Die „sozialistische“ Auslegung der Menschen- und Bürgerrechte
| docx | pdf | html ◆ article, German, origin: 4. 8. 1977
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  • Dopis příteli č. 19

  • Die „sozialistische“ Auslegung der Menschen- und Bürgerrechte

    Lieber Freund,

    Du hast mir von Diskussionen mit Deinen Freunden über den Charakter der sogenannten Menschenrechte berichtet. Einige Ansichten, die Du erwähnt hast, sind ganz interessant. Kürzlich erst machte mich ein befreundeter Jurist auf einen Diskussionsbeitrag aufmerksam, der auf einer wissenschaftlichen Konferenz vorgetragen wurde, die im Haus der sowjetischen Wissenschaft und Kultur in Prag am 17. und 18. Januar dieses Jahres das wissenschaftliche Kollegium der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften, der Juristenverband und das Haus der sowjetischen Wissenschaft und Kultur gemeinsam veranstaltet haben. Dabei stellte die Dozentin Milena Srnská in ihrem Beitrag eine Reihe von Thesen auf, von denen einige an die Themen Eurer Gespräche direkt anknüpfen. Weil Dein Referat zu knapp und ziemlich allgemein gehalten ist, gehe ich bei meinen Bemerkungen lieber vom Referat der Dozentin Srnská aus, das in der diesjährigen Doppelnummer 5–6 der Zeitschrift „Právník“ (S. 480–485) erschienen ist. Vorab möchte ich bemerken, daß ich mich auf dem Gebiet der Rechtstheorien überhaupt nicht für kompetent halte; aber die Frage, um die es geht, gehört eher in das Gebiet der Rechtsphilosphie. In der Philosophie ist jedoch eine solche Spezialisierung, wie wir sie aus den Spezialwissenschaften kennen, unzulässig, weil die Philosophie aufhört Philosophie zu sein, sobald sie ihren Bezug zum Ganzen verliert. Deshalb hat der Philosoph das Recht und die Pflicht, sich zu jedem Thema zu äußern, sofern diese Themen in breiteren, allgemeineren Zusammenhängen ihr Gewicht haben. Zweifellos ist die Frage der Menschenrechte für das Verständnis vom Menschen und der Gesellschaft von einer solchen allgemeinen Wichtigkeit. Und darum bleibt die Kompetenz des Philosophen auch die primäre Kompetenz, so wie der Physiker bei der Frage nach dem Charakter der Materie, der Energie usw. inkompetent oder erst an zweiter Stelle kompetent ist, so ist auch der Fachjurist bei der Frage nach dem Charakter der Rechte überhaupt und der sogenannten Menschenrechte ganz besonders inkompetent, oder höchstens an zweiter Stelle kompetent. Sobald ein Physiker oder ein Jurist ihre Ansichten zu den erwähnten Problematiken äußern, verlassen sie de facto ihr Spezialgebiet und treten in die philosophische Arena ein. Deshalb müssen sie sich in solchen Fällen mehr um ihre philosophische Kompetenz kümmern.

    Die Dozentin M. Srnská geht von der außergewöhnlich fragwürdigen Voraussetzung aus, daß sich das Wesen der Menschenrechte in einer sozialistischen Gesellschaft vom Wesen der Menschenrechte in einer kapitalistischen Gesellschaft unterscheide. Wenn dem wirklich so wäre, wären internationale Konventionen über Menschen- und Bürgerrechte unmöglich. Allein die Tatsache, daß beide internationalen Vereinbarungen sowohl von sozialistischen, wie auch von kapitalistischen Ländern unterschrieben und ratifiziert wurden, ist ein Beweis dafür, daß im Wesen der Menschenrechte etwas liegt, was allen Gesellschaften gemeinsam ist, und daß dieses „etwas“ so wichtig ist, daß deren Unterschiede demgegenüber als zweitrangig erscheinen, was für jene internationalen Abkommen auch nicht im geringsten ein Hindernis ist. Deshalb ist die Behauptung, daß sich die Menschenrechte in der sozialistischen Gesellschaft in ihrem Wesen von den Menschenrechten in der kapitalistischen Gesellschaft unterschieden, demagogisch. Ähnlich demagogisch ist z.B. die Behauptung, daß sich die sozialistische Demokratie durch ihr Wesen von der bourgeoisen Demokratie unterscheidet. Aber dennoch gibt es hier einen sehr wichtigen Unterschied.

