- in: Ladislav Hejdánek, Wahrheit und Widerstand. Prager Briefe, transl. Milan Walter – Eva Bauer, München: P. Kirchheim, 1988, p. 127–134
Christentum und Sozialismus
Lieber Freund,
nach dem Durchlesen der Zeitschrift „Dialogy“ Nr. 7 drängt sich Dir die Frage nach der Beziehung zwischen dem Christentum und dem Sozialismus in den Vordergrund. Vor allem möchtest Du wissen, ob der gläubige Christ dieses Jahrhunderts (das vergangene Jahrhundert willst Du beiseite lassen) ein Sozialist sein muß oder ob er zumindest Sympathie für den Sozialismus empfinden sollte. Dir geht es weder um die Suche nach den gemeinsamen Wurzeln in der Vergangenheit noch um einen abstrakten Vergleich oder um die theoretischen Zusammenhänge, sondern um die lebendige, aktive Teilnahme der Christen an einigen Strömungen der sozialistischen Bewegung oder um die im Grunde konservative Ablehnung des Sozialismus aus praktischen, insbesondere auch aus politischen Gründen. Kurzum, Du möchtest wissen, ob einige allgemeinverbindliche Kriterien des politischen Lebens der Christen existieren, die sich aus ihrem Christentum, ihrem Glauben ergeben könnten, und zwar insbesondere in ihrer Beziehung zur sozialistischen Realität (oder vielleicht besser: den sozialistischen Realitäten) in der heutigen Welt. Du meinst, daß ich gerade diese Frage bislang eher gemieden und sie auf eine andere Ebene übertragen habe.
Du hast in gewissem Maße recht, daß ich mir diese Frage so noch nie gestellt und auch keine Antwort auf eine so formulierte Frage gesucht und gegeben habe. Ich bin nämlich überzeugt, daß es einfach nicht möglich ist, aus dem christlichen Glauben irgendwelche allgemeingültigen politischen Schlüsse, damit meine ich konkret situations-politische Schlüsse, zu ziehen. Die Beziehung zwischen dem Christentum (oder dem Glauben) und dem politischen Leben ist nicht unmittelbar und direkt, sondern sie wird immer durch irgendwelche weiteren Ebenen und Schichten des individuellen und gesellschaftlichen menschlichen Lebens vermittelt. Ich denke, daß dies nichts spezifisch Charakteristisches für das Christentum (oder für den Glauben) ist. Völig analog gilt dies z.B. für die Beziehung zwischen der Kunst, beispielsweise der Literatur und der Politik, oder auf der anderen Seite z.B. zwischen der Wissenschaft (oder der Philosophie) und der Politik usw. Hier geht es auch nicht ausschließlich um die Beziehung zum politischen Leben; genauso wenig wie eine eindeutige christliche Politik existiert, eine für die Christen allgemein verbindliche christliche Moral, eine christliche Philosophie und eine christliche Wissenschaft. Jede Bemühung, eine solche „christliche“ Moral, Philosophie u.ä. ein für allemal zu verfassen und zu kodifizieren, müssen wir als ein elementares Mißverständnis und eine Abweichung von den tiefsten Prinzipien des Evangeliums auffassen. (Ich weiß freilich, daß diese Formulierung ziemlich kontrovers ist; es gibt genügend Christen, die mir in dieser Sache scharf widersprechen würden.) Vielleicht wird es nicht schaden, wenn ich einige konkrete Beispiele anführe.
