- in: Ladislav Hejdánek, Wahrheit und Widerstand. Prager Briefe, transl. Milan Walter – Eva Bauer, München: P. Kirchheim, 1988, p. 112–119
Der Kommunismus und seine christlichen Wurzeln
Lieber Freund,
ich gebe bereitwillig zu, daß mein letzter Brief ziemlich unbefriedigend war. Ich wundere mich übrigens, daß Du auch bei einer Reihe anderer Briefe, die ich Dir schickte, nicht ein ähnliches Gefühl hattest. Wenn ich mich nämlich hinsetze, um Dir zu schreiben, denke ich über die einzelne Formulierung nicht lange nach und verbessere kaum, was ich schon geschrieben habe. Ich will keinen Traktat schreiben. Deshalb sollte man meine Sätze in ihrer Form nicht als etwas Definitives, Endgültiges auffassen – alles ist eigentlich nur eine Art Diskussionsbeitrag. Ich schreibe frei heraus, ohne Vorbereitungen und ohne Konzept. Zeigt es sich, daß ich in manchem ungenau war, daß ich übertrieben oder einen Irrtum begangen habe, korrigiere mich gern. Du mußt schon entschuldigen, wenn mir mancher Brief einfach nicht gelingt. Auch das kann vorkommen. Und was den letzten Brief betrifft, sehe ich ein, daß besonders sein erster Teil durch eine gewissermaßen allzu positive Beurteilung der Kommunisten (wenn auch nur einiger Kommunisten, wie ich zu betonen vergaß) ein wenig provozieren kann. Ferner muß ich zugeben, daß ich mich eigentlich der Frage nach meinem eigenen Verhältnis zum Kommunismus geschickt entzogen habe. Aber vielleicht gelang es mir wenigstens anzudeuten, daß es meinem Verhältnis zum Christentum ziemlich ähnelt, d.h. daß ich insbesondere in seinen Irrtümern und Fehlern direkt eine halbwegs karikierte Form der Irrtümer und Fehler der Christen in der Vergangenheit sehe.
Denn zwischen dem Kommunismus und dem Christentum besteht sicherlich eine enge Verbindung. Der Kommunismus ist auf christlichem Boden gewachsen, und ohne das Christentum ist er historisch gar nicht denkbar. Das Christentum und der Kommunismus tragen markante und unauflösliche europäische Züge in sich. Die gegenwärtige Polemik gegen den Begriff und die Realität des sogenannten Eurokommunismus und insbesondere die sowjetische und osteuropäische Kritik kümmern sich nicht um die Tatsache, daß der Kommunismus eine europäische Idee ist, und daß also der wirkliche Kommunismus ein „Eurokommunismus“ ist. Dasselbe gilt für den Sozialismus. Auch der Sozialismus ist nicht denkbar ohne die Voraussetzungen der europäischen Kultur und Zivilisation und ohne die Entwicklung des europäischen Denkens. Ich erinnere mich daran, wie vor Jahren Hromádka von seinem Chinabesuch zurückkam und sich dann die Frage stellte, ob sich der Marxismus in einem Land durchsetzen könne, das nicht die Zeiten des Christentums durchgemacht hat. Ebenso könnten wir auch fragen, welchen Einfluß auf den Weltsozialismus und -kommunismus die Tatsache hatte, daß er sich zuerst wirksam in einem Land durchsetzte, das nicht durch westliches Christentum, d.h. weder durch den Katholizismus, noch durch die Reformation geprägt war, und das keine Renaissance erlebt hatte. Schon dadurch muß doch die Verwirklichung des Programms von Marx und Engels beträchtlich beeinflußt worden sein. Genauso wurde der sowjetische Sozialismus und Kommunismus gegenüber seiner ursprünglichen westeuropäischen Gestalt weitgehend dadurch verändert, daß er an keine längerfristige und tiefverwurzelte heimische demokratische Tradition anknüpfen konnte. Die Verbreitung der marxistischen Ideologie und der marxistischen Programme in Gesellschaften, bei denen es keine Voraussetzungen gab und gibt, auf deren Basis sich der Marxismus formieren kann, ist in der heutigen Welt eine Sache, über die wir noch viel werden nachdenken müssen, und die der ganzen Welt noch viele Sorgen bereiten wird. Es handelt sich jedoch offensichtlich um eine Parallele zu dem, wie sich einst das Christentum in einer Welt verbreitete, die nicht an jüdische Traditionen anknüpfen konnte, weil sie diese einfach nicht kannte, weil sie ihr fremd waren.
