- in: Ladislav Hejdánek, Wahrheit und Widerstand. Prager Briefe, transl. Milan Walter – Eva Bauer, München: P. Kirchheim, 1988, p. 106–112
Kommunismus und Marxismus
Lieber Freund,
ich gestehe, daß es mir nicht leicht fällt, Deine Fragen zu beantworten, die meine – besonders meine praktische, wie Du sagst – Beziehung zum Kommunismus und den Kommunisten betreffen. Ich habe Dir schon einmal geschrieben, daß ich einst nicht weit davon entfernt war, in die kommunistische Partei einzutreten. Auch in späteren Jahren stand ich einigen Kommunisten persönlich und auch anschauungsmäßig sehr nah. Ich möchte aber behaupten, daß selten ein Mitglied unserer Gesellschaft, das prinzipiell mit der kommunistischen Ideologie nicht einverstanden ist, dermaßen frei von jedwedem Antikommunismus ist, wie ich es bin. Es ist nicht so, daß die Kommunisten dazu nicht genügend Gelegenheiten und Gründe böten. Die Kommunisten wiederholen nämlich auf eine besondere, gewissermaßen schon karikierende Art und Weise die meisten Fehler, durch die früher die Christen aufs äußerste zuwider geworden sind, einschließlich des schlimmsten Fehlers, nämlich ähnlich wie einst (und sogar noch heute) die Christen zuließen, daß in wichtige Funktionen und führende Stellungen Menschen geraten, die der Bewegung nur Schande machen. Dennoch habe ich in meinem Leben so manches Mal die Erfahrung gemacht, daß, wenn ich aus ernsthaften Gründen und insbesondere des Gewissens wegen in schwerste Konflikte gekommen und in eine bedrückende Isolation geraten bin, mir ausgerechnet Kommunisten eine große Stütze und Hilfe waren. Sicherlich erklärt sich das teilweise dadurch, daß die Parteilosen (ganz zu Recht) überzeugt sind, selbst nichts ausrichten zu können, daß, abgesehen von Sympathie- und Solidaritätsbekundungen (möglichst unauffällig und ohne unerwünschte Zeugen), niemand von ihnen etwas Praktisches im eigentlichen Kampf erwarten kann (auch wenn sie sonst oft bereit sind, auf alle mögliche Art und Weise indirekt zu helfen). Aber es geht noch um etwas anderes: Die Vorstellung, sich politisch zu engagieren, einen eigenen festen Platz inmitten wirklicher Kämpfe zu finden, sowie etwas tatsächlich anzustreben und sich um Abhilfe der schändlichen Verhältnisse zu bemühen, ist heutzutage bei den Nichtkommunisten sehr selten geworden (übrigens auch bei den Kommunisten). Nach meinen Erfahrungen war – wenigstens für meine Generation – der Eintritt in die kommunistische Partei sehr oft eine Entscheidung fürs Leben. Unsere Motivation war, daß man sich im Leben voll einsetzen muß, daß der Sinn unseres Lebens nur in einem aktiven Kampf liegt. Und zwar im Kampf um eine bessere menschliche Existenz, im Kampf um die Liquidierung all dessen, was das Menschenwesen fesselt, versklavt und korrumpiert. Auch wenn dann die Praxis gezeigt hat, daß es nur Ideale und möglicherweise Illusionen der Jugend waren, auch wenn dann im Leben ein gewisser Opportunismus und zugleich Verdrossenheit darüber, wie falsch der Kampf lief, und Sehnsucht nach etwas mehr Ruhe etc. die Oberhand gewonnen haben, es waren doch die Kommunisten, die in brenzligen, gespannten Situationen (ich denke vor allem an Konfliktsituationen im gewöhnlichen Alltagsleben, z.B. im Berufsleben) nicht nur bei verständnisvollen – und manchmal sogar schmeichelhaften – Sympathieerklärungen und bei bloßen Solidaritätsgesten blieben, sondern nach einem gewissen Zögern und gewissenhaften Erwägen der Umstände auch ihren Posten und ihre Karriere zu riskieren bereit waren, wenn sie einmal zu der Überzeugung gelangt waren, daß es sich wirklich um eine richtige, gerechte Sache handelte. Ich hatte und habe eine Reihe Freunde, die mir eine lebenslange Stütze waren und immer noch sind. Ihre wirkliche Solidarität erwuchs in langen Jahren des gegenseitigen Kennenlernens inmitten einer dauerhaften Zusammenarbeit. Bei den Kommunisten (ich wiederhole noch einmal: bei einigen Kommunisten) habe ich jedoch die Fähigkeit kennengelernt, den Augenblick deutlich zu erkennen, in dem man sein ganzes Gewicht einsetzen muß, auch ohne daß man früher schon ein gemeinsames Schicksal gehabt hätte. Ich habe mehrmals solche plötzlichen Momente der Begegnung und des jähen gegenseitigen Verständnisses erlebt, und ich muß sagen, daß sie dann die Basis unseres gegenseitigen Vertrauens und sogar unserer Freundschaft und insbesondere unseres gegenseitigen Respektes wurden.