Jesus führt z.B. in seiner Bergpredigt unter den Seligen die auf, die „selig“ sind, „denn sie werden das Land erben“ (Mt 5,5). Ähnlich sagt er in einem anderen Zusammenhang, daß wir von ihm lernen sollen: „… lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig“ (Mt 11,29). Viele, die sich zu Jesus bekennen, verabsolutieren diese Aufforderung, und die „Güte und Demut“ selbst verwechseln sie mit Bedrücktheit, Ausdruckslosigkeit, Willenlosigkeit und Erniedrigung. Dadurch wird jedoch die Botschaft Jesu sehr reduziert; aus dem Leben eines gläubigen Christen werden dann solche Momente ausgelassen, die wir bei Jesus selbst finden. Wieder können wir als Beispiel die Vertreibung der Geldwechsler, Händler und Käufer aus dem Tempel anführen. Jesus verursachte dort einen ordentlichen Wirbel. Nicht nur, daß er die Geldwechsler hinaustrieb (das Geld mit dem Kaiserkopf mußte erst in kirchliches Geld umgewechselt werden, um Opfertiere kaufen zu können), sondern er stieß auch ihre Tische und die Stände der Taubenhändler um (Mt 21,12), „ließ nicht zu, daß jemand irgend etwas durch den Tempelbezirk trug“ (Mk 11,16), machte sogar eine Geißel aus Stricken und trieb Schafe und Rinder aus dem Tempel (d.h. aus dem Tempelhof) hinaus und „das Geld der Wechsler schüttete er aus“ (Joh 2,15). Es kann nicht der geringste Zweifel darüber bestehen, daß sich Jesus in dieser Situation überhaupt nicht als „gütig und von Herzen demütig“ verhalten hat. Der Evangelist Johannes schreibt sogar, daß seine Jünger sich an die Worte des Psalms (69, 10) erinnerten: „Denn der Eifer für dein Haus hat mich verzehrt“. Diejenigen, die Jesus Christus folgen wollen, müssen von ihm einerseits die Güte und die Demut des Herzens lernen, aber unter Umständen auch diesen Eifer. Jesus' Taktik ist situationsbedingt; sie ist also nicht auf irgendwelchen ein für alemal gültigen Regeln begründet. Jesus lehnt Moses Gesetz als Gesetz ab, er lehnt es ab, seine festen Formeln anzuerkennen. Er macht sie in ihrer überzeitlichen und über die Situation hinausgehenden Gültigkeit schwankend und formuliert als Gegensatz dazu die Ansprüche des Evangeliums als Weisungen, als Richtlinien für das Verständnis der konkreten Menschen und der konkreten Situationen und insbesondere als Appell zur Steigerung der Empfindlichkeit und der Verantwortung des Gewissens. Was für die Sphäre der christlichen Ethik gilt, gilt mutatis mutandis auch für die politische Sphäre. Mit Sicherheit gilt nicht, daß die Politik für den gläubigen Christen irgendein Adiaphoron sei, etwas, worauf es ihm nicht ankommt, wovon er sich abwendet oder wozu er sich zumindest neutral verhält. Der Christ muß seinen Glauben im ganzen Leben und in allen seinen Schichten und Dimensionen bekunden und geltend machen. Ein apolitischer bzw. politisch nicht engagierter Christ ist in wesentlicher Hinsicht invalid, gelähmt, gebrechlich, kurz defizient. Zur Fülle des Lebens im Glauben gehört unbedingt auch seine deutliche politische Dimension. Wir könnten das auch so ausdrücken: Ein Christ kann und darf in seinem Leben nicht auf politische Entscheidungen und demnach auch nicht auf politische Bildung und auf politisches Denken verzichten! Er kennt jedoch auch andere, und nicht selten wesentlichere, tiefere Dimensionen des persönlichen und auch des gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Lebens. Er läßt niemals die Politik sein ganzes Leben und sein ganzes Denken überfluten und vernichten. Er wird aber niemals gesellschaftliche und politische Probleme aus seinen Überlegungen verdrängen dürfen. Auch für die politische Ebene seines Verhaltens gilt der von Jesus neu interpretierte alte rabbinische Grundsatz: „Seid daher klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben“, was nach Jesus Aufassung eine Aufforderung zur Vernünftigkeit, zur Offenheit und zur Aufrichtigkeit ist. Wer sich nicht für politische Fragen interessiert und wer der Politik den Rücken kehrt, verliert seine „Klugheit der Schlangen“ und wird leicht zum Opfer der politischen Manipulation und zum Teilhaber an einer sehr unchristlichen Art des gesellschaftlichen und zuletzt auch des individuellen und privaten Lebens.
