Politische Prozesse und die Bedeutung der Charta ’77 für die Zukunft
| docx | pdf | html ◆ article, German, origin: 27. 12. 1979
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  • Dopis příteli č. 57

  • Politische Prozesse und die Bedeutung der Charta ’77 für die Zukunft

    Lieber Freund,

    heute schreibe ich Dir den letzten Brief in diesem Jahr. Mir liegen zwei Probleme am Herzen, die sich wegen ihrer Dringlichkeit in den Vordergrund schieben. Vor allem ist es das Schicksal der sogenannten „Prager Zehnergruppe“, und zwar die Urteilsbestätigung des Städtischen Gerichts in Prag im Berufungsverfahren vor dem Obersten Gericht, das gerade vor einer Woche, am 20.12.79, stattfand, und es ist die Freilassung der übrigen vier Beschuldigten aus der Haft zwei Tage später. Außerdem ist die Stelung der Charta ’77 am Ende des driten Jahres ihres Wirkens zu beurteilen. Beide Themen verbindet ein tiefer sachlicher und gedanklicher Zusammenhang.

    In meinem ersten diesjährigen Brief habe ich Dir geschrieben, daß „dieses Jahr die ersten Anzeichen der Wende zum Besseren bringen könnte“. Haben die Ereignisse dieses Jahres meine Erwartungen erfüllt? Wenn irgend jemand bei den Unterzeichnern der Charta ’77 eine Befragung durchführen würde, wäre wahrscheinlich ihr Ergebnis keineswegs eine übereinstimmende Beurteilung unserer heutigen Situation. Ungern würde ich den paradoxen, aber zutiefst wahren Gedanken mißbrauchen, daß nämlich die tiefste Hoffnung und neue Perspektiven gerade im Augenblick der „Wende zum Schlechteren“ geboren werden, weil ich befürchte, daß wir durch die „Wende zum Schlechteren“ noch lange nicht hindurch gegangen sind. Dennoch bin ich überzeugt, daß in diesem Jahr die Charta ’77 bislàng ihre beste Position erreicht hat (wenn auch sicherlich nicht durch ihre eigenen Verdienste), und – was am wichtigsten ist -, daß diese wesentlich stärkere Position der Charta ’77 nicht einmal die Stärke unserer ganzen bürgerlichen Gemeinschaft anzeigt, sondern eher die allgemein veränderte gesellschaftliche Situation, und zwar die Veränderung zum Besseren. Wenn ich dabei von den Veränderungen „zum Besseren“ spreche, meine ich damit nicht einfach irgendwelche Verbesserungen des gesellschaftlichen Lebens, die man objektiv nachweisen könnte. Im Gegenteil, nachweisen lassen sich so manche Verschlechterungen (über vieles habe ich Dir im übrigen schon geschrieben). Deshalb erscheint es notwendig, einige Aspekte des sich neu abzeichnenden Geschehens etwas genauer zu betrachten. Als am Ende des Jahres 1971 die Staatssicherheit eine riesige Verhaftungsaktion in Gang setzte, in deren Verlauf viele Dutzende von Bürgern festgenommen, einige Dutzend in Untersuchungshaft genommen und anschließend viele von ihnen in einer Serie von Prozessen zu Haftstrafen verurteilt wurden, einige davon zu mehr als sechs Jahren Haft, war das eine Einschüchterungsaktion, wobei die Ahndung der angeblichen Delikte ein bloßer Vorwand war. (Damals ging es um ein Informationsflugblatt, das kurz vor den Wahlen die Bürger daran erinnern wollte, daß die Teilnahme an den Wahlen nach unseren Gesetzen nicht Pflicht ist und daß das Fernbleiben nicht strafrechtlich geahndet werden kann). In den Urteilen (und übrigens schon in den Anklagen) argumentierte man damals zwar mit der höchsten Gefahr für die Gesellschaft durch diese Aktivität, aber in Wirklichkeit war die Gefahr minimal. Die einzige Gefahr bestand damals darin, daß nach dieser im ganzen zahnlosen Aktion weitere und weniger harmlose Aktionen hätten folgen können, wenn die Aktivisten nicht die energische und weitere Bürger rechtlich abschreckende Reaktion der Staatsorgane erfahren hätten. Die gesellschaftliche Situation war damals immer noch durch den Schock vom August 1968 und die folgende Enttäuschung aller nationalen Hoffnungen gekennzeichnet, so daß das Ergebnis tatsächlich ein machtpolitisch geplantes Einfrieren jeglicher spontanen Initiative der Bürger war, und das auf viele Jahre hinaus. In diesen Jahren hat die Depression des politischen und überhaupt des ganzen gesellschaftlichen Lebens in unserem Land ihren Höhepunkt erreicht. Es ist höchst wahrscheinlich, daß der Erfolg der demonstrativen Einschüchterung wesentlich größer gewesen wäre, wenn sich die politische Konstellation in der Welt und auch im sowjetischen Block selbst nicht verändert hätte.

