Die historische Bedeutung der Menschenrechte in der Demokratie und in der Diktatur
| docx | pdf | html ◆ article, German, origin: 17. 2. 1977
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  • Dopis příteli č. 2

  • Die historische Bedeutung der Menschenrechte in der Demokratie und in der Diktatur

    Lieber Freund,

    Du hast Deine Verwunderung darüber zum Ausdruck gebracht, daß ich über die Bedeutung der weltweiten öffentlichen Meinung (wenn auch nur über ihre relative Bedeutung) spreche und dabei gar nicht die Wichtigkeit der Stellungnahme offizieller Repräsentanten anderer Staaten zur Frage der Wahrung und Respektierung der Menschenrechte erwähne. Gleichzeitig stellst Du die Frage, ob ein konsequenter Druck der demokratischen Staaten auf die undemokratischen nicht das allerwirksamste Mittel sei, die Verbindlichkeit entsprechender Artikel der Allgemeinen Deklaration und beider Pakte (und eventuell auch weiterer internationaler Abkommen) zu erreichen.

    Ich muß gestehen, daß ich ein tiefes Mißtrauen gegenüber allen Versuchen hege, die Ausbreitung und Vertiefung der menschlichen Freiheiten durch Gewaltmaßnahmen und Druck erzielen zu wollen. Der Charakter der Macht ist wirklich eigenartig: Ohne sie können wir uns die menschliche Gesellschaft gar nicht vorstellen, aber gleichzeitig können wir nicht übersehen, welche gewaltige innere Tendenz sie hat, ohne Einschränkung zu wachsen, sich zu zentralisieren, sich der Unterordnung unter den Menschen und die Gesellschaft zu entziehen und geradezu im Gegenteil den Menschen und die ganze Gesellschaft zu versklaven, und das ohne Rücksicht darauf, welche konkrete Stellung der betroffene Mensch in der Gesellschaft hat. In der modernen Geschichte kann man dies am besten an der Entwicklung des Staates beobachten, dessen Macht- und Verwaltungsapparat kolossal gewuchert ist und dessen Grundsätze und Vorkehrungen schrittweise die ganze Struktur des individuellen und gesellschaftlichen Lebens durchdringen. Außerdem kann man die Idee der menschlichen Freiheiten und Rechte nicht von dem Kampf gegen die verheerenden Auswirkungen der verselbständigten Staatsmacht trennen, die ein hybrides Element der modernen Gesellschaft wurde, das den Menschen in allen Bereichen seiner Existenz zu beherrschen und zu verschlingen droht, den Menschen als Privatperson, als denkendes und erkennendes Wesen, als Erzeuger, als Familienmitglied, als politisches Subjekt, als Verfechter einer bestimmten Überzeugung, als Gläubigen, als Arbeitskraft usw. Es wäre deshalb naiv, anzunehmen, daß die hauptsächliche und entscheidende Kraft in den Kämpfen um menschliche und bürgerliche Freiheiten der Staat sein könne, sei es der eigene oder ein fremder. Der Vorteil der demokratischen Staaten liegt nicht darin, daß sie als Staatsform besser als nichtdemokratische Staaten sind (der aufgeklärte Absolutismus, wenn es möglich wäre, seine Aufgeklärtheit auf irgendeine Art und Weise zu sichern und zu kontrollieren, wäre sehr wahrscheinlich besser als die Demokratie, die notwendigerweise viel schwerfälliger ist), sondern eher die Tatsache, daß dem demokratischen Staat durch seine Gesetze Grenzen gesetzt sind, die er nicht überschreiten darf. Und die Frage der Menschen- und Bürgerrechte und Freiheiten ist gerade die Frage nach diesen Grenzen und ihrer Einhaltung und Respektierung.