Die grundlegende politische Devise von Jesus' Verkündigung des Evangeliums ist die Ankündigung, daß das Himmelreich (oder das Reich Gottes) naht. Der Evangelist Mathäus qualifiziert sogar Jesus Evangelium als das Evangelium des Königreiches. (Mt 4,23: „Er zog in ganz Galiläa umher, lehrte in den Synagogen, verkündete das Evangelium vom Reich …“ Ähnlich Mt 9,35: „Jesus zog durch alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen, verkündete das Evangelium vom Reich …“). Das Wort „Reich“ (griechisch: BASILEIA) ist vorwiegend ein politischer Ausdruck und bedeutet Herrschaft, Herschen, Regieren. Überdies ist es im Munde Jesus und überhaupt in den Evangelien eine unübersehbare politische Spitze von kritischem und polemischem Charakter. Dieses neue Reich naht, damit die einen aus ihrer Erniedrigung, Verarmung und Unterdrückung in es eintreten können, wogegen den anderen (z.B. den Reichen) es nur äußerst schwer sein wird hineinzugelangen. Dieses Himmelreich oder das Reich Gottes ist die Herrschaft der Zukunft. Die, die sich ihm öffnen und die es annehmen, sollen ihre Vergangenheit hinter sich lassen. (Lk 9,62: „Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nochmals zurückblickt, taugt für das Reich Gottes.“) Und völlig klar ist die Hierarchie der politischen Werte festgesetzt: Das Reich Gottes steht immer an erster Stelle, seinen Ansprüchen muß man sich in erster Linie unterordnen, seine Angelegenheiten und Aufgaben sind die vordringlichsten, alles andere steht erst an zweiter Stelle. (Mt 6,33: „Euch aber muß es zuerst um sein Reich und seine Gerechtigkeit gehen“; vgl. Lk 12,31.) Der Eintritt in dieses Reich ist nur auf kindliche Art möglich (etwa so, wie ein Kind in die menschliche Welt eintritt und dadurch ihr Bewohner, ihr Bürger wird); auch läßt sich dieses Reich nur so annehmen, wie wir ein Kind aufnehmen. Das geschieht so, daß wir die Verantwortung übernehmen, daß wir freiwillig und mit Freude die Verpflichtungen für seine Zukunft auf uns nehmen, die uns zur Norm unseres Handelns und Lebens wird. Es gäbe noch einiges, was diesen kurzen Anmerkungen, die nichts mehr als bloße Hinweise zum Nachdenken sind, hinzugefügt werden müßte. Aber auch das Wenige ist bereits ausreichend für Schlußfolgerungen, die sich ganz zwingend für jeden, der offene Augen und Ohren hat, daraus ergeben. Jeder, der glaubt (und der Glaube ist die Orientierung für das ganze Leben und Denken in die Zukunft hinein – oder wie E. Rádl sehr treffend sagt, es ist eine „Neigung zur Tat“), also jeder wirkliche Christ (mag er sich als solcher bezeichnen oder nicht), ist an erster Stelle Bürger des Reiches Gottes, das heißt, eines Reiches, das nicht von dieser Welt ist (Joh 18,36). Es ist kein Reich wie andere und es wendet nicht die üblichen Methoden und Mittel an, die alle Regierungen dieser Welt anwenden, d.h. dieses Reich wendet vor allem keine Macht und keine Gewalt an. Seine „Macht“ ist eine andere, neue, und sie kommt anders zur Geltung als mit Hilfe von Zwang. Als der beschuldigte Jesus als politischer Verbrecher vor Pilatus stand, fragte ihn dieser, ob er sich wirklich für einen König halte, wie ihn die Juden beschuldigten. Jesus hat dies nicht geleugnet, aber nach der Richtigstellung, daß sein Reich nicht von dieser Welt sei, präzisierte er, wer er wirklich sei und wie seine wirkliche Sendung aussehe: „Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, daß ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme“ (Joh 18,37). Und als er vorher schon von dem Hohen Priester verhört und über seine Lehre befragt wurde, sagte er: „Ich habe offen vor aller Welt gesprochen. Ich habe immer in der Synagoge und im Tempel gelehrt, wo alle Juden zusammenkommen. Nichts habe ich im geheimen gesprochen“ (Joh 18,20).