    Die Entstehung der Charta ’77 (und ihre erste Erklärung) Anfang Januar 1977 war im Gegenteil überhaupt kein willkommener Vorwand für neue Repressionen, sondern erzeugte eine Erschütterung, ja einen Schock in den führenden politischen Kreisen und im Parteiapparat, so daß auch die ersten Reaktionen durch äußerste Nervosität und fast Hysterie geprägt waren. Während 1971 die Sicherheitsorgane die Situation nahezu von Anfang an fest unter Kontrolle hatten, weshalb es ihnen auch gelang, „präventiv“ einzuschreiten und das „Schlimmste“ zu verhindern, versagten sie diesmal, und ihre erste Aktion unterstrich und bestätigte der ganzen Welt die große Bedeutung dieser Ereignisse. Die folgende riesige Kampagne der Massenmedien hat eine solche Reklame für die Charta ’77 gemacht, wie sie niemand hätte bezahlen können. Das hat jedoch von Anfang an eine veränderte Situation geschaffen. In den Jahren 1971 und 1972 wirkte die Repression in einer beabsichtigten Richtung, wogegen im Jahre 1977 diese Repression vorwiegend in die umgekehrte Richtung wirkte, als eigentlich beabsichtigt war. Sicherlich wäre es falsch, die Ursache dieser unbestrittenen Erfahrung in der Unfähigkeit des Staatsapparates und der Massenmedien zu suchen; sie stehen außer Zweifel, doch die entscheidende Ursache lag woanders, nämlich in der gedanklichen Verankerung und der gedanklichen Position der neuen Bürgergemeinschaft. Ihr ist es zu verdanken, daß es nicht leicht war, ja es war sogar unmöglich, die Charta ’77 durch irgendwelche Fehlinterpretationen, Desinformationen und Diffamierungen zu erledigen. Dies alles wurde damals mit großem Aufwand versucht, zeitigte aber nur armselige Ergebnisse. Ein außerordentlich wichtiger Umstand war die relativ große Zahl der ersten Unterzeichner, obwohl die Charta ’77 mit ihrer Aktion keineswegs einen Vorrang im sowjetischen Block erreicht hatte (der gehört unbestritten unseren sowjetischen Freunden), aber sie war in ihrer Art, nämlich wegen der großen gesellschaftlichen Basis, ein einmaliges Phänomen, d.h. sowohl bezüglich der Anzahl wie auch der Zusammensetzung derer, die sich zu ihr offen bekannten und mit ihrer Unterschrift die Bürgschaft für sie übernommen hatten. Und letztlich erfuhr die Charta ’77 eine besonders richtungsweisende Bedeutung und Sendung: Sie wurde für die Zukunft die Basis der Zusammenarbeit (und zugleich die Grenze der künftigen Auseinandersetzungen) der verschiedenen politischen, kulturellen und geistigen Strömungen, die sich für die kommende gesellschaftliche Entwicklung verantwortlich fühlten.