Das Christentum verbreitete sich erfolgreich – um soziologisch und kulturhistorisch zu urteilen – dank dem Umstand, daß es ihm auf der einen Seite gelang, die hellenistische Kultur und die griechischen und römischen Traditionen überhaupt (und später auch die Kultur und Traditionen weiterer Völker) in sich aufzunehmen, und weil es auf der anderen Seite nie die Grundlagen aufgab, aus denen es gewachsen war und mit denen es sich in ständigen Auseinandersetzungen konstituiert hatte, nämlich die jüdischen und die israelitischen Traditionen. Selbstverständlich wählte es das Passende aus, aber es vermochte so weit zu gehen, daß es den ganzen alttestamentlichen Kanon übernahm – und das nicht nur rein formal, mechanisch. Die neutestamentlichen Texte zitieren reichlich aus denen des Alten Testaments und knüpfen überhaupt im wesentlichen an sie an.
Etwas von diesen Zusammenhängen haben damals, Mitte der fünfziger Jahre, nur die Repräsentanten im revolutionären China tiefer begriffen, als sie Lehrstühle und ganze philosophische Fakultäten gründeten, die Gedankenwelt von Kant, Hegel u.ä. lehrten und vermittelten. Ihnen war bewußt geworden, daß man sich, ohne die Grundsätze der deutschen klassischen Philosophie durchdrungen zu haben, Marx und den Marxismus nicht gründlich genug aneignen kann. Leider war dieser Versuch nur von kurzer Dauer und er wurde nicht konsequent genug durchgeführt, da es erheblich mehr Prämissen gibt, ohne die der Marxismus undenkbar ist. Wir dürfen jedoch noch eine weitere Seite des Problems nicht vergessen. Als das Christentum an ältere israelitische Traditionen, insbesondere an Traditionen der jüdischen Propheten, anknüpfte, erlebte die jüdische Gesellschaft gerade eine Erschütterung nach der anderen und war stark von innerem Zerfall gekennzeichnet. Und als das Christentum das Beste aus dem Hellenismus aufzugreifen versuchte, zeigte es sich bald, daß außer dem Stoizismus nichts da war, was der Mühe wert gewesen wäre. Darum wandten sich die christlichen Denker dem Besten zu, was das alte Griechenland der denkenden Welt vermacht hatte, nämlich Platon und später Aristoteles. Der Assimilationsprozeß dauerte sehr lange. Vielleicht könnte man in gewisser Hinsicht eher von einer langwierigen, ansteckenden Krankheit sprechen, wobei während ihres Verlaufs bei den Christen die Anzahl der Antikörper nur sehr langsam anstieg. Und als die Krankheit endlich überwunden war, wurde beinahe auch der Organismus der „christlichen Zivilisation“ besiegt, wie das merkwürdige Überbleibsel des geschwächten Europas manchmal genannt wurde. Europa begann zu zittern und zu stürzen. Ein riesiger wirtschaftlicher Aufschwung, im Innern auf die Ausbeutung des Proletariats und nach außen auf die Ausbeutung der Kolonien gegründet, mündete in unvorstellbare Katastrophen. Nahte das Ende Europas heran? Nahte der Untergang des Westens heran?
Keineswegs. Das Ende stand noch nicht bevor, weil etwas Neues geboren wurde. Es entstand der Sozialismus. Nach den ersten unsicheren Schritten haben sich die führenden Repräsentanten der neuen Bewegung sicherer orientiert: Sollte der Sozialismus Zukunft haben und sollte er die Zukunft Europas und danach der ganzen Welt werden, mußte er an das Allerbeste anknüpfen, was Europa bisher zu produzieren vermocht hatte, was es der Menschheit geben konnte. Lenin hat einst sehr überzeugend auf drei der wichtigsten Quellen des Marxismus hingewiesen. Die weiteren hat er leider außer acht gelassen. Immerhin kann man einige weitere Quellen in seinen anderen Studien nachweisen. Besonders beachtenswert ist Lenins nachdrückliche Betonung, daß die proletarische Revolution die mit Füßen getretene Fahne der Demokratie vom Boden emporheben muß, die die reaktionäre Bourgeoisie in panischer Angst vor der aufkommenden neuen Klasse weggeworfen hatte. An diese vorrevolutionäre wichtige Aussage Lenins knüpft heute der sogenannte Eurokommunismus an. Mögen sich die Eurokommunisten dessen bewußt sein oder nicht, es handelt sich um eine weitreichende Angelegenheit, die bei weitem nicht nur auf die Frage der politischen Formen in der sozialistischen Gesellschaft beschränkt bleibt.