Wir können also mit dem nächsten Schritt den Charakter jenes neuen Reiches eingrenzen: Es ist ein Reich bzw. eine Herrschaft der Wahrheit; und alle, die eingeladen werden, es anzunehmen und als seine Bürger einzutreten, nehmen die Verpflichtung auf sich, der Wahrheit zu dienen. Sie nehmen also die Verpflichtung auf sich, öffentliche Zeugen der Wahrheit zu sein. Dem Christentum ist jede Anarchie, jede Geheimtuerei und Verheimlichung fremd. Das öffentliche Wirken im Dienste der Wahrheit führt den Christen zu seiner politischen Haltung, bzw. ist die eigentliche Quelle und Basis seines politischen Engagements. Die Wahrheit läßt sich nicht woanders aussprechen und nicht woanders verteidigen, und zu ihr kann man an keinem anderen Ort stehen als in den kulturellen und politischen Zentren, in der Öffentlichkeit, im vollen Licht. Keine Macht, kein weltlicher Herrscher und auch keine Machtgruppe kann mit der Wahrheit disponieren, wie sie möchte, sondern umgekehrt, die Wahrheit selbst ist es, die mit letzter Gültigkeit jedes Regime und jede weltliche, äußere Macht, jede menschliche Gerechtigkeit und alle Machtmechanismen und ihre ideologischen Verschleierungsmittel letztlich im wahren Lichte zeigt. Die Macht des Reiches Gottes ist mit der Macht der Wahrheit selbst identisch. Die Wahrheit kann niemandem mit Gewalt aufgezwungen werden. Zur Wahrhaftigkeit und Wahrheit könnt ihr den Menschen niemals gewaltsam zwingen. Die aufgezwungene Wahrheit wird zur Lüge. Die wirkliche Wahrheit wirkt mit Hilfe der inneren Macht, sie wirkt durch ihre innere Überzeugungskraft, ihre innere „Logik“, das heißt, mittels des „Logos“, also des Wortes, der Sprache, des Gesprächs und der Argumentation. Sobald die Wahrheit irgendwie mit der Machtposition, mit der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung u.ä. in Verbindung gebracht wird, also sobald sie in die Dienste von etwas Bestehendem, von hier bereits Vorhandenem, das sich selbst durch die Wahrheit schmücken und stützen will, gestellt wird, gräbt sie zwischen dieser Wirklichkeit, dieser Gegebenheit, dieser Position und sich selbst einen umso tieferen Graben, je größer die Gefahr ihrer Vereinnahmung ist und je offensichtlicher deren manipulative Beherrschung wird. Und diejenigen, die in die Dienste der Wahrheit eingetreten sind und die ihre Lebensaufgabe an erster Stelle als die Bezeugung der Wahrheit begreifen, können in einem solchen Falle nicht schweigen, sondern sie müssen in erster Linie auf die Falschheit jedes vorgetäuschten Bündnisses zwischen der Macht und der Wahrheit hinweisen. Und sie müssen auch darauf hinweisen, daß mit der Unterdrückung von kritischen Stimmen zugleich die Wahrheit selbst unterdrückt und zum Schweigen gebracht wird.