Ein großes Problem (und heute, in dieser schrecklichen, anomalen Situation, wo alles verworren ist und nicht selten ins Gegenteil umschlägt, ein um so größeres Problem) bleibt allerdings, zu entscheiden, wer wirklich Kommunist ist und wer nicht, was wirklicher Kommunismus ist und was nicht. Es ist eine historische Tatsache, daß Marxismus und Kommunismus als ein ideologischer Deckmantel für die Verhältnisse dienen, die mit dem Sozialismus und Kommunismus eigentlich nie etwas zu tun hatten oder haben. Offiziell tut man bei uns alles zum Wohle der Arbeiterklasse und anderer Werktätiger. In Wirklichkeit sind jedoch die Arbeitsbedingungen oft so, daß sie in keiner entwickelten kapitalistischen Gesellschaft im Westen hätten bestehen können. Man könnte unzählige konkrete Beispiele anführen. Es gibt Direktoren, die im wahrsten Sinne des Wortes den ihnen anvertrauten Betrieb ruinieren, und keiner weiß, wie man sich ihrer entledigen könnte; auch würde es keiner wagen, weil solche unfähigen Figuren und Allesverderber ihre Beziehungen haben, ihre Fürsprecher und hochgestellte Bekannte, über die sie so allerlei wissen. Was ist daran sozialistisch und kommunistisch? Rein gar nichts. Vielleicht nur die außerordentliche Häufigkeit dieser Erscheinung. Es kommt noch eine weitere historische Tatsache hinzu: Viele echte, überzeugte Kommunisten wurden aus der Partei ausgeschlossen, weil es ihnen unmöglich war und sie nicht bereit waren, sich „belehren“ zu lassen. Gerade das aber zeigt ihre Überzeugung und ihre wirkliche Charakterfestigkeit. Demgegenüber haben Chamäleons, Schmarotzer und Gleichgültige niemals Schwierigkeiten mit der eigenen Überzeugung oder sogar mit dem Gewissen. Dies alles hat bewirkt, daß die Trennungslinie zwischen den Kommunisten und den anderen nicht organisatorisch gezogen werden kann, und daß die Garantie, daß es sich um einen echten Kommunisten handelt, überhaupt nicht in der Parteizugehörigkeit liegt.