Seit der Zeit der Reformation ist Europa tief gespalten. Politisch und wirtschaftlich blieb das katholische Europa lange Zeit hinter dem „reformierten“ Europa zurück, während angesichts des aufkommenden Proletariats beide Teile Europas wohl in gleichem Maße unvorbereitet waren. Allmählich ebneten sich die Unterschiede ein, und trotz aller Auswüchse der ungleichmäßigen Entwicklung zeigt sich heute schon klar, daß ein wirtschaftlich und politisch konsolidiertes Europa nur eine Frage der Zeit ist. Und es ist auch offensichtlich, daß die politische Form der gemeinsamen Existenz der europäischen Gesellschaft die Demokratie sein wird, auch wenn hier und da warnende Anzeichen der Wiederkehr des Faschismus oder bisweilen eher eine Art von Präfaschismus in Erscheinung treten. An die wirkliche Rückkehr des Faschismus glaube ich nicht. In der Geschichte kehrt nichts zurück und nichts wiederholt sich. Alles deutet darauf hin, daß in Europa der Faschismus am Ende ist. Der Faschismus verlor auch in den großen Krisenzeiten der Welt und bewährte sich nicht einmal in seinen gemäßigten Formen. Der Faschismus hat keine Zukunft, weil er wirtschaftlich uneffektiv, politisch und sozial reaktionär (d.h. er ist eine bloße Reaktion, niemals fand er seinen eigenen Weg) und kulturell steril ist. Wie ein Parasit lebt er bloß von den Krisen und Katastrophen der Gesellschaft. Er kann nichts tatsächlich Neues bewerkstelligen. Eine Gelegenheit für den Faschismus könnte nur eine große Krise der europäischen Gesellschaft sein. Das könnte nur eine ökonomische Krise sein. Europa steht heute allerdings wirklich mitten in einer ökonomischen Krise. Es scheint, daß es den Höhepunkt dieser Krise schon hinter sich hat, aber die Krise selbst wird noch eine längere Zeit andauern. Es zeigt sich, daß nicht einmal die sozialistischen Regierungen Westeuropas mit den ökonomischen Schwierigkeiten fertig werden. Bei aller wirtschaftlichen Stagnation oder direkten Depression ist jedoch die Effektivität der westlichen (d.h. sog. kapitalistischen westeuropäischen, amerikanischen und japanischen) Produktionsverfahren und der Güterdistribution größer als im sozialistischen Block. Faktisch größer. Das muß aber nicht unbedingt bedeuten, daß es am Wesen der Wirtschaftstheorien allein liegt. Es macht mich immer wieder stutzig, daß es bei uns doch noch immer so halbwegs läuft, obwohl die Leute wenig arbeiten und wenn, dann meistens nachlässig, und obwohl es besonders durch schlechte Organisation zu riesigen Verlusten kommt. Aber wie dem auch sei, der sogenannte Realsozialismus hat seine ökonomische Überlegenheit über den Kapitalismus bislang nicht bewiesen. Ich bin kein Fachmann, aber mir scheint, daß die Produktionsverhältnisse im sogenannten Realsozialismus die Entwicklung der Produktivkräfte zumindest ebenso, wenn nicht mehr als im Kapitalismus bremsen. Ich bin jedoch überzeugt, daß das Haupthindernis die politische Struktur der sozialistischen Gesellschaft bleibt, die letzten Endes ermöglicht, daß Unfähige in Angelegenheiten entscheiden, die sie nicht bewältigen können und von denen sie nichts verstehen. Zweifellos könnte wenigstens für eine kurze Zeit der Absolutismus des Aufklärungszeitalters helfen. Leider setzt sich in der Regel der nichtaufgeklärte Absolutismus durch. Abhilfe sehe ich nur in der Demokratisierung der sozialistischen Gesellschaft.
