- in: Ladislav Hejdánek, Wahrheit und Widerstand. Prager Briefe, transl. Milan Walter – Eva Bauer, München: P. Kirchheim, 1988, p. 99–105
Der Mensch und sein Gewissen
Lieber Freund,
ich schreibe wiederum mit Verspätung, diesmal mit einer noch größeren. Die Gründe dafür sind jedoch die gleichen. Ausgerechnet an dem Tag, an dem ich Dir gewöhnlich schreibe, holten mich einige Herren in Zivil aus dem Kesselraum und brachten mich nach Hause zu einer Hausdurchsuchung. Der Durchsuchungsbefehl war zum ersten Mal fast in Ordnung, mit einer (unleserlichen) Unterschrift des Staatsanwaltes, allerdings ohne den Stempel der Staatsanwaltschaft. Ansonsten benahmen sie sich sehr korrekt. Nach der Beendigung der Durchsuchung – ich war noch etwa zwei Stunden an meinem Arbeitsplatz – kamen sie wieder. Diesmal holten sie mich ohne Anweisung und führten mich direkt in der Konviktska Straße vor, wo einer von ihnen den Befehl erst unterschrieb. Nach kurzer Zeit holte man mich aus der sogenannten CPZ (= Zelle der vorläufigen Verwahrung) zu einem kurzen Verhör. Am nächsten Tag, d.h. Freitagvormittag, wurde ich zum zweiten Mal verhört. Ich wußte immer noch nicht, warum ich eigentlich festgehalten wurde; es war offensichtlich bloß ein Verzögerungsmanöver. Erst am Nachmittag wurde ich einem anderen Untersuchungsrichter zu einem dritten Verhör vorgeführt, und ungefähr um 3 Uhr wurde mir mitgeteilt, daß gegen mich eine Anschuldigung erhoben würde, die – unter uns – völlig sinnlos war und außerdem auf keinerlei relevanten Tatsachen beruhte. Nach dem Verhör, in dem mir die Gelegenheit eingeräumt wurde, mich zu der ganzen sinnlosen Sache kurz zu äußern, wurde ich informiert, daß der Untersuchungsrichter einen Haftantrag stelle, zu dem sich allerdings der Staatsanwalt nicht äußern könne, da er nicht zu erreichen sei (deswegen auch die Verzögerungen bis Freitagnachmittag). Obwohl jene weiteren 48 Stunden, die dem Staatsanwalt für seine Äußerung zu Verfügung stehen, ab dem Augenblick der Anschuldigung gerechnet werden, wurde ich nicht am Sonntagnachmittag, sondern erst Montagmorgen entlassen (insgesamt also ungefähr nach 90 Stunden, nach etwa 67 Stunden nach der Anklageerhebung, so daß ich fast 19 Stunden gesetzwidrig in der Zelle der vorläufigen Verwahrung blieb). Die Beschuldigung wurde allerdings nicht zurückgenommen.
Ich hoffe, daß Du mir deshalb verzeihst, wenn ich erst heute mit dem Schreiben beginne. Ich werde also eine Woche auslassen, auch wenn ich ursprünglich versprochen habe, Dir jede Woche zu schreiben. Noch einmal versuche ich die polizeilichen Schikanen zu verdrängen, um mich auf etwas Wesentliches zu konzentrieren. Diejenigen, die nur rein „technisch-politisch“ denken, verlieren schon heute an „Saft und Kraft“ – und auch, wie mir scheint, die Lust weiterzumachen. Nach Patočkas Tod trat eine gewisse Pause, eine gewisse Zäsur ein. Die Fortsetzungsversuche haben ein wenig den Beigeschmack von „verlängertem Brei“. Besonders das Dokument Nr. 9 ist ziemlich fad und zahnlos, obwohl sich gerade da die Gelegenheit bot, auf die tieferen und allertiefsten Quellen der Menschenfreiheit hinzuweisen und dadurch auch auf die letzten Motive eines jeden Kampfes für die Humanität, Menschenfreiheit und Menschenrechte. Ich möchte deshalb versuchen zu zeigen, was im menschlichen Leben das sog. Gewissen für eine Rolle spielt, warum und unter welchen Bedingungen sich der Mensch gegen alle menschlichen Instanzen auf sein eigenes Gewissen berufen kann und muß, und insbesondere auch weshalb der Verweis auf das Gewissen nicht mit einem dem Individualismus und Subjetivismus geöffneten Tor gleichzusetzen ist. Da in den vergangenen Tagen die ersten Prozesse liefen, in denen die Entscheidung fallen sollte, ob Stellenkündigungen wegen einer Chartaunterschrift legitim seien, fange ich mit einer Auseinandersetzung mit der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft an, auf die sich die Urteile de facto beriefen.