    Die staatlichen Organe sind freilich auf keinen besseren Gedanken gekommen, als mit Repressionen zu antworten. Anfangs ging es um Repressionen, die irgendwie getarnt wurden (z.B. das Einbehalten von Führerscheinen oder Fahrzeugscheinen, das Abschalten oder die Störung von Telefonanschlüssen, kleinere bis mittlere Gewaltanwendung und in den fragwürdigsten Fällen anonyme, vom Gericht angeordnete Zwangsräumung der Wohnung, mehrtägige Haft in den Zellen der vorläufigen Verwahrung, Stellenkündigung oder Zuteilung von schlechterer Arbeit usw.usw. Später kamen dazu auch Fälle von Strafverfolgung und Regressansprüchen für vorgebliche oder provozierte Delikte, wie z.B. Widerstand gegen die Staatsgewalt u.ä.). Aber als sichtbar wurde, daß die Ergebnisse nicht zufriedenstellend waren, hat die Staatsmacht einen direkten und offenen Angriff versucht, von dem sie sich die Liquidierung der Charta ’77 versprach. Es ist charakteristisch, daß dieser direkte und offene politische Angriff nicht gegen die Charta ’77 selbst geführt wurde, sondern gegen VONS und dann auch nicht gegen das gesamte Komitee, sondern ursprünglich gegen etwa 17–18 Mitglieder, von denen eine Reihe nach wenigen Tagen wieder freigelassen wurde, wogegen die übrigen zehn Mitglieder, die sogenannte „Prager Zehnergruppe“, als abschreckendes Beispiel ausgewählt wurden. Diese bereits von Anfang an verfahrene Aktion war eigentlich Folge eines Kompromisses, den die Staatsmacht angesichts des großen Drucks der Weltöffentlichkeit und der internationalen Politik der Länder, die in Helsinki das bekannte Dokument unterschrieben haben, schließen mußte. Denn mit ihrer Aktion verursachte sie eine wachsende Meinungsverschiedenheit, sogar Streitigkeiten in der eigenen politischen Führung sowohl bei uns als im ganzen Ostblock. Die Urteile sollten exemplarisch ausfallen, das bedeutet hart, aber im letzten Moment wurden sie fast bis auf die Hälfte (entgegen dem Antrag der Staatsanwaltschaft) reduziert. Außerdem wurden nicht alle zehn Angeklagten zugleich verurteilt, sondern nur sechs, wogegen die übrigen vier auf die zweite „endgültige Verhandlung“ in der Untersuchungshaft warteten. Ein Mammutprozeß gegen zehn Chartisten gleichzeitig erschien selbst unseren Staatsorganen als undurchführbar. Und als unsere Auslandsvertretungen und auch unsere führenden staatlichen Organe mit der Reaktion der übrigen Welt konfrontiert wurden, die diesen Prozeß für unsinnig und ungesetzlich hielt, kam es unter den staatlichen Organen über das weitere Vorgehen zum Streit.

    Ich muß gestehen, daß das, was ich erwartet habe, nicht eingetreten ist. Ich hielt es für wahrscheinlich, daß das Oberste Gericht die Urteile der niederen Instanz geringfügig herabsetzt (z.B. daß es bei ein oder zwei Angeklagten die Strafe um ein viertel oder ein halbes Jahr verringert). In Wirklichkeit kam es zur vollen Bestätigung des ursprünglichen Strafmaßes. Die Inkonsequenz zeigte sich anderswo: Zwei Tage nach dem Berufungsprozeß wurden die vier restlichen Mitglieder der ausgewählten „Prager Zehnergruppe“ aus der Haft entlassen (Albert Cêrný, VONS-Mitglied aus Brünn, der in der ersten Instanz ebenfalls in einem gesonderten Prozeß verurteilt worden ist, muß jedoch weiterhin dazu gerechnet werden). Dieses Berufungsverfahren sollte die Unnachgiebigkeit eines Gerichtsprozesses und seine Unbeeinflußbarkeit durch die öffentliche Meinung dokumentieren (diesmal auch durch die inländische, da die Berufung an das Oberste Gericht mehr als 700 unserer Bürger unterschrieben hatten, wobei eine stattliche Anzahl von ihnen nicht zu den Unterzeichnern der Charta ’77 gehörte). Die Verfolgung der Entlassenen war damit natürlich nicht zu Ende, im Gegenteil, sie wurden sehr deutlich auf die Möglichkeit aufmerksam gemacht, daß sich neue Haftgründe sicherlich bald finden lassen würden. Dennoch geht es unzweifelhaft um den Versuch, der Entscheidung des Obersten Gerichts die schärfste Spitze abzubrechen; denn diese Entscheidung hätte wiederum einen Anlaß zur Provokation der Weltöffentlichkeit geboten.

    Im Gegensatz zum ersten Lebensjahr der Charta ’77 kam es also zu einer weiteren Verschiebung. Die Aktion der Staatssicherheitsorgane hat in diesem Jahr der Charta ’77 noch mehr zur Berühmtheit verholfen und ihren Ruf nicht nur zu Hause, sondern in der ganzen Welt gefestigt, und somit eigentlich die Reklame aus dem Jahr 1977 nur noch verbessert und vertieft. So haben die Staatssicherheitsorgane wiederum noch wirksamer gegen ihre eigentlichen Absichten und Vorhaben gehandelt. Eine wichtige Neuheit ist jedoch die Inkonsequenz und die Widersprüchlichkeit der ganzen Aktion. Von allen ursprünglichen VONS-Mitgliedern ist grob geschätzt nur die Hälfte beschuldigt worden, und von den zehn Beschuldigten müssen sich nur sechs vor Gericht verantworten (obwohl für die vier übrigen die Angelegenheit noch nicht beendet ist); die vier verfolgten Mitglieder wurden nach siebenmonatiger Haft, nur zwei Tage nach dem Berufungsverfahren der ersten sechs Mitglieder auf freien Fuß gesetzt. Und wenn wir uns den Wortlaut der Anklageschrift, den Verlauf beider Verfahren und die Urteilsbegründung anschauen, dann finden wir nur ein angemessenes Wort: ein Debakel, ein Debakel von Weltausmaßen.