Heute ist Europa wieder geteilt, aber auf eine andere Art und Weise als nach der Reformation. Der Unterschied zwischen den reformierten und den katholischen Ländern ist praktisch verschwunden. Der Protestantismus ist reaktionärer und der Katholizismus progressiver geworden. Die Spannung zwischen den Katholiken und den Protestanten hat sich (bis auf einige lokale Ausnahmen) durchgreifend verringert. Auf den ersten Blick könnte man meinen, daß die Menschen einfach aufgehört haben, sich für die Religion zu interessieren. Aber unter dem Deckmantel der Religionskämpfe ging es um etwas anderes: um Gewissensfragen. Es ging um Fragen der geistigen und moralischen Orientierung des menschlichen Lebens; und um die Freiheit, die Grundlage und die feste Verankerung des Daseins selbst zu wählen. Das klingt gerade heute sehr aktuell. Und hier liegt das Hauptproblem, vor dem jedes sozialistische Programm steht. Wie soll man Wirtschaftsaufgaben der Gesellschaft so lösen, daß es die Befreiung des einzelnen und nicht die Unterdrückung und Versklavung mit sich bringt? Nach dem Dreißigjährigen Krieg hat Europa eigentlich resigniert. Wird es heute aufs neue resignieren?
Die Zukunft des Kommunismus steht und fällt mit seiner Fähigkeit, wirklich (und nicht nur in Proklamationen) an die Vergangenheit Europas anzuknüpfen, an das Allerbeste, auf dem die Geschichte Europas steht und das Europa der Welt gab. Der Sozialismus und Kommunismus, der wieder seine eigene unterdrückte Gesellschaftsschicht bilden wird, hat keine Hoffnung auf ein langes Überleben. Der Sozialismus, dessen Gesetze die Bevölkerung untereinander trennen und nicht verbinden, wird letztendlich zerfallen. Sozialismus und Kommunismus, die unter jedem beliebigen Vorwand die elementaren Menschen- und Bürgerrechte nicht beachten oder sogar niedertreten, vernichten sich selbst. Genauer genommen, sie hören auf Sozialismus oder Kommunismus zu sein, weil Sozialismus und Kommunismus Kinder des demokratischen Programms sind. Der Sozialismus war und ist immer noch Europas Hofnung – der ganzen Welt sogar, aber nur unter der Bedingung, daß er sein Schicksal mit dem Schicksal der Demokratie verbindet, d.h. mit dem Schicksal der Menschheit in dieser Welt. Wenn ihm das nicht gelingt, dann wird die Weltentwicklung andere Wege gehen.
Wie ich schon öfter erklärte, halte ich mich für einen Sozialisten. Ich habe also die berechtigte Hoffnung, daß eine innige Verbingung von Sozialimus und Demokratie möglich ist. Es scheint mir aber, daß auch eine solche Verbindung beider noch nicht ausreichen wird. Der Sozialismus ist eigentlich nur eine erweiterte Anwendung demokratischer Prinzipien. Die Demokratie hat jedoch in beträchtlichem Maße ihre Ursprungsquellen, ihre allertiefste Verankerung verloren. Wo kommt eigentlich die Menschenfreiheit her? Worin sind sich die Menschen im Grunde genommen gleich? Worauf ist ihre Brüderlichkeit begründet? Ein großer Irrtum der Kommunisten und Marxisten war der Glaube an die Allmächtigkeit der ökonomischen Entwicklung. Das war auch nicht die Meinung von Marx. Marx glaubte, daß sich ökonomische Prozesse in der Geschichte nur bis zu dem Zeitpunkt entscheidend durchsetzen, wo sie der Mensch nicht durchschaut. Danach werden sie in seiner Hand zum bloßen Werkzeug – und der Mensch wird die volle Freiheit genießen können. Die Zukunft des Sozialismus liegt also in der Zukunft der Freiheit. Ich gebe zu, daß das zu abstrakt klingt. Ich versuche es anhand historischer Termini auszudrücken. Mir scheint, daß man über die Zukunft der Welt noch einmal in Europa (und nicht in Amerika, Asien oder in der sog. Dritten Welt) entscheiden wird. Aber man wird darüber nur im Innersten Europas entscheiden. Es wird nämlich darum gehen, was eher gelingen wird: Westeuropa zu sozialisieren oder Osteuropa zu demokratisieren. Die sozialistischen Parteien gewannen in Westeuropa nach dem letzten Krieg ziemlich an Gewicht, aber eine wirkliche Sozialisierung der Gesellschaft machte keine allzu großen Fortschritte (sie beschränkte sich im wesentlichen auf soziale Sicherung, aber das reicht nicht). Nicht nur, daß der sogenannte Realsozialismus die demokratischen Strukturen nicht weiterentwickelte; da, wo sie schon existierten und ihre alte Tradition hatten, liquidierte er sie oder räumte sie wenigstens aus.