Die Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft wurde zuerst zwei Sprechern der Charta mitgeteilt und gleich danach auszugsweise in der Tagespresse publiziert. Später wurde eine ganze Reihe der Unterzeichner vorgeladen, denen auf der Stadtprokuratur (oder den Bezirksprokuraturen) ebenfalls die Stellungnahme vorgelegt wurde. Als ich die Gelegenheit bekam, mich selbst zu der Stellungnahme zu äußern, wies ich vor allem darauf hin, daß die Staatsanwaltschaft nicht kompetent genug sei, um beurteilen zu können, ob die Charta ’77 ein staatsfeindlicher Text sei oder nicht. Darüber könne nämlich nur das Gericht entscheiden. Auf der anderen Seite sei die Prokuratur verpflichtet, jeden Verstoß gegen das Gesetz zu ahnden. Auf ähnliche Weise habe ich mich auch bei den Hausdurchsuchungen und bei den Verhören geäußert. Heute dauert nun schon im fünften Monat eine besondere, anomale Situation an. Die Staatsanwaltschaft hat noch in keinem einzigen Fall (soweit ich weiß) die Verfolgung irgendeines Menschen wegen Herausgabe, Verbreitung, Unterstützung etc. der Charta ’77 und daran anknüpfender Schriftstücke eingeleitet. Andererseits hat sie jedoch ihren Standpunkt verkündet, daß die Charta ’77 und die sich darauf beziehenden Schriften im Konflikt mit den tschechoslowakischen Gesetzen stehen. Das bedeutet, daß die Prokuratur nicht nur nicht das tut, was sie soll (sie verfolgt nämlich keine Straftat), sondern sie tut gerade das, was sie nicht soll (sie entscheidet darüber, was eine Straftat ist). Jetzt wird diese Praxis auch von den Gerichten übernommen: Obwohl kein richterliches Urteil über die Proklamation der Charta ’77 und weiterer Dokumente existiert, werden arbeitsrechtliche Prozesse auf der Grundlage der Voraussetzungen entschieden, daß das Unterschreiben der Charta ’77 gesetzwidrig und somit auch ein triftiger Grund für die Kündigung von seiten des Arbeitgebers ist. Die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft hat außerdem noch einen weiteren Aspekt, mit dem ich mich zunächst beschäftigen möchte.
In der Stellungnahme der Staatsanwaltschaft wird daran erinnert, daß die Meinungsfreiheit (durch die Verfassung der ČSSR garantiert) gemäß der Verfassung im Interesse der Arbeiterklasse zur Geltung kommen muß. Nur am Rande kann man anmerken, daß es sich hier offensichtlich um eine falsche Textinterpretation des Artikels 28 der Verfassung handelt, in dem die Meinungsfreiheit in allen Lebensbereichen der Gesellschaft gerade deshalb garantiert ist, weil sie in Übereinstimmung mit den Interessen der Werktätigen steht. Aus dem Text des ersten Absatzes geht ausdrücklich hervor, daß gerade die Garantie der Meinungsfreiheit im Einklang mit den Interessen der Arbeiterklasse steht. In keinem Fall kann man aus dem Text ableiten, daß die Interessen der Werktätigen eine Bedingung und somit auch eine Beschränkung bei der Durchsetzung der Meinungsfreiheit oder diesbezüglicher Garantien einer solchen Durchsetzung darstellen. Über die Durchsetzung, resp. über den Gebrauch der Meinungsfreiheit (d.h. insbesondere auch die Wort- und Pressefreiheit) wird weiterhin gesagt, daß „die Bürger diese Freiheiten sowohl im Interesse ihrer Persönlichkeitsentwicklung und ihres kreativen Schaffens wie auch zur Durchsetzung ihrer aktiven Teilnahme an der Verwaltung des Staates und am wirtschaftlichen und kulturellen Aufbau des Landes genießen“. Wenn also die Generalprokuratur in ihrer Stellungnahme behauptet, daß „die Meinungsfreiheit gemäß der Verfassung im Interesse der Werktätigen zur Geltung kommen muß, und nicht auf eine solche Art und Weise, die im Widerspruch zu den gültigen Gesetzen steht“, dann verhält sie sich nicht nur inkompetent, sondern auch falsch, d.h. auf Grund einer falschen, unhaltbaren Textauslegung des Artikels 28 der Verfassung. Uns geht es allerdings an dieser Stelle um mehr.