Trotzdem – und darin müssen wir mit dem Marxismus und mit seinen Klassikern einverstanden sein – die historische, gesellschaftliche Bedeutung des Kommunismus und der Kommunisten kann nicht reduziert und auch nicht in irgendeiner Echtheit der Gesinnung seiner Anhänger begründet werden (auch wenn ich gern darauf bestehen würde, daß ohne diese Wahrhaftigkeit die ganze Bewegung notwendigerweise untergeht). Es ist nötig, die Charakteristika und Perspektiven der Bewegung selbst zu beurteilen. Aber auch hier bleiben Probleme bestehen. Die internationale kommunistische Bewegung ist geteilt, eine Gruppe von Anhängern verweigert der anderen das Recht, sich für echte Kommunisten zu halten, oder sie sehen sie wenigstens als „Revisionisten“, „Renegaten“, „Opportunisten“ oder andersherum als anarchistische „Radikale“ an, sie werfen sich gegenseitig „Rechtsradikalismus“ und „Linksradikalismus“ vor usw. Wie könnte man auf diesem Niveau irgendeinen Orientierungspunkt finden? Ich bin mir nicht sicher; wie ich schon sagte, es geht um äußerst schwierige Fragen. Aber es bietet sich doch ein Ausgangspunkt an. In einigen Tagen werden wir uns den ersten Jahrestag der Konferenz der europäischen kommunistischen und Arbeiterparteien in Berlin (sie fand am 29. und 30. Juni des vergangenen Jahres statt) ins Gedächtnis rufen. Trotz unbestrittener, nicht gerade kleiner Schwierigkeiten konnte man ein gewisses Grundabkommen erzielen. Ein Teil dieses Abkommens ist in dem damals einstimmig angenommenen Schlußdokument enthalten, ein anderer fand seinen Ausdruck wiederum darin, daß darüber im Schlußdokument nicht mal eine Notiz zu finden ist. Ich glaube, es sollte nicht ganz ohne Nutzen sein, sich umzuschauen und zu bewerten, auf welche Art und Weise der Komplex der Grundprinzipien und Verpflichtungen, der in jenem Dokument ausdrücklich enthalten ist, – vor allem bei uns – umgesetzt wurde.
Ich erachte es vor allem für wichtig, daß die europäischen kommunistischen Parteien sich einig wurden, den eigenen spezifischen Weg beim Kampf für fortschrittliche gesellschaftliche Veränderungen und für den Sozialismus zu respektieren. Das bedeutet, daß laut diesem ratifizierten Dokument nicht nur ein einziger Weg zum Aufbau der sozialistischen Gesellschaft existiert. Und deshalb sollen sich einzelne Parteien vor Einmischung in innere Angelegenheiten der anderen hüten und die Gleichberechtigung und souveräne Unabhängigkeit jeder einzelnen Partei streng wahren. Gleiche Prinzipien gelten jedoch auch außerhalb des Rahmens der kommunistischen Bewegung. Zwischen den Kommunisten und auch zwischen allen anderen demokratischen und friedliebenden Kräften sind Dialog und Zusammenarbeit notwendig. Man muß also Mißtrauen und Vorurteile, die ein Hindernis für eine solche Zusammenarbeit darstellen würden, beseitigen. Die Kommunisten sollten auch eine Zusammenarbeit mit denen für nicht unmöglich halten, die mit ihrer Politik nicht einverstanden sind oder eine kritische Stellung zu ihrer Arbeit einnehmen. Diejenigen, die nicht in allem mit den Kommunisten übereinstimmen und die sie kritisieren, werden nämlich von den Kommunisten nicht unbedingt als Antikommunisten angesehen. Die kommunistischen Parteien Europas betonten in Berlin ihre Bereitschaft, einen Beitrag zur gleichberechtigten Zusammenarbeit mit allen demokratischen Kräften zu leisten, insbesondere mit allen sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien im Kampf für Frieden, Demokratie und Gesellschaftsfortschritt. Extra aufgeführt sind dann auch Christen, und zwar Katholiken und Angehörige anderer Kirchengemeinschaften und auch Andersgläubige, d.h. Angehörige nichtchristlicher Konfessionen (was allerdings ein evident ungenauer Terminus ist), deren Aufgabe im Kampf für Frieden, Demokratie und Arbeiterrechte von den Kommunisten als wichtig gewürdigt wird.