Und jetzt kann ich endlich Deine eigentliche Frage über die Beziehung des Christentums und der Christen zum Sozialismus beantworten. Diese Beziehung läßt sich nicht leicht ein für allemal formulieren, sondern immer nur in Abhängigkeit von der konkreten historischen Situation verdeutlichen. Sofern der Sozialismus unmenschliche Züge der kapitalistischen Gesellschaft aufdeckt, in der die Macht des Geldes entscheidet, und sofern er die unmenschliche Stellung der Arbeiter und der Werktätigen überhaupt in der Gesellschaft aufdeckt, in der die Besitzenden herrschen, muß jeder wirkliche Christ tiefe Solidarität mit der sozialistischen Bewegung fühlen und diese auch praktisch zum Ausdruck bringen und er kann sich mit Recht aktiv an ihr beteiligen. Aber in dem Moment, in dem die immer stärker werdende und sich machtpolitisch festigende sozialistische Bewegung selbst Unrecht begeht, muß sich der Christ entsprechend scharf vom Sozialismus und der sozialistischen Bewegung distanzieren. Unrecht ist es, etwas nach außen vorzutäuschen und etwas ganz anderes in der Praxis zu verwirklichen; wenn also z.B. „gehobelt wird“, daß „Späne fallen“, so zu tun, als ob es sich nur um etwas Peripheres und Unwichtiges handelte. Vom Unrecht muß man insbesondere dann sprechen, wenn die sozialistische Bewegung sich die gröbsten Verstöße gegenüber dem Sinn ihrer eigenen ursprünglichen Motive zuschulden kommen läßt, das, was bereits erreicht wurde, hervorhebt und sich dahinter verschanzt, und wenn sie alles das, was den unterdrückten und gedemütigten Menschen Würde und Freiheit brächte, ins Unendliche hinausschiebt. Dann muß der Christ die Sozialisten an ihre sozialistischen Prinzipien und Grundsätze erinnern und die gegebene Wirklichkeit sowohl mit dem ursprünglichen sozialistischen Programm, als auch mit den Grundanforderungen des Respekts vor jedem menschlichen Wesen und seinen wesentlichen Freiheiten und unveräußerlichen Rechten konfrontieren. Kurzum, der sein Leben im Glauben verankert hat und sich am Weg des künftigen Sieges des Reiches der Wahrheit orientiert hat, muß sich schon jetzt und an dieser Stelle darum bemühen, dieses Reich zumindest teilweise und zumindest in den dringendsten Momenten und Situationen zum Ausdruck und zur Geltung zu bringen. Solange die sozialistische Bewegung und die einzelnen Sozialisten die Wahrheit als das höchste Kriterium ihres Denkens und ihrer Praxis respektieren, sitzt der Christ mit ihnen in einem Boot und kann auch ganz legitim selbst ein Sozialist sein (ist doch der Sozialismus nur ein dünnerer Aufguß des Christentums). Seine Grundloyalität gehört jedoch allein der Wahrheit. Die Loyalität dem Sozialismus gegenüber drückt der Christ nur dadurch aus, daß er den Sozialisten und der sozialistischen Bewegung gegenüber in höchstem Maße wahrheitsliebend ist und daß er das wahre Gesicht des Sozialismus und der Sozialisten im Licht der Wahrheit zeigt und nichts davon, was an ihm deformiert und deformierend ist, verschweigt. Selbstverständlich gibt es keine allgemeine Verpflichtung, die die Christen zwingen würde, ein Sozialist zu sein oder mit der sozialistischen Bewegung und ihrem Programm konform zu gehen. Für die Beziehung zum Sozialismus, genauso wie für die Beziehung zu jeder anderen Bewegung und jedem anderen Programm gilt ein doppelter Grundsatz, den wir wiederum im Evangelium finden. Solang es sich um konkrete gesellschaftliche und politische Praxis handelt, besteht die Möglichkeit einer umfassenden Zusammenarbeit: „Denn wer nicht gegen uns ist, der ist für uns“ (Mk 9,40). Dies gilt sowohl für ein Gespräch (Dialog) als auch für bestimmte Bereiche der Zusammenarbeit an zukunftsträchtigen Aufgaben und Zielen. Das gilt freilich nicht dort, wo jede Konkretion und Abgrenzung überschritten wird und wo es sich um generelle Prinzipien, Richtlinien und allgemeine Perspektiven handelt. Dort muß der Christ außerordentlich vorsichtig sein und jede Mesalliance vermeiden, auch wenn sie im gegebenen Augenblick noch so ehrenhaft und verlockend aussieht. Auf der Ebene der Grundsätze und Prinzipien gilt ein anderer Grundsatz des Evangeliums: „Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich …“ (Mt 12,30). Den Beweis, daß beide Grundsätze gelten, jedoch nicht universell, sondern situationsbedingt und je nach den gegebenen Umständen und der Ebene, um die es geht, führt der Evangelist Lukas (Lk 9,50 und 11,23).