    Das demokratische Staatssystem und die demokratische politische Struktur sind ein gesellschaftliches und daher ein menschliches Produkt. Was Demokratie ist und was nicht, bleibt Frage einer terminologischen Vereinbarung, der Konvention, auch wenn sie bestens durchdacht und überzeugend begründet ist. Deshalb ist es möglich, daß dort, wo sich in den Streit darüber, was Demokratie ist, materielle Interessen (z.B. Klasseninteressen) einmischen, es zu keiner Vereinbarung kommt. Ein bürgerlicher Theoretiker der Demokratie wird z.B. darauf bestehen, daß eine integrale, vom Wesen der Demokratie untrennbare Komponente der Demokratie die Unternehmensfreiheit und die Freiheit des Privateigentums der Produktionsmittel ist. Solch ein Theoretiker wird dann die sozialistische Demokratie nicht als eine wirkliche Demokratie anerkennen. Folglich sind auch keine internationalen Konventionen oder Vereinbarungen über Demokratie und demokratische politische Strukturen möglich – es sei denn, daß sich beide Seiten darüber einig würden, was der sozialistischen und bürgerlichen Demokratie gemeinsam ist. Dann könnten sich internationale Abkommen gerade auf diese gemeinsamen Komponenten und Grundzüge beziehen. Ähnlich ist es bei internationalen Vereinbarungen über politische, soziale, wirtschaftliche Rechte; diese Vereinbarungen betreffen Rechtsregelungen konkreter, positiver Normen, durch die der Respekt vor den Menschen- und Bürgerrechten, wie sie in internationalen Dokumenten formuliert sind, in einzelnen innerstaatlichen Rechtssystemen und -ordnungen gewährleistet ist. Eine solche Rechtsregelung wird sicher immer gewisse Merkmale der Gesellschaft tragen, in der sie entstanden ist und für die sie verbindlich ist. Trotzdem wird sich die internationale Konvention immer auf die Momente der innerstaatlichen Normen beziehen, die sowohl den kapitalistischen wie auch den sozialistischen (und auch anderen) Gesellschaften gemeinsam sind.

