- in: Ladislav Hejdánek, Wahrheit und Widerstand. Prager Briefe, transl. Milan Walter – Eva Bauer, München: P. Kirchheim, 1988, p. 167–174
Philosophie und Politik
Lieber Freund,
Deine Einwände und Bemerkungen zum letzten Brief über meine Auffassung der Beziehung der Philosophie zum politischen Leben verstehe ich ganz gut. Du erwähnst einen Text, den ich zum Sammelband zu Kosíks 50. Geburtstag beigetragen habe, und in dem ich die Distanz als die primäre Beziehung des Philosophen zur Politik hervorgehoben habe. Du hast den Eindruck, daß ich gerade den Gedanken der Distanz zu einseitig entwickle, während ich nur bei allgemeinen Formulierungen bleibe, wenn ich die positive Beziehung der Philosophie und der Philosophen zur politischen Sphäre anspreche. Du hältst es für charakteristisch, wenn ich schreibe, daß „das politische Bewußtsein der Philosophie darin besteht, daß die die Politik und die politische Arbeit nicht aus dem Rahmen der menschlichen Aktivitäten herauslassen kann, die sie ihren philosophischen Reflexionen unterwirft“. Es scheint Dir, daß das für mich nur eine gewisse negative Notwendigkeit, nur ein Notstand ist, der die Philosophie zum politischen Interesse zwingt. Du wolltest hören, ob die Philosophie ihre eigenen inneren philosophischen Gründe zu politischer Handlung, zu politischem Einfluß, zu politischem Engagement hat. Du schreibst, daß ich darauf ausweichend geantwortet habe; dennoch sei offensichtlich, daß ich mich als Philosoph in der politischen Szene nicht wohl und erst recht nicht heimisch fühle. Die politische Arbeit, der politische Einfluß bleibe in meiner Auffassung für die Philosophie nur eine Randerscheinung. Und Du hegst Deine tiefen Zweifel darüber, ob es nicht auch eine Art des „Verrats der Intelligenz“ sei, in diesem Falle ein Verrat der Philosophen.
Ich glaube aber, daß Du weder meinen letzten Brief noch den älteren Text, den ich Kosík gewidmet habe, richtig gelesen hast. In meinem Brief schreibe ich ausdrücklich, daß die legitime und wünschenswerte Beziehung des Philosophen zur Politik eine „aktive, engagierte kritische Beurteilung der praktischen Politik des Einzelnen oder der Gruppe sei, die die Macht besitzt oder an ihr partizipiert“. Und ich fahre fort: „Eine solche Philosophie zeigt dann die Wesensmerkmale der konkreten Politik, die dem gewöhnlichen Blick entgehen, sie enthüllt ihre inneren Widersprüchlichkeiten, ihre ungesicherten Fundamente, ihre Labilität und ihre wirklichen, nicht bloß deklarierten Perspektiven.“ Und in der erwähnten Studie „Die Reflexion in der Politik und die Frage des politischen Subjekts“ kann man lesen: „Die philosophische Reflexion der politischen Programme und ihrer Verwirklichung ist schon deshalb immer unerläßlich, weil sich jede falsche und verheerende Politik (und vor allem jede von den Fesseln und Grenzen befreite und emanzipierte, dem Menschen und der Gesellschaft entfremdete Macht) vor dem vollen Licht fürchtet, sich hinter ideologischen Verkleidungen und Kostümen versteckt, die zur Täuschung des gewöhnlichen und oberflächlichen Blicks ausgedacht wurden. Insbesondere ist die philosophische Reflexion unerläßlich, um jenes erwähnte theoretische Fundament der auf Irrwegen geführten und weiterhin irreführenden Politik im vollen Licht zu zeigen, das eine falsche Anthropologie ist“. Schon aus diesen zwei Stellen wird klar, daß die Philosophie und ihre reflektierenden Methoden in der Politik notwendig ihren Platz haben müssen (was ein ausreichender Grund dafür ist, daß sich die Philosophie mit der politischen Tätigkeit und der ganzen politischen Sphäre beschäftigt, wenn auch nur aus der Distanz); indirekt wird hier gesagt, daß neben der falschen Politik auch eine wahre Politik möglich ist, und daß – das mußte man schon daraus schließen – ein gewisse Affinität zwischen dieser wahren Politik und der Philosophie existiert.