Die Art und Weise, wie die Generalstaatsanwaltschaft den erwähnten Text der Verfassung interpretiert, stellt zwar eine Aussage über die Verfassungsgarantien der Meinungsfreiheit dar, aber nebenbei auch eine Aussage über die Staatsanwaltschaft selbst und überhaupt über den Geist, der in unserem Rechtsstaat, in der Welt unserer Gesetze und ihrer Umsetzung herrscht. Hier geht es nicht nur um eine inkompetente Äußerung der Generalstaatsanwaltschaft, sondern um die Tendenz, die in unserer Rechtsordnung herrscht. Der Versuch eines offiziellen Staatsorgans, eine bestimmte Stelle unserer Verfassung entstellend zu interpretieren, ist nicht nur einer der bedeutungsvollen Beweise für die Verletzung der Gesetze auf der höchsten Ebene, sondern es ist ein außergewöhnlich wichtiges Symptom des allgemeinen Zugangs unserer Behörden und der politischen Führung zu Fragen oder besser zur Verwirklichung der unveräußerlichen menschlichen und bürgerlichen Freiheiten und Rechte. Ein charakteristisches Merkmal dieses Zugangs ist der Versuch, das Unbedingte zu bedingen, das Unaufhebbare zu suspendieren, das Unveräußerliche zu problematisieren und relativieren. Die Grundlage dieses Zugangs ist die Interessenverlagerung von dem „unendlichen Ziel“, d.h. der menschlichen Freiheit, zu einer begrenzten Wirkung, nämlich zum Schutz und zur Bestätigung eines begrenzten Interesses. Auf den ersten (sehr oberflächlichen Blick) könnte es scheinen, daß es sich nicht um ein beschränktes Interesse, sondern um das „Interesse der Arbeiterklasse“ handelt. Aber wie kann das unaufhebbare, unveräußerliche Recht der Lebewesen durch etwas bedingt sein, das so ungenau, unbestimmt und bar jeglicher näherer Erklärung ist, wie die „Interessen der Arbeiterklasse“ es sind? Wer ist berufen, zu entscheiden, welche die wirklichen, wahren Interessen der Arbeiter sind? Wem wird schon die Verwaltung einer so heiklen Sache, wie es die Menschenfreiheit ist, die sich jeglicher Beherrschung widersetzt und ihr widerstrebt, in die Hände gelegt? Und auf wen kann oder darf sich derjenige berufen, dessen Freiheit eingeengt und dessen Grundrechte beschränkt und verletzt wurden? Wo findet der Mensch diesen höchsten Richter, der ihm Recht verschafft, bei dem er ein offenes Ohr findet, auch wenn sein Prozeß schon abgeschlossen, und wenn das Urteil in seinem Falle sogar durch die allerhöchste richterliche Instanz bestätigt wurde, gegen die keine Berufung mehr möglich ist?
Die Tendenz, die in unserer Rechtsordnung vorherrscht, ist klar: Der Mensch hat kein Recht, bei einer noch höheren Instanz Berufung einzulegen. Das Gericht entscheidet über seine Schuld; das Gericht sucht nicht nach dieser Schuld, es stellt sie fest. In der Theorie ist es klar. In der Praxis kommt es zu Schwierigkeiten und Widersprüchen. Aus der Praxis unseres Gerichtswesens und unserer ganzen gesellschaftlichen Realität wissen wir z.B., daß es bei uns sogar möglich war, Menschen gesetzwidrig zum Tode zu verurteilen, die dann nach Jahren rehabilitiert wurden. Und wir wissen, daß dies nicht nur unsere tschechoslowakische Spezialität ist, daß wir keine Ausnahme im sozialistischen Lager sind. Wir wissen, daß unser Gericht einen Unschuldigen genauso wie einen Schuldigen verurteilen kann. Wie ist es möglich, sich gegen solche Justizirrtümer oder sogar gegen die sorglose oder vielleicht zynische Verletzung der Rechtmäßigkeit und der Gesetze zu wehren? Die Generalstaatsanwaltschaft, die versucht, die Bürgerrechte und menschlichen Freiheiten Bedingungen zu unterwerfen unter Berufung auf die Wahrung der „Interessen der Arbeiterklasse“, zu deren Interpretation