    Was für ein praktisches Ergebnis können wir für uns selbst feststellen? Für die elf verfolgten VONS-Mitglieder haben sich dreizehn neue Mitglieder zur Mitarbeit gemeldet und dies öffentlich bekannt gegeben. Für die zwei verhafteten und später verurteilten Sprecher der Charta ’77 haben zeitweilig die bereits zurückgetretenen Sprecher diese Funktion wieder übernommen, und in den nächsten Tagen werden sie durch ganz neue Sprecher abgelöst. Die Arbeit geht weiter.

    Es wäre natürlich ein Fehler, auf der Seite der staatlichen und politischen Organe nur Verluste zu sehen und auf der Seite der Charta ’77 nur Gewinne. Wir müssen die Unterschiede und Widersprüche zwischen der politischen Orientierung und den politischen Konzeptionen der einzelnen Gruppen der Staatsführung sehr sorgsam und umsichtig beobachten. Uns muß bewußt werden, daß die Inkonsequenz der letzten großen Aktionen der Staatsorgane auch ein Erfolg der Vernünftigen oder zumindest einiger vernünftiger Teile des Establishments ist. Wir hatten sogar Gelegenheit, vernünftigen und anständigen Mitarbeitern der Staatssicherheit zu begegnen. Ohne diese Menschen würden die sinnlosen und verrückten, harten offiziellen Reaktionen andauern und schließlich auf Grund der Nervosität sich auch in den internationalen und heimischen Beziehungen fortsetzen, die allerdings schon jetzt laut nach gut durchdachten und staatsmännischen Maßnahmen rufen. Immer mehr von denen, die an der Macht teilhaben und in hohen Funktionen stehen, werden gezwungenermaßen akzeptieren, daß die Versuche, die Charta ’77 zu liquidieren, ohne Zukunft sind, weil diese Liquidierung in prinzipiellem Widerspruch zu den gesellschaftlichen Bedürfnissen und zur inneren Entwicklung nicht nur bei uns, sondern auch in der Sowjetunion, im ganzen Ostblock und in ganz Europa und der Welt steht. Und wir müssen vernünftigerweise damit rechnen, daß zumindest einige dieser Vernünftigen oder zumindest Vernünftigeren kurz über lang unsere Partner werden könnten (oder wenigstens Partner von einigen von uns). – Aber das ist gerade der Punkt, der uns logischerweise zu einigen ungünstigen Erscheinungen innerhalb unserer nicht offiziell anerkannten Bürgergemeinschaft führt.

    In einigen Kreisen unserer Gemeinschaft zeigt sich eine auffällige Unlust, die eigene Energie und Zeit für die Charta-Tätigkeit zu opfern. Sehr bedauernswert ist vor allem die Weigerung, eine Sprecherfunktion zu übernehmen. Ich verstehe, daß sich keiner gern Unannehmlichkeiten aussetzt, die durch nichts anderes aufgewogen werden als nur durch das Bewußtsein, die eigene Bürgerpflicht geleistet zu haben (und ich bin sicher, daß viele Menschen über diese etwas pathetische Formulierung spötteln werden). Aber die Charta ’77 ist ein so großartiges und außergewöhnliches Phänomen in unserer Nachkriegsgeschichte, daß die Weigerung prominenter und renommierter Unterzeichner, über deren künftige Universitätslaufbahn kein Zweifel besteht, die sicherlich risikoreiche Funktion des Sprechers der Charta ’77 auf sich zu nehmen, von politischer Kurzsichtigkeit und vielleicht auch von problematischer Karriereplanung zeugt. Die bisherige Bilanz ist wahrlich nicht ermutigend. Der eine Sprecher, Prof. Jan Patočka, starb bei der Ausübung seiner Funktion nach mehrtägigen Verhören. Der andere Sprecher, Vaclav Havel, verbrachte schon zweimal hintereinander einige Monate in Haft, wurde schon zweimal verurteilt, und jetzt erwarten ihn wieder einige Jahre Gefängnis (obwohl niemand von uns damit rechnet, daß er die ganze Strafe absitzen muß – aber das weiß man vorher nie). Die anderen zwei Sprecher, Vaclav Benda und Jiří Dienstbier, wurden jetzt gemeinsam mit Vaclav Havel zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt, und kurz davor wurde bereits Jaroslav Šabata ebenfalls zu mehreren Jahren verurteilt; er muß jetzt noch fast das ganze nächste Jahr im Gefängnis verbringen. Das bedeutet eine drastische Verfolgung von fünf der bisher insgesamt neun Sprecher, wobei die übrigen vier auch schon entsprechende Erfahrungen machen mußten. Ich denke aber, daß es hier nicht in erster Linie um eine Frage der Tapferkeit geht, sondern um die politische Einschätzung der Situation, und gerade die halte ich für falsch und auch für ein wenig bedenklich.