Ich muß einige grundlegende Tatsachen erwähnen, die mit dem Verhältnis der Philosophie zur Politik zusammenhängen. Die Philosophie kann niemals ohne Bezug zum Ganzen auskommen: vor allem zum Ganzen des menschlichen Lebens, zum Ganzen, das der Mensch selbst ist; aber sicherlich auch zum Ganzen der Welt, weil der Mensch seinem Wesen nach ein Teil der Welt ist. Er ist ein Bewohner der Welt, er ist das personell integrierte Dasein in der Welt. Das ganze menschliche Leben muß sich notwendigerweise auf das Ganze der Welt beziehen. Der Mensch ist um so mehr und um so besser Mensch, je besser, fundamentaler und wesentlicher er sich auf das Ganze der Welt bezieht. Zu diesem Ganzen der Welt gehört aber auch die Sphäre der Politik. Der Mensch verweilt auf der Welt so, daß er sich mit seinem Leben in größere menschliche Ganzheiten, vor allem in die Familie und, seit einem bestimmten geschichtlichen Augenblick, insbesondere in das Gemeinwesen, die „polis“ eingliedert. Das Dasein des Menschen in der Welt ist nur mittels seiner Eingliederung in die partikulären, vorläufigen und niedrigeren Ganzheiten möglich. Das Wesen dieser vorläufigen Ganzheiten ist ein doppeltes: Einerseits sind sie eine nützliche Vorbereitung für die menschliche Verankerung in den höheren Ganzheiten, andererseits können sie jedoch hinderlich sein auf dem Weg vorwärts, nach oben und unten. Die familiären Bindungen und die Orientierung auf die eigene Familie als dem höchsten Gut und Ziel können das menschliche Leben unglaublich deformieren. Ähnlich stören die Stammes-, National- oder Klassenbegrenztheit die menschliche Welt in erheblichem Maße und degradieren sie geradezu zur bloßen kollektiven Umwelt und ihrer Subjektivität. Die Zugehörigkeit zu einer konkreten Gemeinde, d.h. die politische Bürgerschaft, kann auf der einen Seite den Menschen auch aus der Subjektivität der niedrigeren Ganzheiten herausführen, diese durchbrechen und ihnen einen größeren Rahmen geben, sie kann aber auch den Menschen überwältigen, und zwar als das Höchste, was sein Leben beherrscht und was ihm in der letzten Instanz seinen Wert und seinen Sinn gibt und garantiert. Deshalb ist auch die Beziehung der Philosophie zum Gemeinwesen und zur politischen Dimension des menschlichen Lebens notwendigerweise eine doppelte.
Außerdem ist der Bereich des Bewußtseins und des Denkens die ureigenste Sphäre und Ebene der philosophischen Aktivität; ihre Grundmethode ist die Reflexion. Das bedeutet, daß die Philosophie sich zwar immer auf Grund ihrer Bestimmung und ihres Charakters auf das Ganze bezieht, aber sie stellt dieses Ganze weder selbst dar, noch ist sie imstande, es mit ihren Mitteln zu realisieren. Die Philosophie kann niemals das ganze Leben, die Erfüllung aller Lebensaufgaben und der menschlichen Sendung sein. Aus dem Wesen der Dinge kann die Philosophie nicht in die Praxis übergehen, also auch nicht in eine politische Praxis, sondern sie kann und muß jede Praxis zum Gegenstand ihrer Reflexion machen. Das bedeutet jedoch nicht, daß die Philosophie für das praktische menschliche Leben nicht zu einer Richtschnur werden kann. In der gegenwärtigen Epoche, wo sich der Mythos in einer völligen Auflösung befindet und die Religion zu einer gesellschaftlich peripheren Angelegenheit wird, ist die Philosophie nicht nur als ein Mittel des Selbstbewußtwerdens des Menschen unverzichtbar (darin steht ihr auch die Kunst zur Seite), sondern und vor allem als der Weg dazu, sich selbst und den Menschen überhaupt in seiner Situiertheit in der Ganzheit der Welt im vollen, wahren Licht zu sehen. Und das nicht bloß als die Form der Gegebenheit, sondern auch und im besonderen als die Form der Nichtgegebenheit, nämlich als die Forderung und die Orientierung auf die Zukunft. Es gibt Abwege im Leben, deren wahren Charakter nur die Philosophie zu enthüllen imstande ist. Und das gilt auch in der Politik, in den konkreten politischen Bewegungen und Programmen.