Kommen wir nun zum Vergleich und zur „Kontrolle“: Die Situation in unserem Land ist dadurch charakterisiert, daß die freie innere Entwicklung der tschechoslowakischen kommunistischen Partei durch die ausländische militärische Intervention unterbrochen und stark beeinflußt wurde, übrigens ähnlich wie die freie Entwicklung des ganzen Landes, der ganzen Gesellschaft. Der Weg zum Aufbau des demokratischen Sozialismus und zur Liquidierung der „repressiven und autoritären Methoden der Regierung“, der eine gewaltige Unterstützung bei weiten Schichten der Bevölkerung fand, und auf den – laut des einstimmig genehmigten Berliner Dokuments – unser Land und unsere kommunistische Partei ein souveränes Recht hatte, wurde von den Bruderländern und ihren Parteien im Widerspruch zu den Inhalten des Berliner Dokuments (das jetzt diese Bruderländer, insbesondere ihre höchsten Staatsrepräsentanten einstimmig annahmen) nicht respektiert. Die Statsouveränität und die souveräne Unabhängigkeit der KC wurden aufs gröbste militärisch und politisch verletzt. Zur Innenpolitik: Die Zusammenarbeit unserer Kommunisten mit anderen demokratischen Kräften und der Dialog mit den Nichtmarxisten, insbesondere mit den Christen, die sich einige Jahre hindurch vielversprechend entwickelten, wurden gestört und zerschlagen. Heute existiert in unserem Land keine einzige Gruppe, keine einzige Richtung, ja nicht einmal eine privilegierte Einzelperson (als Musterexemplar für den „Export“), die ihren Unmut über die Politik der heutigen Staats- und politischen Führung laut äußern dürfte, oder die in der Öffentlichkeit kritisch Stellung zu deren Tätigkeit beziehen könnte. So etwas ist physisch und materiell unmöglich gemacht worden (auch wenn es in Widerspruch zu unseren Gesetzen steht). Und falls es doch jemand wagt, sei es auch nur im Rahmen jener so äußerst antidemokratisch eingeengten Möglichkeiten, z.B. in einer mit der Schreibmaschine angefertigten Studie oder in einem Brief, und das irgendwie bekannt wird, wird er sofort als Antikommunist und Antisozialist diffamiert und denunziert. Das ist freilich eine direkte Konsequenz aus der erwähnten Intervention in die innenpolitische Entwicklung in der Tschechoslowakei. Wo nicht die Gleichberechtigung eines jeden Volkes, wo nicht die Souveränität eines jeden Landes und das Prinzip der Nichteinmischung in seine inneren Angelegenheiten respektiert werden, da kann begreiflicherweise auch die Gleichberechtigung des einzelnen Menschen nicht respektiert werden. Die logische Folge der Berliner Zusammenkunft und ihres Dokuments ist, daß „es nötig ist, gegen jeden Versuch von Druck und Einmischung von außen, wo und in welcher Form auch immer, Widerstand zu leisten“. (Aus eben diesen Gründen war im Dokument mit keinem Wort von internationaler Solidarität die Rede, geschweige denn von internationaler Freundschaftshilfe oder gar von der Doktrin einer Souveränitätsbeschränkung.)
Bei uns existieren heute (wie schon seit den fünfziger Jahren) dem Namen nach einige nichtkommunistische Parteien. Ihr politisches Gewicht ist jedoch gleich Null, da sie nur eine Art politischer Kulisse darstellen, die jeder selbständigen Bewegung und eigenständigen Existenz beraubt ist. Aber die kommunistischen und Arbeiterparteien, die auf der Berliner Konferenz vertreten waren, haben sich eindeutig (und einmütig) für „den konstruktiven Dialog mit allen demokratischen Kräften bei voller Wahrung der Souveränität und Selbständigkeit dieser Kräfte“ ausgesprochen.
Wie man sieht, erfüllt unsere (und nicht nur unsere) politische Führung nicht einmal die Grundsätze der Schlußakte der Konferenz europäischer kommunistischer Parteien in Berlin (welcher sie selbst zugestimmt hatte). Kann es dann überraschen, daß sie auch ihre Verpflichtungen aus Helsinki (zu denen die Tschechoslowakei ebenfalls ihre Zustimmung gab, und die ausdrücklich auch im Berliner Dokument erwähnt wurden) nicht erfüllt? Kann es uns dann noch überraschen, wenn die Tschechoslowakei internationale Pakte offiziell annimmt und ratifiziert und sie offiziell zum Bestandteil unserer Gesetzgebung macht, sie dann aber in zahlreichen Punkten