    An dieser Stelle muß man noch einen weiteren schwerwiegenden Fehler in der Auffassung der Dozentin Srnská erwähnen, der die Beziehung zwischen den internationalen Abkommen und jenen innerstaatlichen Regelungen betrifft, die sich auf die Menschen- und Bürgerrechte beziehen. Die Autorin schreibt: „… daß aufgrund der Pakte, d.h. aufgrund der Ratifizierung der Pakte, international rechtliche Beziehungen zwischen Staaten entstehen, die dann die Pflicht haben, durch innerstaatliche Maßnahmen ihre Verpflichtungen aus den Pakten zu verwirklichen; und daß keineswegs die Konzeption angenommen wurde, daß direkt aus den Pakten der Einzelne zum Träger subjektiver Rechte geworden sei“ (483); „jedes international rechtsverbindliche Dokument stellt den vereinbarten Willen der Subjekte des internationalen Rechtes dar, in erster Linie also der Staaten, zur Regelung der Rechte und Pflichten. Sofern es sich dabei um ein Dokument mit Vertragscharakter handelt, drückt es gleichzeitig einen vereinbarten Willen zur rechtlichen Verbindlichkeit aus. Wenn es sich also um international rechtsverbindliche Dokumente handelt, die auf allgemeiner Ebene angenommen wurden, und um die geht es begreiflicherweise an erster Stelle, dann geht es im gegenwärtigen internationalen Recht um den Ausdruck des vereinbarten Willens von Staaten mit unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen. Auf dem Gebiet der Menschenrechte bedeutet das also die Äußerung des vereinbarten Willens der Staaten zu Fragen, in denen sich die innerstaatliche Regelung bei legislativen und anderen Maßnahmen in ihrem Wesen in den kapitalistischen Staaten einerseits und den sozialistischen andererseits grundsätzlich unterscheidet. Internationale Dokumente können deshalb nur den allgemein vereinbarten Standard zum Ausdruck bringen, dessen Realisierung und Konkretisierung eine innere Angelegenheit des Staates ist. Die Realisierung des allgemeingültigen demokratischen Standards, der nach der internationalen Norm abgefaßt ist, kann in der formalen bürgerlichen Demokratie einerseits und der realen sozialistischen Demokratie andererseits funktionell verschieden sein.“ (480) (Hervorhebung von der Autorin) Eine unausgesprochene Voraussetzung ist für die Dozentin Srnská die Abhängigkeit der Menschen- und Bürgerrechte von den konkreten, innerstaatlichen Rechtsregelungen. Die Dozentin Srnská setzt voraus, daß diese Abhängigkeit total ist, daß die Menschenrechte selbst durch diese innerstaatlichen legislativen und anderen Maßnahmen direkt konstituiert sind, und sie polemisiert gegen den Gedanken, daß sie mitkonstituiert oder sogar vor irgendwelchen internationalen Abkommen selbständig konstituiert sein könnten. Das ist freilich ein ganz falscher Gedanke, der auf Konzeptionen gründet, die völlig den Legitimitätsrahmen der fachjuristischen Betrachtung übersteigen und tief in die philosophische Problematik eingreifen. Genauso wie durch keine Rechtsregelung die Urheberschaft eines künstlerischen Werkes garantiert oder sogar konstituiert ist, sondern nur durch die Art, wie die wirkliche, gegebene Urheberschaft respektiert wird, und genauso wie keine Beziehung zwischen zwei Menschen auf einer rechtlich einwandfreien Eheschließung aufgebaut ist, sondern nur von der Gesellschaft zur Kenntnis genommen und anerkannt wird, genauso werden die Menschenrechte durch kein Gesetz und keine Konvention, durch keine innerstaatliche und keine internationale Regelung konstituiert, sondern nur anerkannt, respektiert und auf konkrete Art und Weise gewährleistet (oder im Gegenteil nicht respektiert, nicht garantiert, sondern verletzt). Der Umstand, daß Menschen- und Bürgerrechte verbindlich und gültig sind, möge sie irgendein Staat anerkennen und garantieren oder nicht, hat eine elementare Bedeutung. Die Menschenrechte und die in ihnen verankerten Bürgerrechte haben universalen Charakter und sind in ihrem Wesen von jeder beliebigen staatlichen (und auch gesellschaftlichen) Anerkennung unabhängig. Von der Gesellschaft und vom Staatssystem (und von historischen Bedingungen usw. überhaupt) ist nur ihre Durchsetzung abhängig, und selbstverständlich auch das Maß und die Form ihrer Offensichtlichkeit und ihres Bewußtwerdens in der jeweiligen Gesellschaft. Der Kampf für die Menschenrechte ist genaugenommen ein Kampf für ihre Durchsetzung, ihre Respektierung und gegen ihre Überschreitung und Verletzung. Es ist auch ein Kampf für ihr besseres Verständnis und ihre vollständigere und genauere Formulierung. Aber die Menschenrechte selbst werden weder durch ein solches Verständnis, noch durch ihre Durchsetzung konstituiert, sondern sie gehen diesen als ihre Norm und ihr Kriterium voraus. Die gegenseitige Solidarität jedes Menschen mit jedem anderen Menschen und die Verantwortung für den anderen Menschen basieren unter anderem auf dem elementaren Appell und der Pflicht eines jeden, die Rechte und Freiheiten des anderen zu respektieren. Deshalb ist und kann auch jene erwähnte innerstaatliche „Realisierung und Konkretisierung“ des international vereinbarten Standards, der durch internationale Konventionen und Abkommen ausgedrückt wurde, keine ausschließliche innere Angelegenheit des zuständigen Staates sein. Eine innere Angelegenheit ist sie außerdem nicht einmal dort, wo der Staat die internationale Konvention nicht akzeptiert.