Die Politik kann und darf niemals zur Applikation irgendeines konkreten philosophischen Entwurfes oder Systems werden, weil ihr gesamter Aufbau aus ganz anderen Wurzeln emporwächst. Die Philosophie ist auch nicht dazu berufen, ihre eigenen politischen Programme vorzulegen, ihre eigenen Vorstellungen von einer idealen Gesellschaft und einem idealen Gemeinwesen auszumalen. Die Funktion und die Kraft der Philosophie beruht auf etwas ganz anderem: Sie zeigt den Charakter, die Programme und die Ergebnisse einer bestimmten Politik in breiteren Kontexten und letztendlich im Kontext des Weltganzen. Schon dadurch gerät sie meistens in ein ziemlich gespanntes Verhältnis zur politischen Wirklichkeit, daß sie diese des ideologischen Flitters beraubt und die Berechtigung ihrer übermäßigen Ansprüche in einigen Fällen relativiert, oder in anderen Fällen im Gegenteil ihre platte Pragmatik, die Niedrigkeit ihrer Motive und ihr gleichgültiges, fast schon zynisches Verhältnis zu den Grundwerten aufdeckt. Aber das entscheidende Moment im Verhältnis der Philosophie zur Politik liegt doch noch woanders.
Das menschliche Leben, das nicht zur Geltung (welche Gründe auch immer schuld sein mögen) im gesellschaftlichen Leben, in der Öffentlichkeit, innerhalb des Gemeinwesens kommt, ist ein unvollständiges, reduziertes oder nicht voll entfaltetes Leben. Auch wenn die Devise, daß das öffentliche Leben nur ein bescheidener Teil des geistigen Lebens ist, weiterhin Gültigkeit besitzt, kann dennoch darüber kein Zweifel bestehen, daß das geistige Leben, das nach außen nicht zum Ausdruck kommt, das nicht in die öffentlichen Räume eingreift und zu keinen gesellschaftlichen und direkt politischen Folgen führt, irgendwie ein verkümmertes, verarmtes, nur beschränkt gültiges, kurzum ein invalides Leben ist. Sicherlich ist es dadurch nicht zu etwas Nichtigem geworden. In der Gesellschaft ist es möglich und sogar notwendig, auch Extreme zu tolerieren, sofern sie rein individuellen, privaten Charakter haben und sofern sie nicht beabsichtigen, zur allgemeinen Modellform zu avancieren (und freilich, sofern sie nicht das Leben anderer Menschen verhängnisvoll beeinflussen oder gar bedrohen). Die Erfahrung hat uns überzeugt, daß es sogar vereinsamte Menschen geben kann, die scharf vom Weg der ganzen Gesellschaft abweichen und trotzdem außerordentlich wichtig und praktisch nützlich sind. Es wäre wahrscheinlich ein Unglück, wenn beispielsweise Kierkegaard oder Nietzsche zu befolgten und nachgeahmten Vorbildern geworden wären; und dennoch sind ihre seltsamen und ungangbaren Lebens- und vor allem ihre Gedankenwege bis heute ein wichtiger Beitrag zur Selbsterkenntnis und zum Selbstverständnis des modernen Menschen. Sie müssen jedoch einer gründlichen Analyse unterworfen und auf das Ganze bezogen werden, aus dem beide Denker herausgefallen sind und das sie verfehlt haben.