    Auch unter den jüngeren und jungen Unterzeichnern läßt sich eine gewisse Hemmung und Depression beobachten. Eine Reihe von ihnen hat die Geduld und die Hoffnung in einem Maße verloren, daß sie dem Druck nicht standhielten und jetzt auswandern wollen. Das ist freilich sehr verständlich, umso mehr, da sie nicht genügend Unterstützung bei den Älteren und politisch Umsichtigeren gefunden haben. Für junge Menschen sind Vorbilder und überzeugende Worte wichtig. Nicht bei ihnen dürfen wir primär irgendwelche Unzulänglichkeiten sehen; diese sind nur der Spiegel anderer Fehler. Es ist charakteristisch, daß – wie aus anderem Munde schon konstatiert wurde – die Grupe der ehemaligen Komunisten Nachwuchsmangel hat (wie im übrigen die ofiziele KPC auch). Die bedeutende Grupe der Schriftsteller und anderer Künstler zeichnet sich – begreiflicherweise durch einen starken Individualismus und den Unwillen zur politischen (wenn auch unpolitisch politischen) Arbeit aus. Die Mehrheit der fachlich prädestinierten älteren Unterzeichner versagte bei den Versuchen, eine vom Staat und seinen Mittlern unabhängige Schulungs- und Bildungsinstitution zu konstituieren. Es gibt schon eine ganze Reihe von solchen Bildungskreisen oder Seminaren, aber es sind immer noch zu wenige; vor allem ist es nicht gelungen, renommierte ehemalige und nicht mehr aktive Hochschullehrer einzugliedern (hier bleiben wir weit hinter unseren polnischen Freunden zurück). Erfreulicher sieht die Situation im Bereich der unterschiedlichen Samisdat-Literatur aus. Der Hauptmangel ist hier jedoch das Fehlen der Kritik und in Fachdisziplinen der Mangel eines Fachgesprächs und prinzipieller Polemik, an der niemand so recht Interesse zeigt und zu der keiner Lust hat. In der Charta ’77 ist auch ein ziemlich großer Prozentsatz von vorwiegend (aber nicht ausschließlich) jungen Arbeitern. Ich befürchte, daß für sie so gut wie nichts getan wird. Eine Gruppe, die sich mit Gewerkschaftsfragen beschäftigen würde, existiert genauso wenig wie eine Gruppe, die sich zumindest in einem beschränkten Maße mit den Arbeitsbedingungen und der Arbeitssicherheit u.ä. befassen würde. So wie die Gruppe der Exkommunisten und auch die Gruppe der Schriftsteller und der Künstler keine starke und funktionierende Rückendeckung bei den jungen Menschen hat, so findet auch die überwiegende Mehrheit der jungen Menschen in unseren Reihen keine ausreichende Aufmerksamkeit, keine Fürsorge und kein Verständnis für ihre eigenen spezifischen Probleme.

    Einen wirklich funktionierenden Hintergrund in unserer Gemeinschaft haben allgemein und insbesondere unter den jungen Menschen vielleicht nur die Christen, und da eher die katholischen als die protestantischen. Das entspricht dem soziologischen Faktum, daß in unserer Gesellschaft neben den starken Gruppen der Kommunisten und Marxisten seit Jahrzehnten nur eine starke Gruppe existiert, nämlich die der Christen (vor allem der Katholiken). In den letzten Jahren hat sich aber gerade hier eine bedeutsame Verschiebung gezeigt, die sich in Zukunft vielleicht noch verstärken wird. Die Gruppe der Marxisten und Kommunisten gerät in eine immer größere Krise und Depression, wogegen die Reihen der selbstbewußten christlichen Bürger immer stärker werden. Großer Ansporn und eine große Inspiration sind unseren Katholiken vor allem ihre polnischen Glaubensbrüder. Ein Pole auf dem päpstlichen Stuhl bedeutete – und bedeutet vielleicht immer noch viel (obwohl seine Handlungsweise in letzter Zeit auch bei den überzeugtesten Katholiken Gefühle einer ziemlich großen Enttäuschung hervorruft). Zum Erwachen von weiteren Gruppen und Kreisen der katholischen Gläubigen hat die Verhaftung und die Verfolgung einer ganzen Reihe von Katholiken beigetragen, die wegen ihrer Tätigkeit, die für den Gläubigen nicht nur eine Frage der Menschen- und Bürgerrechte, sondern die Frage des Gewissens ist, belangt wurden (z.B. die Tätigkeit im VONS-Komite oder die Verbreitung geistlicher Literatur, die bei uns im Widerspruch zu den Gesetzen entweder überhaupt nicht oder nur sehr beschränkt erscheinen darf). Die staatlichen Organe sind sich der Aktivierung der katholischen Kreise sehr wohl bewußt, aber sie versuchen, ihr auf die dümmste Art und Weise entgegenzuwirken, was notwendigerweise zu völlig entgegengesetzten Ergebnissen führen muß.