    Der Staat, dessen Repräsentanten internationale Vereinbarungen über Menschen-und Bürgerechte und auch über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte unterschrieben und ratifiziert haben, und der diese Rechte trotzdem verletzt und überschreitet, macht sich auf dreierlei Weise schuldig: an erster Stelle seinen eigenen Gesetzen gegenüber, weil mit jenem Ratifizierungsakt entschieden wurde, daß nach Ablauf von 3 Monaten, beginnend mit dem Tag der Hinterlegung der Ratifizierungsurkunde beim UNO-Generalsekretär, die Vereinbarung in dem betroffenen Land in Kraft tritt und ein Bestandteil seiner Rechtsordnung wird; darüber hinaus verpflichtet sich das betroffene Land, seine bisherigen Gesetze dem Geist der Vereinbarung anzupassen, sofern sie zu der Vereinbarung im Widerspruch stehen, so daß alles, was in der Vereinbarung formuliert ist, auch die innerstaatlichen Gesetze zum Ausdruck bringen müssen. Zweitens macht er sich den internationalen Abkommen gegenüber schuldig, d.h. gerade gegenüber den Pakten als international rechtsgültigen Dokumenten, die seine Repräsentanten unterschrieben, genehmigt und ratifiziert haben. Drittens, und das ist das Wichtigste, macht er sich jedoch gegenüber den Menschenrechten selbst (und aus ihnen hervorgehenden anderen Rechten) schuldig, weil diese weder aus internationalen Abkommen noch aus innerstaatlichen Gesetzen hervorgehen, sondern ihnen vorausgehen und ihre Norm und ihr Kriterium sind. (Diese sind an erster Stelle die Norm und das Kriterium der tatsächlichen Beziehungen zwischen den Menschen in einer Gesellschaft und zwischen den Menschen in unterschiedlichen Gesellschaften, mögen sie in der Rechtsordnung positiv festgehalten sein oder nicht).

    Die Argumente der Dozentin Srnská sind deswegen demagogisch, weil durch sie die Angelegenheit der Menschenrechte (und Bürgerrechte) auf lediglich zwei Ebenen der rechtlichen Sphäre reduziert wird, wobei sie diese rechtliche Sphäre aus den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen herausreißt und obendrein jene beiden Ebenen, nämlich die Ebene des internationalen und des innerstaatlichen Rechtes, geradezu durch einen Abgrund voneinander trennt. Jedem freilich, der aufmerksam die Dokumente über die Menschenrechte liest, wird klar, daß diese Interpretationen im Widerspruch sowohl zu ihrem Wortlaut wie auch insbesondere zu ihrem Geist stehen, und daß sie nur den Versuch einer ideologischen Rechtfertigung unseres Status quo darstellen. Einen grotesken Eindruck hinterlassen ihre Vorhaltungen, daß die Unterzeichner der Charta ’77 „den Terminus ’Rechte des Bürgers und des Menschen benutzen“, obwohl „keines der Dokumente, auf das sie sich berufen, diesen Terminus benutzt“ (483), und auch wenn sie betont, daß „keineswegs eine solche Konzeption angenommen wurde, daß direkt aus den Pakten der Einzelne zum Träger subjektiver Rechte geworden sei“ (ebenda). Was für einen Sinn haben diese merkwürdigen Behauptungen? Will die Dozentin Srnská vielleicht andeuten, daß Menschenrechte, Bürgerrechte, politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte nicht die Einzelnen, sondern nur die ganze Gesellschaft betreffen? Es reicht, ein beliebiges Dokument zu lesen, angefangen mit der Allgemeinen Deklaration und mit den beiden Pakten, und gleich stoßen wir auf eine Reihe von Formulierungen, die sie widerlegen: jeder ist zu allen Freiheiten und Rechten berechtigt …, jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und persönliche Sicherheit ., jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl., jeder Mensch hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit …, jeder hat das Recht auf Bildung … In den Pakten erkennen die Staaten wiederum an, daß jedes menschliche Wesen das Naturrecht auf Leben hat, daß jeder das Recht auf Freiheit und persönliche Sicherheit hat, daß jeder das Recht hat, seine Meinung ohne Behinderung zu vertreten, daß jeder das Recht auf Versammlungsfreiheit hat, d.h. auf die Freiheit, mit anderen Personen Verbindungen einzugehen, und sogar, daß der Einzelne, der Pflichten den anderen Menschen und der Gesellschaft, der er angehört, gegenüber hat, verpflichtet ist, sich um die Entwicklung und Einhaltung der Rechte zu bemühen, unter denen neben dem Völkerrecht, Familienrecht und den Rechten der gesellschaftlichen Gruppen insbesondere die „Jedermannsrechte“, „Rechte aller Mitglieder der menschlichen Familie“, „Rechte aller Einzelnen“, „Rechte jedes menschlichen Wesens“, „Rechte jedes Bürgers“, „Rechte jedes Menschen“ betont werden (diese Formulierungen kann in den Dokumenten vielleicht nur derjenige nicht finden, der nicht lesen kann).