In diesem Sinne kann auch die fehlerhafte, falsche Politik in der philosophischen Reflexion zu einer bedeutsamen Belehrung aufgewertet werden, die in erheblichem Maße die Bedeutung dieser Politik allein überschreitet. Solch eine Belehrung stellt dann eine Art Übergangsraum dar von der kritischen Distanz der Philosophie gegenüber der konkreten Politik zum Abstecken gewisser Rahmenperspektiven für die Politik, der sich die Philosophie nahe fühlt und in der sie bestimmte verwandte Momente entdeckt. Jetzt bleibt nur noch, eine Untersuchung einzuleiten, welchen Typus der politischen Praxis wohl die Philosophie als etwas ihr Nahes auffassen würde, und worin wohl die Verwandtschaft zwischen der philosophischen Bemühung und der politischen Aktivität begründet sein kann.
Dabei müssen wir mit der ureigentlichen Auffassung von Politik und von politischer Arbeit beginnen. Die Politik ist ein Komplex von Projekten und Maßnahmen, die durch komplizierte und konfliktreiche Situationen in der Gesellschaft erzwungen werden oder die für die Gesellschaft und ihre Mitglieder als unerwünscht erscheinen, und deren letztes und in gewissem Sinne einziges Ziel es ist, ein Maximum an offenen Möglichkeiten für jedes Mitglied der Gesellschaft und für jeden Bürger zu bewahren. Die Politik muß respektieren, daß sie nicht immer der unverzichtbare und manchmal gar der legitime Vermittler in der Beziehung des Bürgers zur Welt, in der er lebt, ist. Vor allem ist das Leben des Einzelnen in vieler Hinsicht von der politischen Struktur der Gesellschaft unabhängig; sofern ein bestimmtes politisches Programm versucht, das Leben der Menschen und Bürger seinen eigenen Absichten und Zielen zu unterwerfen, überschreitet es seine Legitimität und wird zur falschen, gefährlichen und bösen Politik. Das zentrale Ziel und der Sinn der Politik ist, alle Möglichkeiten zur Durchsetzung der menschlichen Grundfreiheiten für jedes Mitglied der Gesellschaft und für jeden Bürger zu erweitern und zu vertiefen. Dadurch stellt sich die Politik in eine Reihe mit der Kunst, der Wissenschaft, aber auch mit der Sittlichkeit usw. Jeder Schritt vorwärts und aufwärts, höher und weiter, muß damit bezahlt und ausgeglichen werden, daß der Mensch gewisse Einschränkungen auf sich nimmt, daß er sich manche Wege versperrt, daß er auf gewisse Möglichkeiten verzichtet. Aber der Sinn dieser Einschränkungen ist eindeutig unzertrennlich damit verbunden, daß er die Befreiung des Menschen auf einer höheren Ebene ermöglicht, d.h. daß der Mensch sich in weniger wichtigen Bereichen einschränkt, um alle seine aufgesparten Kräfte bei etwas für das Leben Bedeutungsvollerem aufbieten zu können. Die Politik, die dieses alles ermöglicht, ist eine gute Politik, die Respekt verdient. Eines der Mittel, derer sie sich zu diesem Zwecke von altersher bedient, sind allerdings die Gewaltmaßnahmen; und die Macht bringt ihre inhärenten Tendenzen zur Emanzipation von ihrer dienenden Rolle mit sich, hin zur Ausnützung oder eher zum Mißbrauch ihres Gewichts, um alles, was sich in der Gesellschaft ereignet und was die Menschen anstreben, zu konzentrieren und sich dadurch selbst zu stärken. In der Praxis sieht das dann immer so aus, daß die Erweiterung von Möglichkeiten für die anderen (in der Regel die Minderheit) ausgeglichen wird. Durch solch eine Entwicklung gerät die Politik auf einen Abweg und oft in eine Sackgasse. Sie wird zur „bösen“ Politik, und früher oder später wird sie die Gesellschaft in eine Katastrophe führen (wenn es nicht gelingt, sie zu stoppen und zu korrigieren).
