht der Geschichte stehen. Die höchsten wie die niedrigsten Repräsentanten des Staates sind und werden nicht ohne Verantwortung dafür sein, daß als Antwort auf die Kritik der ungerechten Verfolgung der Bürger auch die Kritiker selbst verfolgt werden. Sollte es wirklich dazu kommen, dann wird das Gerichtsurteil paradoxerweise umgedreht. Dann würde das Urteil über die angebliche Schuld der Mitglieder des „Komitees für die Verteidigung der zu Unrecht Verfolgten“ in Wirklichkeit ein Urteil über den Charakter des gegenwärtigen Regimes und der Arbeit der staatlichen Organe sein. Das Regime und seine Repräsentanten können durch immer neue Gerichtsurteile weitere und neue Kritiker zu Gefängnis verurteilen und sich das Recht des gesetzlichen Schutzes aneignen, das laut Gesetz nur der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung zusteht und nicht den existierenden politischen und staatlichen Organen. Das Regime wird damit ohne jeden Zweifel nur eines bewirken, nämlich der Öffentlichkeit beweisen, wie unfähig es ist, die Entwicklung der Gesellschaft auf den Weg der Gerechtigkeit und des Rechts zu führen, auf den Weg, zu dem es sich verfassungsmäßig bekannt hat, aber den es durch seine Taten mit einer Lawine der Ungerechtigkeit zuschüttet.
Noch an eine Sache sollte erinnert werden. Im Buch der Sprüche (14, 34) wird gesagt: „Gerechtigkeit erhöht ein Volk, der Völker Schmach ist die Sünde.“ Das ist tiefe Wahrheit. Durch ein gerechtes Gerichtsurteil wird das ganze Volk, die ganze Gesellschaft erhöht, wogegen das ungerechte Urteil zur Schmach für das ganze Volk und die ganze Gesellschaft wird. Die 50er Jahre haben wir bislang deshalb nicht überwinden können, weil die damalige Schmach auf das ganze Volk, auf beide Völker – Tschechen und Slowaken fiel, weil sie geschwiegen und nicht protestiert haben. Das Regime kann niemals das Gegenteil von dem tun, was die ganze Gesellschaft will und wohinter die Mehrheit der Bürger unerschütterlich steht. Das Regime kann nur das machen, was die Bürger gerade noch so ertragen können (obwohl mit heimlichem Murren). Aber gerade dadurch, daß sie es ertragen, daß sie sich um die öffentlichen Angelegenheiten nicht ausreichend kümmern, daß sie sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten bemühen und nicht genug Sinn für die Solidarität mit den zu Unrecht Verfolgten und Verurteilten haben, laden sie diese große Schmach auf sich selbst. Die bürgerliche Verantwortung und das bürgerliche Selbstbewußtsein gebieten jedem einzelnen, nicht abzuwarten und sich nicht vorsichtig zu verstecken, sich nicht taub und blind zu stellen und nicht so zu tun, als ob er nicht wüßte, worum es geht. Wenn sich schon ein paar mutige Menschen fanden, die begonnen haben, sich stellvertretend für uns alle darum zu kümmern, welchen Ungerechtigkeiten manche unserer Bürger ausgesetzt sind, müssen wir ihnen dafür zutiefst dankbar sein und dürfen ihnen unsere Solidarität und Hilfe nicht verweigern.
Dein
Ladislav Hejdánek
Prag, den 7.6.1979