    Jeder Staat, der sich in die Position des Garanten menschlicher und bürgerlicher Freiheiten und Rechte begeben wollte, vergewaltigt sie schon ipso facto. Der Staat soll und muß nämlich menschliche Freiheiten und Rechte anerkennen und respektieren, aber niemals gründet, konstituiert und verteilt er sie. Der Vollzug der Grundrechte und -freiheiten ist ein souveräner Akt eines Einzelnen oder einer Vereinigung von Einzelnen, der keines besonderen Einverständnisses oder einer Erlaubnis staatlicher Organe bedarf. Der Staat kann freilich diesen Vollzug des unveräußerlichen Rechtes oder der Freiheit faktisch verfolgen, aber er tut es unrechtmäßig und wird dadurch in dem Maße, in welchem er es tut, zu einem Unrechts-Staat. Wo es zu derartigem Unrecht durch den Staat nicht nur in gelegentlichen oder außerordentlichen Einzelfällen kommt, sondern wo das Unrecht sogar durch Sondergesetze gedeckt oder wenigstens zur geläufigen Praxis und zur Gewohnheit wird, ist der Staat auf dem besten Wege, ein rechtswidriger, verbrecherischer Staat zu werden. Dieser Umstand jedoch kann nicht seine innere Angelegenheit sein, weil er in gröbster Weise die privaten und öffentlichen Seiten des Lebens der Menschen verletzt, die in keine Kompetenz des Staates und seiner Organe fallen, weil sie auf unveräußerlichen, nicht unterdrückbaren, unaufhebbaren menschlichen Rechten und Freiheiten begründet sind. Der Staat, der durch wie auch immer geartete Maßnahmen diese Rechte und Freiheiten verletzt, überschreitet seine Kompetenz, indem er seine Macht unberechtigt in der Sphäre, in der er nichts zu suchen hat, durchsetzt – und deswegen kann er von jedermann entlarvt, kritisiert und verurteilt werden, schon allein auf Grund der elementaren menschlichen Solidarität, die nicht ohne Beachtung und ohne Hilfeleistung an einem Fall der Verletzung und Aberkennung der Rechte und Freiheiten des Menschen vorbeigehen kann. Wenn in einem Staat Grundrechte verletzt werden, dann haben alle Menschen auf der ganzen Welt das Recht und die Pflicht, dagegen zu protestieren, ohne Rücksicht auf Grenzen. Daraus folgt, daß sie das Recht und die Pflicht haben, einen unablässigen Einfluß auf ihre Regierungen auszuüben, damit diese in internationalen Beziehungen und Verhandlungen darauf achten, ob ihre Partner Staaten sind, die die Menschenrechte respektieren oder sie verletzen. Hier ist also die Solidarität der Menschen untereinander entscheidend; die Staatspolitik kann höchstens eine Folge davon sein. Niemals sind jedoch Maßnahmen der Staatspolitik einem anderen Staat gegenüber das hauptsächliche oder das geeignete Druckmittel, mit dessen Hilfe man die Durchsetzung der Menschenrechte vorantreiben könnte, auch nicht in Fällen, wo dieser Druck von einem Staat ausgeübt wird, dem man in Hinsicht auf die Menschen- und Bürgerrechte keine Vorwürfe machen kann. Noch problematischer ist ein solcher Druck, wenn in einem Staat, der Zustände im Ausland kritisiert, selbst manches nicht in Ordnung ist. Darum gilt auch der Grundsatz, daß der Kampf gegen die Verletzung der Menschenund Bürgerrechte vorrangig nach innen orientiert sein muß, d.h. ins Innere des eigenen Staates und der eigenen Gesellschaft, und erst zweitrangig nach außen, ins Ausland.