wiederum irgendein Staatsorgan berufen wird, ist keineswegs die richtige Beschützerin dieser Rechte und Freiheiten. Eine sehr wichtige Rolle könnten hier die Richter spielen, wenn sie wirklich unabhängig wären, und nach ihrem besten Gewissen richten könnten. Aber das Gewissen der Richter kann in der Gesellschaft nur etwas bedeuten (und es kann sich überhaupt nur halten) unter der Voraussetzung, daß die Bürger selbst, wenigstens die Mehrheit der Bürger, ein Gewissen haben. Aber was bedeutet das, ein Gewissen zu haben? An was in uns appelliert derjenige, der an unser Gewissen appelliert? Ich habe mich schon in einem Brief mit den Gründen beschäftigt, weshalb die Respektierung, bzw. Verletzung der menschlichen Grundrechte und Freiheiten keine innere Angelegenheit des Staates ist und sein kann. Der Staat ist nicht uneingeschränkt souverän. Es existieren Bereiche, in denen sein Einschreiten, sei es ideologisch oder direkt mit Gewalt, illegitim, inkompetent und verheerend ist. Und zwar verheerend vor allem für die Bürger, aber nicht zuletzt auch für den Staat selbst. Denn die systematische Durchsetzung der Souveränität des Staates in Angelegenheiten der Wahrheit, des Rechts, der Gerechtigkeit, des Guten, der Schönheit usw., d.h. besonders in Angelegenheiten der kulturellen und Zivilisationswerte und -kriterien, führt unausweichlich zum Zusammenbruch des Staates und danach auch zum Sturz der ganzen Gesellschaft in die dämonischen Sümpfe der Lügen, der Rechtlosigkeit, des Bösen und der Häßlichkeit. Der Mensch braucht nämlich für seine Beziehung zur Wahrheit, zum Guten und zur Schönheit keine Vermittler, sondern nur Lehrer und ältere, erfahrene Brüder, die einen Rat geben können, aber selbst nie eine fertige Lösung parat haben. Bei der Entscheidung darüber, was Wahrheit und was Lüge ist, was Recht und was Unrecht, was gerecht und was ungerecht, was gut und was böse, was schön und was kitschig, sind wir letztendlich immer allein. Auch wenn wir immer unsere Lehrer haben, auch wenn wir uns mit unseren Nächsten und mit denjenigen, denen wir vertrauen, beraten können und müssen, müssen wir zuletzt selbst persönlich verantwortlich entscheiden. Und diese Verantwortung ist nicht reduzierbar auf eine Verantwortung gegenüber den Menschen, der Gesellschaft, einer beliebigen gesellschaftlichen Organisation, dem Staat, dem Volk, der Heimat u.ä., sondern ihre Grundlagen und Wurzeln gehen viel tiefer. Für die letzte Verantwortung ist der Mensch in die Grundpflicht genommen, mit seinem ganzen Handeln oder durch die Ablehnung des Handelns, auf einen Appell zu antworten, den andere Leute für ihn nicht bestimmen dürfen, den sie höchsten zum Ausdruck bringen können. Der Mensch wird z.B. vor einen Appell der Wahrheit selbst gestellt, aber die Wahrheit kann und darf nie mit dem persönlichen Verständnis verwechselt werden, mit keiner formulierten Form, die immer nur ein Versuch bleibt, auf ihren Appell und ihre Aufforderung zu antworten. In ihrer Beziehung zur Wahrheit, zur Gerechtigkeit, zum Recht, zum Guten, zur Schönheit sind sich alle Menschen gleich. Keine Funktion kann jemanden dazu befähigen, daß er wie ein Stamm-, Volks-, Klassen- oder was auch immer für ein Schamane auftrete. – Im Gegenteil, jeder ist dazu berufen, derartige Versuche des Schamanentums, die im Dienste der Wahrheit, der Gerechtigkeit usw. vorkommen, zu demaskieren und abzulehnen. Die Bedingung dafür ist allerdings die Bereitwilligkeit, das Risiko auf sich zu nehmen, von der Schamanenseite verfolgt und nicht selten auch von seiten der unsachverständigen und unaufgeklärten Öffentlichkeit gehaßt zu werden.