    Mit jedem weiteren Vorgehen gegen die Katholiken werden gerade die staatlichen Organe unsere Situation den polnischen Verhältnissen annähern. Zugleich werden sie neue Beweise dafür liefern, daß bei uns sowohl die Verpflichtungen von Helsinki als auch die internationalen Pakte über die Menschen- und Bürgerrechte offensichtlich verletzt werden.

    Nächstes Jahr werden sich erneut die Vertreter der Unterzeichner-Staaten von Helsinki treffen, um gemeinsam zu überprüfen, wie in den einzelnen Ländern die Verpflichtungen des Abschlußdokuments erfüllt werden. Die Situation wird diesmal wahrscheinlich angespannter sein als in Belgrad. Soweit es sich um unsere Republik handelt, werden ihre Deligierten in eine äußerst schwierige Situation geraten, sofern unsere Regierung nicht versucht, zumindest einige Aspekte ihrer Handlungsweise zu korrigieren und die bestehende untragbare Situation teilweise zu revidieren. Mit Sicherheit ist zu erwarten, daß auf dem Programm der Madrider Verhandlungen sowohl die Prozesse gegen die Menschenrechtsverteidiger als auch die gängige Praxis des Entzugs der Staatsbürgerschaft (ein schreiendes Beispiel ist u.a. der Fall Pavel Kohout) stehen werden. Auch die spezifische Form des tschechoslowakischen „Berufsverbotes“, von dem zehntausende von Bürgern betroffen sind, wird der Aufmerksamkeit dort nicht entgehen. Und unzweifelhaft werden sich ausreichend Anlässe und Gründe finden, die Diskriminierung der Christen und die Einschränkung ihrer Menschen- und Bürgerrechte usw. zu behandeln. Parallel zu der Madrider Konferenz wird eine Konferenz mit den Vertretern der unabhängigen Menschenrechtsorganisationen und -gruppen vorbereitet, die die Einhaltung des HelsinkiAbkommens überwachen; sie wollen den Verkauf der Madrider Konferenz ergänzen, um all das zur Sprache zu bringen, worüber in Madrid nicht verhandelt wird (wenn es überhaupt gelingt, dieses Vorhaben zu organisieren). Daneben wird eine Reihe von weiteren internationalen Aktionen vorbereitet, bei denen die Frage der Menschenrechte in der Tschechoslowakei der einzige und wichtigste oder zumindest einer der wichtigsten Punkte des Programms sein wird. So hat auch der Prozeß gegen die ersten sechs Mitglieder der sogenannten „Prager Zehnergruppe“ die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich gezogen und allgemein Widerwillen hervorgerufen, weil er im Unterschied zu anderen ähnlichen Prozessen gewissermaßen „einen klaren Fall“ darstellte, und weil er sich zudem durch seinen Verlauf als ein ganz typischer, und – was sehr wichtig ist – als ein bis ins Detail ausführlich von den Medien behandelter Prozeß offenbarte. Dies führte dazu, daß andere, und vor allem ältere Fälle von gesetzwidrigen Prozessen an den Rand des Hauptinteresses unserer und auch der Weltöffentlichkeit gedrängt wurden. Das ist verständlich, aber uns verpflichtet es dazu, daß wir bei jeder sich bietenden Gelegenheit immer wieder nicht nur auf die krassesten Beispiele der Repression gegenüber den kulturell und politisch engagierten Prominenten hinweisen, wie z.B. im Fale Jiří Lederer, Jaroslav Šabata, Pavel Kohout und zahlreicher anderer, sondern daß wir der Weltöffentlichkeit zumindest einen querschnittartigen und exemplarischen Einblick in unsere Maschinerie der politischen Repression verschaffen, die auch weniger bekannte ältere wie jüngere Bürger unseres Landes trifft.