    Staaten (und ihre Repräsentanten) neigen dazu, das Staatsinteresse über die Pflicht zur Respektierung der Menschenrechte und Freiheiten zu stellen, oft auch über die Köpfe der Bürger hinweg, und nicht selten sogar mit ihrer Zustimmung. So konnte es in der Vergangenheit dazu kommen, daß im Münchener Abkommen das Schicksal der demokratischen Tschechoslowakei den vermeintlichen Interessen der demokratischen Großmächte geopfert wurde. In Wirklichkeit bedeutete es allerdings die Abtretung eines bestimmten Territoriums (eigentlich ganz Mitteleuropas) an das Gewaltregime des nazistischen Deutschland, das die Menschenrechte sowohl zu Hause wie auch besonders in den beherrschten fremden Gebieten mit Füßen trat. Dazu kam es damals keineswegs im Widerspruch, sondern im Gegenteil mit Zustimmung der öffentlichen Meinung sowohl in England wie auch in Frankreich. Widerstand dem geschlossenen Abkommen gegenüber war in der damaligen Zeit eher eine Ausnahmeerscheinung. Gewöhnlich wird der internationale politische Aspekt der ganzen Angelegenheit betont; viel schwerwiegender ist aber der damalige Verrat an den Menschen- und Bürgerrechten von Millionen Menschen, die ohne die Möglichkeit einer wirksamen Verteidigung der brutalen Macht und dem Terror ausgeliefert wurden. Dieser Verrat nahm jedoch seinen Anfang schon viel früher, u.a. in der unzureichenden Unterstützung der Republikaner während des spanischen Bürgerkriegs. Und er wurde auch nach der Niederlage des Faschismus durch die Unterstützung der faschistischen Regimes in Spanien und Portugal und sogar durch die Unterstützung bei der Entstehung einer neuen faschistischen Diktatur in Griechenland fortgesetzt (wenn wir nur bei einigen europäischen Beispielen bleiben; daneben könnten wir noch die Unterstützung weiterer ungeheuerlicher Diktaturen anführen – wie die schon hinweggefegte südvietnamesische oder bis heute anhaltende südkoreanische und eine Reihe von lateinamerikanischen Diktaturen). Solche Erfahrungen raten uns zur Vorsicht bei der Bewertung offizieller Stimmen aus dem westlichen Lager, die zur Unterstützung des Kampfes für die Bürgerrechte in Ländern außerhalb der politischen Einflußsphäre des Westens aufrufen. Solche Stimmen klingen für uns genauso falsch wie manche leidenschaftlichen Kritiken westlicher Mißstände bei uns (d.h. von seiten unserer ofiziellen Repräsentanten, unserer Massenmedien usw.). Wir können begreiflicherweise keine Befriedigung empfinden, wenn unsere Kritik einheimischer Verhältnisse durch jemanden mißbraucht wird, der sich nicht im geringsten von den Prinzipien der Menschenrechte und dem Protest gegen ihre Verletzung leiten läßt (Beweis dafür ist die Tatsache, daß solche Leute sich weder um die Durchsetzung noch um die Verletzung der Menschenrechte im eigenen Land oder in befreundeten Ländern kümmern). Die Kritik an der Verletzung der Menschenrechte und Freiheiten ist nur unter zwei Voraussetzungen glaubwürdig, nämlich daß sie erstens an alle Seiten in gleicher Schärfe gerichtet wird, und daß sie zweitens sich vorzugsweise mit einheimischen Verhältnissen beschäftigt, d.h. in erster Linie vor der eigenen Türe kehrt.

    Es gibt jedoch besondere Situationen, wo die Kritik einheimischer Verhältnisse und die Verteidigung der Menschenrechte und Freiheiten im eigenen Land äußerst erschwert oder durch Gewalt und andere Maßnahmen verhindert werden. Dann ist jede Hilfe aus dem Ausland höchst nützlich und wünschenswert, und zwar auch eine solche Hilfe, die sich der Mittel bedient, die macht-, wirtschafts-, international-politischen, propagandistischen usw. Charakter hat, d.h. einen Charakter, der an und für sich ziemlich problematisch ist. Mittel dieser Art eignen sich jedoch nicht dazu, die Durchsetzung der Rechte und Freiheiten in dem Land, gegen das (bzw. gegen dessen fragwürdiges Regime) sie gerichtet sind, zu stärken. Solche Mittel können zwar blockieren, neutralisieren oder sonstwie die bestehende Willkür eindämmen. Dieser Willkür stehen jedoch gewöhnlich solche Mittel zur Disposition, daß sie von innen her nicht zu beseitigen ist, und wenn, dann nur unter großen Opfern.