Und so gerät der Mensch, der sich entschlossen hat, nur auf die alleinige Wahrheit und nicht bloß auf ihre angeblichen Verwalter und befugten Interpreten zu hören, häufig in die für ihn persönlich schwierige, bedrückende und beklemmende Situation eines Outsiders und eines Geächteten, ja sogar eines Ketzers, der in den Augen der Behörden und manchmal auch der Mehrheit keine Kompetenz besitzt, keine Berechtigung, der durch niemanden beauftragt wurde, und deshalb auch für niemanden spricht, der also nur für sich selbst spricht. Gegen ein derartiges Individuum (oder auch einige Individuen) können leicht Abneigung und Haß der Massen hervorgerufen werden, solch ein Individuum kann leicht gefaßt und zum Schweigen gebracht werden, sofern es keine Unterstützung bei anderen findet. – Aber wehe dem, der in einer solchen bedrückenden Situation den Weg der Verantwortung vor der Wahrheit selbst verläßt und der seine Worte und seine Taten irgendeiner Gruppe anpaßt, bei der er Schutz und Unterstützung sucht. Anstelle Zeuge der Wahrheit zu bleiben, wird er zum Ideologen und Sprachrohr dieser Gruppe. Er verläßt freiwillig den Dienst an der Wahrheit selbst und tauscht ihn gegen einen unfreiwilligen Dienst, gegen Kriecherei und Sklavendienste für irgendeine Gruppe. Solch ein Mensch weiß von der Wahrheit, aber er entschließt sich, ihre Stimme zu überhören. Allerdings kann er von einem anderen Menschen angesprochen werden, der ihn an die Wahrheit selbst erinnern kann. Die Ermahnung eines Menschen, der im Dienste der Wahrheit stand, aber deren Dienst verlassen hat, da er für sich etwas Vorteilhafteres gefunden hat, kann sich weder auf individuelle noch auf Gruppen- oder „gesamtgesellschaftliche“ Interessen berufen, weder auf Staats- und Klasseninteressen noch auf „Interessen der Arbeiterklasse“, weil alle diese Interessen etwas sind, was zuerst noch irgendwie formuliert oder interpretiert werden muß, wahrheitsgemäß oder lügenhaft, d.h. durch etwas, was sich in seiner wahren Gestalt erst noch im Lichte der Wahrheit zeigen muß. Und der Mensch, der aufhört, der Wahrheit zu dienen, findet immer irgendeine Interpretation, die ihm zusagt und ihm erlaubt, die Wahrheit immer aufs Neue zu verraten. Einen solchen Menschen an die Wahrheit zu erinnern ist nur möglich, indem wir an sein Gewissen appellieren. Dadurch nehmen wir ihn in die Pflicht, auf den Appell der Wahrheit selbst zu antworten. Wir ermahnen ihn, daß es hier nicht nur um eine gesellschaftliche und politische Situation geht, sondern um eine letzte Norm, ein letztes Kriterium desen, wie wir in dieser Situation bestehen könen – und daß dieses Kriterium nicht der momentane Erfolg, auch nicht die Überwindung der Schwierigkeiten und des schlimmen Augenblicks ist, sondern einzig und allein die Wahrheit selbst, die gilt und die zur Geltung gebracht werden soll, koste es, was es wolle. Auch wenn es zuviel kostet, auch wenn es alles kostet. Gegenüber allen menschlichen und gesellschaftlichen Ansprüchen kann man Vorbehalte haben – und zwar berechtigte, legitime Vorbehalte. Gegenüber den Wahrheitsforderungen und -ansprüchen stehen wir jedoch ohne irgendwelche Vorbehalte, ohne irgendein Hintertürchen, ohne jede Ausflucht, ohne Ausrede. Angesichts der alleinigen Wahrheit müssen wir uns selbst aufgeben, müssen auf unsere Stellung, Bequemlichkeit, auf das, was wir lieben und was uns besonders teuer ist, verzichten, ja wir müssen sogar bereit sein, unsere Freiheit und letztlich – wenn nötig – das Leben zu opfern. Der Wahrheit wirklich begegnen kann nicht, wer nicht bereit ist, auf das alles zu verzichten und sich selbst und seine allereigensten Interessen aufzugeben, und wer nicht gewillt ist, auch in der Situation der äußersten Bedrohung ihr Diener, ihr Sprachrohr zu bleiben. Wer aber dazu bereit ist, den kann man weder durch menschliche noch durch unmenschliche Mittel abschrecken und einschüchtern. Solch ein Mensch kann gequält und gepeinigt, gezerrt und geschmäht werden, aber auch in seiner größten Demütigung – ja gerade dann – hört er nicht auf, Zeuge der Wahrheit zu sein.
Dein
Ladislav Hejdánek
Prag, den 5.5.1977