Wir können auch sagen, daß eine gute Politik sich selbst darin Grenzen auferlegt, in welchem Maße sie die Bürger einschränken darf; eine gute Politik muß respektieren, daß jeder Bürger ein freies menschliches Subjekt ist, dem die gleichen Möglichkeiten wie jedem anderen freien menschlichen Subjekt praktisch garantiert werden müssen, und vor allem daß die menschliche Sendung etwas ist, dem das freie menschliche Wesen sein eigenes Leben nach seiner eigenen Art, nach seinem besten Wissen und Gewissen anvertraut und widmet, ohne daß die Gesellschaft befugt wäre, ihm diese oder jene Sendung aufzuzwingen oder ihn wie der oberste Arbiter daran zu hindern. Einer gesellschaftlichen und politischen Beeinflussung kann keine menschliche Entscheidung entgehen oder sich ihr entziehen; es geht jedoch darum, daß jede gute Politik in ihrer Beeinflussung und in ihren Eingriffen bemüht ist, ohne Gewalt auszukommen, daß sie sich auf Überzeugungsarbeit und Argumente stützen und sich bemühen wird, eine gegenseitige Übereinstimmung zu erzielen, die auf beiderseitigem Verständnis usw. basiert – und daß also die Anwendung der Macht und der Machtmittel in den Fragen, die jeder Mensch allein vor seinem eigenen Gewissen entscheiden muß – wenn es schon dazu kommt -, eine absolute Ausnahme bleiben muß, die zusätzlich sowohl jeder fachlichen als auch bürgerlichen Kritik unterstellt werden muß, um allen Ansprüchen der Öffentlichkeit und Nichtverheimlichung gerecht zu werden. Unter normalen Umständen sollte es überhaupt nicht zu einer Auseinandersetzung zwischen der Politik (ich spreche durchweg von Machtpolitik) und der allerinnersten Entscheidung des Bürgers in Gewissensfragen kommen. Wenn es trotzdem in bestimmten Situationen zu Konflikten dieser Art und bei einer wesentlicheren Prozentzahl der Bürger resp. der Mitglieder der Gesellschaft kommt, dann ist das ein untrügliches Zeichen, daß in der Gesellschaft etwas nicht in Ordnung ist. Die Politik ist in diesem Fall berufen, die Situation zu analysieren und konstruktiv so zu lösen, daß die Ursachen des Konflikts beseitigt werden und die Bürger, die sich bislang widersetzt oder protestiert haben, nicht weiterhin in diese ihre Haltung hineingedrängt werden. So macht es zumindest eine gute Politik. Demgegenüber wird die schlechte Politik eine Reihe von machtpolitischen Maßnahmen ergreifen, um die Widerstand leistenden und protestierenden Bürger einzuschüchtern, sie zum Schweigen zu bringen, zu unterdrücken oder gar zu liquidieren.
Die Politik stellt jedoch eine Sphäre dar, in der sich außerordentlich stark die unterschiedlichsten Beharrlichkeiten und unpersönlichen Trends durchsetzen, die sogenannten „Realitäten“. Der Politiker findet sehr selten einen sauberen Tisch vor, meistens muß er die Zügel verfahrener Mechanismen in die eigenen Hände nehmen, Mechanismen, deren Dynamik beeinflußt, aber sehr selten gänzlich beherrscht werden kann. Der Philosoph kann (und sollte auch) die Ursachen begreifen, warum eine bestimmte Politik nicht imstande ist, sich schnell aus den bisherigen fragwürdigen Traditionen zu befreien. Er muß die relativen Fortschritte oder den Niedergang bewerten und miteinander vergleichen; er kann aber niemals nur bei einer relativen, relativistischen Bewertung stehen bleiben. Und das ist gerade der Moment, in dem die Wege des Philosophen sich von den Wegen des Politikers scheiden. Auch im günstigsten Fall, in dem eine bestimmte Politik, ein bestimmtes politisches Programm seine Berechtigung hat, die der Philosoph anerkennen kann, wenn diese Politik auf sein Verständnis und sogar auf seine Sympathien stößt, bleibt der Philosoph auf einer anderen Ebene und bewahrt immer Distanz zu jeder beliebigen Politik. Das bedeutet nicht, daß er notwendigerweise auf dem Zuschauersitz bleibt oder daß er bestenfalls imstande ist, nur zu kritisieren oder zu kiebitzen. Der Philosoph kann sogar zu konkreten politischen Taten übergehen, d.h. in die politische Arena eingreifen. Aber dann macht er das nicht, um damit ein noch so begrenztes machtpolitisches Ziel zu erreichen, sondern um die größeren Zusammenhänge der gegebenen politischen Situation zu verdeutlichen und zu unterstreichen, um auf die Gültigkeit bestimmter Prinzipien hinzuweisen und vor allem um einen Beitrag dazu zu leisten, daß die politische Situation oder eine bestimmte Politik im rechten Licht erscheint, d.h. im Licht der Wahrheit. Der Philosoph kann also in das „politische Spiel“ eintreten, aber er tut das, um es zu öffnen, und nicht bloß, um dessen Spielregeln anzunehmen. Die politische Sphäre hat stets die Tendenz, sich zu verschliessen; die Philosophie greift in sie hinein, um immer wieder auf die letzten Prinzipien hinzuweisen, auf denen jede „polis“ steht, ob ihr das bewußt ist oder nicht, ob sie sie respektiert oder ob sie grob dagegen verstößt.