    Ich muß sagen, daß weder die Verhandlungen in Helsinki noch deren Ergebnisse auf mich einen überzeugenden Eindruck gemacht haben. Nicht, weil die vereinbarten Texte nicht gut klingen und man sie nicht begrüßen könnte, sondern eher, weil gar nichts darauf hinweist, daß irgendeine der Parteien sie wirklich ernst nehmen werde. Der Gedanke an den Augsburger Religionsfrieden oder den „Westfälischen Frieden“, mit dem der Dreißigjährige Krieg beendet wurde, tauchte in mir auf. Der Unterschied besteht darin, daß es damals noch möglich war, öffentlich das Prinzip der sog. Nichteinmischung durch das Motto „cuius regio, eius religio“ (d.h. wessen das Land, dessen auch die Religion) zu verkünden, während in Helsinki nach gewissen Schwierigkeiten am Ende der sog. „dritte Korb“ durchgesetzt wurde. Die Nichteinmischung wurde bestätigt, und heute sind wir Zeugen, wie versucht wird, dieses Prinzip durchzusetzen. Jeder offizielle Hinweis und jede offizielle Kritik unsererseits, daß die menschlichen Grundrechte und bürgerlichen Freiheiten nicht eingehalten und respektiert werden, wird abgetan, als ob es sich um eine Einmischung handeln würde. Daß gerade in unserem Staat z.B. die Kulturpolitik von dem unausgesprochenen Prinzip „cuius regio, eius ideologia“ ausgeht, darüber kann kein Zweifel bestehen. In diesem Sinne werden z.B. die Artikel 16 und 24 unserer Verfassung gewöhnlich ausgelegt (im Widerspruch z.B. mit den Artikeln 28 oder 32, neuerdings jedoch auch im Widerspruch mit den Art. 13, 18 oder 19 der Bekanntmachung 120/1976, d.h. des ratifizierten Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Teil 23 der Gesetzessammlung vom 13.10.1976), daß aus dem öffentlichen Schulwesen eigentlich ein monopolisiertes, aber parteiliches (wenn auch vom Staat organisiertes) Schulwesen geschaffen wurde. Wir tschechische Protestanten können einfach nicht anders, als die heutige Situation, da wir gezwungen sind, unsere Kinder in Schulen zu schicken, die im Geiste des sog. wissenschaftlichen Atheismus geführt werden (und da sich allgemein in solch einer Situation alle die Leute befinden, die nicht marxistisch orientiert sind und die nicht wollen, daß ihre Kinder in Schulen nach der marxistischen Ideologie unterrichtet und erzogen werden, wird sich vermutlich eine überwiegende Mehrheit der Leute betroffen fühlen), mit der Vergangenheit zu vergleichen, als die Erlangung des Friedens in Europa für uns die Unterdrückung der religiösen Freiheiten, die insbesondere durch Rudolfs Majestätsbrief verkündet wurden, bedeutete, als alle Protestanten ihren Glauben verleugnen oder emigrieren mußten, oder, sofern sie im Lande blieben, ihre Kinder allen Formen des Drucks der Gegenreformation und des Terrors aussetzen mußten. In der ersten Zeit nach Helsinki deutete nichts darauf hin, daß der sogenannte „dritte Korb“ überhaupt eine ernsthaftere Rolle spielen könnte, was ich übrigens schon im vorherigen Brief erwähnte. Im Gegenteil, es schien, daß die westlichen Regierungen selbst kein Interesse daran hätten, ihre Verhandlungen mit der Sowjetunion und anderen Staaten des sozialistischen Blocks durch eine besondere Gewichtung des „dritten Korbs“ zu komplizieren.

    Zu einer wirklichen Veränderung der Situation kam es praktisch erst heute infolge der Bürgerinitiativen in allen Ländern unseres Blocks. Das ist eine sehr bedeutungsvolle, ich möchte sagen, eine weltbewegende Tatsache. Die Demokratie und die demokratischen Strukturen sind schon seit dem Ersten Weltkrieg im Vormarsch begriffen, die absolutistischen und diktatorischen Regimes, insbesondere in Europa, aber auch anderswo in der Welt, zeigen sich zusehends als perspektivelos, wirtschaftlich ineffektiv, kulturell retardiert und auf Dauer instabil. Die Demokratie schreitet trotz verschiedener Krisen voran. In Europa stürzen die letzten faschistischen Regimes zusammen, die sozialistischen und kommunistischen Parteien erobern ständig neue Positionen, die sog. Eurokommunisten verknüpfen ihr Programm mit demokratischen Grundsätzen. Die Demokratisierung dringt allmählich vor und gewinnt immer mehr an Boden, auch in den Ländern des sog. Realsozialismus, die lange, aber immerhin nur vorübergehend, ungünstig beeinflußt wurden, besonders durch stalinistische Deformationen und durch antidemokratische Abwege, die heute bereits als die bisher gröbste und auch umfangreichste Revision der tatsächlichen politischen Gesinnung von Karl Marx selbst erkannt sind. Unsere entscheidende Hoffnung muß sich deshalb in erster Linie auf die Wiederherstellung und die Wiedergeburt des sozialistischen Programms konzentrieren, und zwar auf die Erneuerung aus inneren Kräften und nicht aufgrund irgendwelcher internationalen politischen Einmischungen. Es scheint mir jedoch, daß sich solch eine Hoffnung heute nicht mehr in einem stillen Winkel unseres Bewußtseins verstecken muß. Wir werden es erleben, daß sich diese alte, aber wiederum auch neue Hoffnung die Herzen von immer mehr Leuten erobert, die nicht mehr unter den verheerenden Eingriffen in ihr eigenes Leben, in das Leben ihrer Kinder, Freunde, Mitbürger und Mitmenschen aus der ganzen Welt leiden wollen.

    Dein

    Ladislav Hejdánek

    Prag, den 17.2.1977