Im Lauf der Geschichte werden Völker und ganze Zivilisationen von Zeit zu Zeit vor Situationen gestellt, wo sie auf eine bestimmte Aufforderung eine Antwort geben können oder auch müssen. Manchmal kommt es vor, daß alle diesen Appell überhören, oder demjenigen, der ihn hört und weiterverkündet, keine Aufmerksamkeit widmen. Der Augenblick jedoch, in dem man die Gelegenheit hat, auf den Appell zu antworten, verstreicht, und dann ist es schon zu spät. Ein anderes Mal ist der Appell so offensichtlich, daß ihn fast alle denkenden Menschen bewußt zur Kenntnis nehmen. Aber sie finden keine passende Antwort. Auch in diesem Fall ist die Gelegenheit vertan. In diesem Jahrhundert wurde Europa vor mancherlei Appelle gestellt. Eine der Hauptforderungen ist die Erneuerung der Gesellschaft mit dem Ziel einer höheren sozialen Gerechtigkeit. Diesen Appell hören heute schon fast alle. Aber es ist bisher nur teilweise und unvollständig gelungen, darauf zu antworten. Wird es rechtzeitig gelingen? Oder verstreicht wieder der Moment des Appells, und wird es wieder zu spät sein? In diesem Fall würde sich die Achse der Weltentwicklung definitiv von Europa und seinem Erbe entfernen. Was das bedeuten würde, kann sich niemand von uns vorstellen. In jedem Fall würde es das Ende des Sozialismus und Kommunismus bedeuten. Es würde etwas völlig anderes daraus werden. Auch für den Fall, daß diese Bewegungen es überhaupt überleben würden. Vielleicht würde dann nach einer sehr langen Zeit wiederum derselbe Appell an die Menschheit gerichtet werden. Möglicherweise würde er aber nie mehr auftauchen. Und die Geschichte würde ganz andere Wege gehen.
Wie Du siehst, verliere ich nicht die Hoffnung, weder auf den Sozialismus noch auf den Kommunismus. Meine Sympathien gelten dem Kommunismus genauso wie dem westeuropäischen Versuch der Bewältigung europäischer Probleme (die jedoch leider der ganzen Welt aufgezwungen werden). Ich habe allerdings meine Bedenken, ob der sowjetische Sozialismus und Kommunismus (jetzt schon) europäisch genug sind, um europäische Probleme bewältigen zu können. Deswegen verfolge ich mit großem Interesse die Ausformung und Entwicklung des sogenannten Eurokommunismus. Ich verliere auch nicht die Hoffnung auf den westlichen Sozialismus; aber bisher erweckt er den Anschein, als ob es ihm an genügend intellektuellen und moralischen Kräften fehlt. Die Politik einiger europäischer sozialistischer Parteien ist auf eine schockierende Art und Weise oberflächlich und charakterlos. Ich bin der Meinung, daß die nachdrückliche Forderung, die Menschenrechte zu respektieren, zur Wende in der politischen Entwicklung in der ganzen Welt beitragen könnte. Allerdings unter der Voraussetzung, daß sich alle Staaten und Gesellschaftsordnungen bereit erklären, auch ihre Mängel zuzugeben, und daß sie nicht nur auf die Mängel der anderen hinweisen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß sich sowohl der Sozialismus wie auch besonders der Kommunismus in diesem Jahrhundert sehr diskreditiert haben. Das Fiasko wäre mit Bestimmtheit noch größer, wenn es eine Alternative gäbe. Aber bisher zeichnet sich noch keine ab.
Dein
Ladislav Hejdánek
Prag, den 7.7.1977