In der Geschichte haben die Christen gegen den Geist dieser beiden Grundsätze mehrmals grob verstoßen. Ein schlechtes Beispiel bot ihnen leider bereits der Apostel Paulus, der im Gegensatz zu Jesus die Bedeutung der Unterschiede in der sozialen Eingliederung der Menschen in gröbster Weise unterschätzt und überhaupt vernachlässigt hat. Seine Empfehlung, daß die Sklaven (Diener) ihren Herren als wäre es Christus gehorchen, und nicht nur arbeiten, um sich „bei den Menschen einzuschmeicheln und ihnen zu gefallen“, und die Empfehlung an die Herren, daß sie von Drohungen und Härte ablassen im Bewußtsein, daß sie einen gemeinsamen Herren im Himmel haben (Eph 6,5f.), oder seine Aufforderung: „Die Sklaven sollen ihren Herren gehorchen, ihnen in allem gefällig sein, nicht widersprechen, nichts veruntreuen; sie sollen zuverlässig und treu sein, damit sie in allem der Lehre Gottes, unseres Retters, Ehre machen“ (Tit 2,9–10), wie auch die Aufforderung: „Ihr Herren, gebt den Sklaven, was recht und billig ist; ihr wißt, daß auch ihr im Himmel einen Herren habt“ (Kol 4,1) – das alles ist eine soziale Utopie, die zwar von Fall zu Fall die harten sozialen Beziehungen zwischen den Menschen aufweichen und die Unmenschlichkeit verdrängen kann, aber faktisch ist sie sozial perspektivlos und verliert völlig die für das Evangelium wesentlichen Ingredenzien der Orientierung auf die neue Zeit und auf die Zukunft, in der jeden Menschen (der sich nicht selbst ausschließt) die glorreiche Befreiung erwartet. Von der inneren, geistigen Befreiung der Sklaven reden und zugleich empfehlen, daß er Sklave bleiben und seinem Herren gehorchen soll, ist eine für den tiefsten Geist des Evangeliums absolut unzulässige Spiritualisierung, die Jesus' Sendung völlig fremd ist. Jesus hat es abgelehnt, die Aufgabe eines politischen Messias auszuüben, einen bewaffneten Kampf gegen den römischen Okkupanten zu entfesseln und die Freiheit für die Israeliten in der Form des erneuerten Königreiches zu erkämpfen. Ihm ging es um ein vollkommenen anderes Königreich, so wie wir es uns schon vor Augen geführt haben, um ein Reich, in dem die Wahrheit herrscht, die ohne jegliche Hilfe von außen und ohne gewaltsame Nötigung zum Gehorsam gegenüber einer Autorität auskommen kann und eigentlich muß. Aber Jesus war von jeder sozialen Nivellierung weit entfernt, und hat sich bewußt an deklassierten Schichten orientiert: Selig sind die Armen, Hungernden, Weinenden, die, die gehaßt, ausgestoßen, beschimpft usw. werden, aber wehe den Reichen, den Satten, den Lachenden und denen, die von allen Menschen gelobt werden (Lk 6,20ff). Jesus hat sich wenig um seinen guten Ruf gekümmert (Phil 4,8), er wußte, daß man über ihn erzählte, er sei „ein Fresser und Säufer, dieser Freund der Zöllner und Sünder“ (Mt 11,19). „Alle Zöllner und Sünder kamen zu ihm, um ihn zu hören. Die Pharisäer und die Schriftgelehrten empörten sich darüber und sagten: Er gibt sich mit Sündern ab und ißt sogar mit ihnen“ (Lk 15,1–2). Wenn aber Jesus die Ehebrecherin nicht verurteilt, sondern sie mit den Worten entläßt: „Geh und sündige von jetzt an nicht mehr“ (Joh 8,11), ist das keine moralische Laxheit, sondern das klarste Bewußtsein ihrer sozialen Erniedrigung. Ich übertrage das für mich in eine andere Situation, in der der Sklave hören würde: Auch ich verurteile dich nicht. Geh und verrichte von jetzt an keine Sklavendienste mehr (siehe Joh 8,11 und vorausg.).
Dein Ladislav Hejdánek
Prag, den 2.11.1978