    Entscheidend ist hier jedoch nicht die rechtliche, sondern die gesellschaftliche und allgemein menschliche Ebene. Die Allgemeine Deklaration spricht davon, daß „alle Menschen frei geboren werden und gleich in ihrer Würde und ihren Rechten sind“ (Art. 1). Die Dozentin Srnská spricht davon, daß „die Konzeption des Naturrechts, resp. die Konzeption, die auf den monistischen Theorien basiert, von sozialistischen Vertretern und von weiteren fortschrittlichen Vertretern bei der Erörterung der Pakte ganz folgerichtig abgelehnt wurden.“ (483) Ich konnte mich schon einige Male bei anderen Gelegenheiten zu dieser Frage äußern (siehe z.B. die Glosse „Existieren Naturrechte?“, Tvář 1969, Heft 3, Beilage, S. VII-VIII; oder meinen vorjährigen Artikel zum 50-jährigen Geburtstagsjubiläum von Kosík, oder auch Bemerkungen in Briefen, die ich Dir schreibe usw.). Ich bin überzeugt, daß die Vorstellung, daß die Menschen frei geboren und mit Rechten ausgestattet sind, in der Tat unhaltbar ist. Aber daraus folgt nicht im geringsten, daß ihnen jemand diese Rechte und Freiheiten „erteilt“, sei es die Gesellschaft oder der Staat. Wenn ich über die Menschenrechte spreche, will ich nur auf meine Art und Weise zum Ausdruck bringen, daß die Menschen, die ganze Gesellschaft und der Staat verpflichtet sind, das menschliche Individuum als Menschen zu respektieren, d.h. seine Grundfreiheiten und seine unveräußerlichen Rechte zu respektieren. Auch wenn in den Pakten (bis auf einige Ausnahmen) die Naturrechte nicht erwähnt werden (eine Ausnahme ist z.B. „das Naturrecht auf Leben“ im Artikel 6 des Internationalen Pakts über die Bürgerund politischen Rechte), wird im Internationalen Pakt über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte im Art. 5, Abs. 1 ausdrücklich betont, daß keine der Formulierungen des Pakts so ausgelegt sein dürfe, „als ob jeder beliebige Staat, jede beliebige Gruppe oder Person jedes beliebige Recht daraus ableiten könne, eine Tätigkeit zu entfalten oder Taten zu begehen, die auf eine Unterdrückung von irgendeinem dieser Rechte oder von irgendeiner dieser Freiheiten, die durch diesen Pakt angenommen wurden, oder auf eine Einschränkung in größerem Umfang, als es dieser Pakt bestimmt“, zielen würden. Aus dieser Formulierung, die auch von sozialistischen Staaten unterzeichnet und ratifiziert worden ist, gehen zwei Dinge klar hervor: Der Pakt konstituiert nicht, sondern er erkennt nur entsprechende Rechte an; zweitens: Der Staat kann Rechte oder Freiheiten unterdrücken, sofern sie schon früher vorhanden waren, aber in diesem Falle ist seine Situation der Situation jeder beliebigen Gruppe oder auch Einzelperson völlig analog (und deswegen muß er auch in einem Atemzug mit ihnen genannt werden).

    Ich gebe zu, daß man nach einer neuen, angemesseneren Begründung und nach einer neuen, angemesseneren Formulierung suchen muß. Aber zweifellos ist es nötig, darauf zu bestehen, daß es nicht in der Kompetenz des Staates liegt, seinen Bürgern Menschen- und Bürgerrechte zu erteilen, weil sie etwas Grundlegenderes und Ursprünglicheres sind als der Staat selbst.

    Dein

    Ladislav Hejdánek

    Prag, den 4.8.1977