nicht erfüllt? In allem finden wir dasselbe stereotype Vorgehen: Offiziell und öffentlich wird unterschrieben, werden feierlich Gesetze und auch internationale staatlich-politische und sogar parteiliche Grundsätze und Verpflichtungen proklamiert, aber dann werden sie entweder gar nicht oder nur sehr zögernd erfüllt. Wenn dann jemand zu Hause darauf hinweist, ist er gleich ein Verräter, ein Bestochener, ein Usurpator, ein Gestrandeter. Wenn jemand aus dem Ausland darauf hinweist, mischt er sich unzulässig in die inneren tschechoslowakischen Angelegenheiten ein. Kritische Beurteilung der wirklichen Sachlage und Scharfblick sind nicht erwünscht und werden immer zum Objekt rücksichtsloser, die Sache gar nicht treffender Attacken. Bedauernswerte Lebensumstände in anderen Ländern sind ein willkommener Vorwand für Ablenkungsmanöver von inländischen Problemen. In anderen Ländern verkündete demokratische Prinzipien werden als bourgeoiser „Flitter“ diffamiert, der soziale Unterschiede verdecken soll. Während einerseits einzelne uns bewegende Einzelschicksale, Statistiken über die Arbeitslosigkeit u.ä. vorgelegt werden, werden auf der anderen Seite ostentativ sozialistische und kommunistische Prinzipien herausgestellt. Über jedes Unglück im Ausland ist unsere Bevölkerung besser und detaillierter informiert als über Unglücksfälle zuhause. In diesem Jahr kam es schon zu mehreren bedauerlichen Unglücksfälen z.B. in Bergwerken, bei denen Menschen ums Leben kamen. Die Informationen über solche Fälle sind sporadisch oder sie fehlen ganz. Über die Untersuchungsergebnisse wurde keine offizielle Mitteilung gemacht. Möglich, daß man immer einen Schuldigen findet. Meistens ist es so. Aber nicht ein einziges Mal machte sich einer unserer Reporter auf den Weg in die betroffenen Bergwerke und berichtete unabhängig darüber, was er über die Sache denkt, was die Bergleute selbst, was ihre Familien dazu sagen. Nicht ein einziges Mal wurden bei irgendwelchen Vorfällen die geradezu ungeheuerlichen Arbeitsbedingungen an bestimmten Arbeitsplätzen zum Gegenstand des allgemeinen Interesses gemacht. Und nur deswegen können jene unzulässigen Verhältnisse fortbestehen. Dies ist nur ein Beleg für die allgemein bekannte Tatsache. Wenn man nämlich den Journalisten, Schriftstellern, Soziologen und anderen berufenen Menschen den Mund verbietet, sind alle bedroht. Auch die, die meinen, daß es sie nichts angehe.
Neben der offiziellen politischen Führung existieren in unserem Land auch Kommunisten, die von diesem Versteckspiel schon genug haben. Es sind die Kommunisten, die nicht vergessen haben, daß an der Wiege des Marxismus ein tiefgehendes Mißtrauen gegenüber den offiziellen Proklamationen stand, genauso wie das bohrende Bemühen, den tatsächlichen Stand der Dinge zu enthüllen, kurzum: die Fähigkeit zu sorgfältigster Kritik, präzises Denken (oder wenigstens das Bemühen darum) und das Verwerfen jedes ideologischen Denkens, jeder Ideologie. Es sind Kommunisten, die entweder nie vergessen oder sich wenigstens nach ihren schlechten Erfahrungen wieder besonnen haben, daß Marx ein Demokrat (sogar ein Liberaler) war. Solche Kommunisten leben auch in unserem Land; und im Ausland gewinnen sie langsam an Bedeutung. Auch wenn sie Gegenstand der Kritik und Attacken von seiten des sog. Realsozialismus geworden sind, haben sie sich schon einen solchen Respekt und ein derartiges Gewicht errungen, daß sie in dem Berliner Dokument enorm wichtige Formulierungen durchsetzten, gegen die die anderen antidemokratischen Kommunisten nur schwer ihre Stimmen erheben und ihr Veto einlegen konnten. Diese halten sich anderswo schadlos, an den sogenannten Eurokommunisten, gegen die sie polemisieren; und zwar im Verborgenen, wo die Kommunisten-Demokraten nicht gleich antworten können. Durch die kommunistische Bewegung zieht sich also eine wichtige Trennungslinie; meiner Meinung nach hat der Antidemokratismus keine Zukunftchancen, oder besser, kaum welche. Seine einzige Chance ist die Unfähigkeit, Unaufrichtigkeit, Trägheit und Bequemlichkeit der Demokraten. Seien wir nicht träge und bequem!
Dein
Ladislav Hejdánek
Prag, den 23.6.1977