    Ich habe in einem früheren Brief bereits geschrieben, daß uns in absehbarer Zeit Aufgaben von so großer Wichtigkeit erwarten, daß wir sie nicht im Rahmen der Charta ’77 allein aufgreifen und lösen können. Die Charta ’77 muß uns als eine gemeinsame moralisch-politische Basis für jede künftige Tätigkeit erhalten bleiben. Wer das konstituierende Dokument der Charta ’77 unterzeichnet hat, hat sich zugleich verpflichtet, künftig sowohl in seiner Tätigkeit wie auch in seinen Zielen den Grundsatz der Legalität und der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz sowie die unveräußerlichen Menschenrechte und die bürgerlichen Freiheiten weder beschneiden noch anzweifeln zu lassen. Konkret bedeutet dies, daß die Kommunisten, die die Charta ’77 unterzeichnet haben, genauso mit Sozialisten wie mit Christen usw. als gleichwertigen Partnern beim Aufbau und der Erneuerung unserer Gesellschaft rechnen werden, wenn die Zeit gekommen ist; genauso wie die Sozialisten, Christen usw. ihrerseits mit den Kommunisten als gleichwertigen Bürgern rechnen müssen, wenn sie selbst an der Macht beteiligt sein sollten (und ich bin überzeugt, daß es dazu kommen wird). Die Voraussetzung eines solchen gegenseitigen Respekts und einer solchen Zusammenarbeit bei aller Verschiedenheit der Anschauungen, der Taktiken und der Strategien, wird die Anerkennung der demokratischen Prinzipien sein. Das bedeutet die Anerkennung einer wirklichen demokratischen Pluralität, in der der gesellschaftliche Wille auf Grund von Gesprächen und argumentativer Polemik entsteht, und in der weder Gewalt noch politischer und ideologischer Betrug den Bürgern aufgezwungen und oktroyiert wird. Meiner Meinung nach müssen jetzt für eine gewisse Zeit die verschiedensten Bürgeraktivitäten, die jetzt vor allem in der alltäglichen Kleinarbeit bestehen, ein Übergewicht über die Aktivitäten der Charta ’77 gewinen. Die entscheidende Zeit, in der sich die Bedeutung der Charta ’77 erneut erweisen wird, liegt erst in der Zukunft.

    Unsere Aktivitäten leiden, wie ich schon angedeutet habe, an einer Schwäche, die der Widerschein viel größerer offizieller Schwächen ist. Wir haben nicht den Mut und keine Lust, uns selbst kritisch und nüchtern zu betrachten und unsere Mängel sachlich zu beurteilen. Ich habe es von Anfang an gefühlt und deshalb versucht, Dialog und Polemik in unser inneres Leben einzuführen. Darin war ich schon ausreichend geübt aus meiner früheren Tätigkeit in der Zeitschrift „Tvář“ u.a., die im April 1968 durch den Vorsitzenden des Schriftstellerverbandes Eduard Goldstücker bei der Verhandlung über eine Neuherausgabe in dem Sinne kritisiert wurde, daß sie im Jahre 1965, aus der Sicht des gesamten politischen Kampfes dieser Zeit, der progressiven Front in die Flanke gefallen sei und dadurch die ganze Situation noch komplizierter gemacht habe. Manche Unterzeichner der Charta ’77 denken bis heute ähnlich, weil sie nichts dazugelernt haben. Ich weiß, wie ungünstig meine Polemik gegen Jan Tesař, Ludvík Vaculík, gegen Petr Pithart oder Petr Uhl und weitere beurteilt wurde. Viele aus unserer Gemeinschaft sind überzeugt, daß wir uns nur gemeinsam auf die Schulter zu klopfen hätten, aber daß wir in keiner Weise in ernste Streitigkeiten geraten dürften, weil wir damit angeblich der offiziellen Macht in die Hände spielten. Nichts halte ich für unglücklicher und irriger als solche Tendenzen zur Herstellung von künstlicher Einheit oder zur Gleichschaltung von Standpunkten (oder auch nur die Versuche, den Anschein solcher Einmütigkeit zu wahren). Viele von uns leisten ungewöhnlich verdienstvolle und höchst nützliche Arbeit. Aber bei den äußerst primitiven Bedingungen, unter denen wir arbeiten müssen, kommt es selbstverständlich dazu, daß die Ergebnisse manchmal besser und manchmal schlechter sind. Wir müssen uns daran gewöhnen, daß es keinen Sinn hat, uns nur gegenseitig zu loben und anzuerkennen, sondern daß es notwendig ist, klar und kritisch auf die Unzulänglichkeiten und Schwächen hinzuweisen. Der Selbstverlag „Petlice“ ist ein auffälliges und einzigartiges Phänomen der Samisdat-Literatur im ganzen sowjetischen Block; es werden dort jedoch auch sehr schwache und problematische Texte veröfentlicht – und es ist eigentlich nicht normal, daß noch niemand offen und konkret darauf hingewiesen hat. Drei Nummern der formal und inhaltlich überdurchschnittlichen Samisdat-Zeitschrift „Spektrum“ erblickten das Licht der Welt; aber warum sollten wir verschweigen, daß laut Plan bis heute bereits zwölf Nummern hätten erscheinen sollen? Die jungen Leute begannen mit „Zebra“ (oder „Jonathan“), aber sehr bald war ihr Elan erlahmt. Von den bescheidenen Ergebnissen des Projekts der „Patočka Akademie“ war schon die Rede. Das Schicksal der „Dialogy“ spricht auch für sich. Und so können wir weiter ins Unendliche fortfahren. Wir benötigen eine Zeitschrift für Kritik, eine ganze kritische Bibliothek. Die Werte werden in den geistigen Kämpfen geboren, nicht in den seichten weitläufigen Gewässern gegenseitiger Belobigungen. Unsere Chancen liegen nur in der Qualität, im hohen Anspruch gegenüber uns selbst und den anderen. Jedes Lavieren, Betrügen, Vortäuschen und jede schwächliche Versöhnung mit Scheinwerten wird sich nur an uns rächen. Die Tatsache, daß jemand die Charta ’77 unterschrieben hat, macht aus ihm noch lange keinen besseren Schriftsteller oder einen tiefsinnigeren Denker, genausowenig wie die Unterschrift aus ihm einen qualifizierten Mitarbeiter oder Bürger macht; diese Qualitäten müssen sich erst in den Ergebnissen zeigen, in Ergebnissen, denen wir unsere Aufmerksamkeit und unsere strenge, anspruchsvolle Kritik widmen. Wenn wir die These von der „zweiten Kultur“ ernst nehmen wollen, dann muß sie sich vor allem in der Ernsthaftigkeit der Kritik ihrer Produkte zeigen.