Ich kann das mit einem Beispiel belegen, das diese abstrakten Überlegungen wieder auf einen soliden Boden stellt. Es ist ein bekanntes, aktuelles und schon sehr oft interpretiertes Beispiel. Die Motive, die die Unterzeichner der Charta ’77 zum Unterschreiben des ersten (konstituierenden) Dokumentes geführt haben, waren zweifellos sehr verschieden. Nicht alle standen in Übereinstimmung mit der eigentlichen Erklärung, deren Unterschrift sie begründeten. Ich habe schon des öfteren erwähnt, daß einige Unterzeichner die Erklärung, daß die Charta ’77 keine machtpolitische Opposition darstellen möchte, nur für ein taktisches Manöver und einen Trick hielten. Aber selbst das sehr respektable Motiv der Suche nach einer gemeinsamen politischen Basis, die den verschiedenen Teilen der Gesellschaft Annäherung und Mitarbeit ermöglichen würde, die auf die politische und kulturelle Peripherie abgedrängt wurden, wäre für den Philosophen stark und überzeugend genug gewesen. Sein Motiv hat einen anderen Charakter: Wenn er überzeugt ist, daß das gegenwärtige Regime und seine Repräsentanten auf Dauer untragbar sind, und daß es früher oder später zu einer wirklichen und nicht nur vorgetäuschten Normalisierung und Konsolidierung der an schweren Gebrechen leidenden Gesellschaft kommen muß, dann erwartet er mit Spannung die ersten Anzeichen der kommenden Veränderungen. Erstaunlicherweise kam es dazu, daß unsere Nationalversammlung ohne sichtbaren Druck aus dem Inneren unserer Gesellschaft, also von unten, die internationalen Konventionen über die Menschenrechte ratifiziert hat (obwohl eine Reihe anderer Länder, z.B. die USA, es bis heute nicht getan haben). Dies ist aber nicht nur bei uns, sondern im gesamten sozialistischen Block geschehen. Es war deshalb notwendig, etwas zu unternehmen, damit sich im klaren Licht zeigt, ob vor allem unsere politische Führung das alles ernst nimmt oder nicht. Und zweitens, damit sich zeigt – fals die Ratifizierung nur die Folge der Block-Disziplin war -, ob zumindest die politische Führung anderer sozialistischer Länder, in erster Linie der Sowjetunion, die Unterzeichnung ernst nimmt. Das allein wäre ein gutes Zeichen für uns. Vielleicht waren sich einige Philosophen schon vorher sicher, daß es sich nur um einen propagandistischen Trick handelt, den man nicht ernst nehmen könne. Auch wenn sie vielleicht politisch recht hatten, philosophisch haben sie sich geirrt. Das Auftreten der Charta ’77 hat nicht nur gezeigt, wie die Dinge stehen, sondern hat zugleich zu einer Verschiebung der ganzen Situation beigetragen. Das ist wieder eine Gelegenheit zu einer neuen philosophischen Reflexion – und zu einer eventuellen neuen unpolitisch-politischen Tat – oder zu einer Distanzierung. Die Motive des politischen Auftretens des Philosophen bleiben jedoch unpolitisch.
Dein
Ladislav Hejdánek
Prag, den 21.9.1978