    Und noch etwas möchte ich anmerken. Wir sind nicht imstande, weder die besten Werke noch die besten Menschen zu beurteilen; statt einer ernsten kritischen Beurteilung weichen wir verdächtig oft auf Phrasen aus. Kürzlich hatte ich Gelegenheit, den Text „Heiligt der Zweck die Mittel?“ lesen zu können, der von einem pseudonymen Autor namens Petr Fidelius stammt. Ich mußte ihm Recht geben, obwohl ich zugeben muß, daß sein Text „vom Standpunkt des gesamten politischen Kampfes“ aus gesehen derzeit sehr ungelegen kommt. Zu billig und zu leicht verfällt unser Urteil auf irgendwelche „laudationes“, wenn eine sachliche Analyse und Beweisführung angebracht wäre. In dem Brief, in dem ich Dir über Patočka nach dessen Tod 1977 geschrieben habe, sagte ich in voller Überzeugung, daß Patočka mit seiner ganzen denkerischen Konstitution ein Interpret und kein Systematiker gewesen sei. Und viele seiner Schüler haben das mit Befremden aufgenommen. Sie haben es sogar als einen Angriff auf sein Andenken aufgefaßt. Aber warum wollen sie Patočkas Andenken verbessern und etwas aus ihm machen, was er nicht war? Nur deshalb, weil sie die Qualifikation „Philosoph-Systematiker“ für eine höhere Beurteilung halten als die eines „PhilosophInterpreten“? Und im übrigen: ist sie denn wirklich höher? Die Tatsache, daß mir ähnliche Probleme höchst aktuell vorkommen, ist für mich – wen ich es unbefangen reflektiere – ein Beweis dafür, daß die Situation in der Charta ’77 und auch in der Gesellschaft sich vorwärts und zum Besseren verschoben hat. Dort, wo wir am Boden zerschmettert lägen, wäre uns (mich eingeschlossen) so etwas nicht in den Sinn gekommen. Wenn wir jetzt vor der Aufgabe stehen, unsere Tätigkeit qualitativ zu verbessern, besonders unsere fachlichen und speziellen Aktivitäten, dann sind wir auf dem richtigen Wege, auf dem wir ausharren müssen. In unserer Gesellschaft zerfällt vieles, und manches wird nur mit letzter Kraft zusammengehalten. Unser Ziel ist es nicht, das zu zerstören, was noch steht. Aber auf keinen Fall dürfen wir uns dem allgemeinen Zerfall anpassen. Wir müssen aufbauen; und zwar qualitativ aufbauen.

    Dein

    Ladislav Hejdánek

    Prag, den 27.12.79