- in: Ladislav Hejdánek, Wahrheit und Widerstand. Prager Briefe, transl. Milan Walter – Eva Bauer, München: P. Kirchheim, 1988, p. 195–201
Die Vorstellungen zur Durchsetzung der Menschenrechte
Lieber Freund,
in meinem letzten Brief habe ich versprochen, Dir an einigen Beispielen zu verdeutlichen, wie meiner Meinung nach Freiheiten und Rechten Geltung verschafft werden kann: nicht durch das Kritisieren bestehender Verhältnisse, sondern durch konstruktive Arbeit.
Nicht, daß Kritik unnötig wäre. Es mangelt bei uns ständig an ihr; und soweit sie doch vorhanden ist, ist sie meistens zu allgemein. Im Gegenteil, die Kritik muß viel häufiger in Erscheinung treten und muß eingehender sein. Aber die Kritik allein vermag niemanden einzuschüchtern. Solange auch nach der besten und detailliertesten Kritik keine ordentliche und vollständige Abhilfe geschaffen wird, muß doch etwas mehr unternommen werden. Es ist nötig, durch Bürgerinitiativen eine Reihe von Selbsthilfeaktionen zu starten, die wenigstens provisorisch und teilweise zur Lösung der dringlichsten Probleme beitragen können. Entscheidend ist jedoch, daß dabei immer die Gesetze in ganz besonderer Weise respektiert werden. Das Ziel solcher Selbsthilfeaktionen, wie ich sie im Sinn habe, ist nicht primär, trotz ungünstiger Umstände begrenzte Ergebnisse zu erreichen, sondern überhaupt einen Freiraum für die künstlerische, wissenschaftliche, philosophische Arbeit und für das unabhängige geistige und intellektuelle Leben überhaupt zu schaffen und zu erhalten. Ein solcher Freiraum hat für den Dichter, Schriftsteller, Wissenschaftler und Denker eine ähnliche Bedeutung, wie die Biosphäre für den einzelnen lebenden Organismus.
Versuche solcher Aktivitäten stecken nicht mehr ganz in ihren Anfängen; eine Reihe von Dingen wurde schon unternommen. In verschiedenen Samisdat-Editionen sind z.B. schon so manche Gedichtsammlung, so manche Novelle, so mancher Roman, ja sogar eine Reisebeschreibung mit Photographien, philosophische Essays, und auch eine Reihe von Übersetzungen erschienen. Die konstanteste und bisher wahrscheinlich verdienstvollste ist die Petlice', die uns die Möglichkeit bot, manche ganz hervoragenden Werke zu lesen. Diese und ähnliche Unternehmungen müssen zweifellos fortgesetzt werden. Insbesondere ist es nötig, daß sie sich ausbreiten und vermehren, damit sie aufhören, eine bloße Ausnahme zu sein, so daß sie zu einer Oase der Normalität in einer anomalen Situation werden, in der einige unserer besten Künstler und Denker weder in Schulen noch in Instituten arbeiten dürfen, in der sie nicht publizieren, Verlesungen halten, ausstellen, singen usw. dürfen, und nicht einmal ihr Name in der Öffentlichkeit erscheinen darf. Wir tun in dieser Sache bei weitem nicht alles, was in unseren Kräften und Möglichkeiten steht. Nur selten und unter ganz ungewöhnlichen Umständen wird in einer Privatwohnung oder in einem Atelier eine Bilderausstellung (oder eine Ausstellung von Plastiken) veranstaltet. Ziemlich selten kommt es auch zur Rezitation neuer Gedichte oder zum Vorlesen anderer Texte. Die Technik der Tonaufzeichnung solcher Rezitationen wird kaum genutzt; demgegenüber existiert eine Reihe von ganz hübschen Aufnahmen der Popmusik, wenn es auch bestimmt nötig wäre, daß sich ihre Anzahl erheblich vermehrt. Was jedoch bisher gänzlich fehlt, ist eine alternative Zeitschrift die einerseits aufs genaueste das, was schon zur Disposition steht, registrieren würde, andererseits Platz für Kunstkritiker und historiker usw., und auch für Meinungsaustausch, Diskussionen und Polemiken bieten würde. Damit habe ich dieses Gebiet bei weitem noch nicht erschöpft. Man könnte noch dies und jenes hinzufügen. Aber mir geht es heute nicht um Vollständigkeit, sondern eher um die Anregung der Phantasie und um die Inspiration. Hier und überall in der Welt gilt folgender Grundsatz: Man muß so erfinderisch sein, wie es nur möglich ist. Neue Ideen müssen überall sprießen; keine darf unserer Aufmerksamkeit entgehen, keine darf verloren gehen. In dieser Hinsicht leben wir in einer außergewöhnlichen Zeit, in der der Grundstein für das künftige kulturelle und geistige Leben gelegt wird.
Mit dieser Orientierung auf die kommenden Tage, Monate und Jahre hängt eine andere durchaus grundlegende Tatsache zusammen. Wir wissen heute nicht, wie lange die anomale Situation noch andauern wird. Aber wenn es auch nur zwei, drei Jahre dauern sollte (ich würde auf eine wesentlich längere Zeit tippen), wird es dennoch ein großer und unnötiger Verlust vor allem für junge Leute sein, denen der Weg zu einer Fach- oder Hochschule versperrt bleibt. In diesem Jahr wurde endlich die Tochter meines Freundes zum Hochschulstudium zugelasen – vier Jahre nach dem Abitur – und das auch erst nach einer zweiten Berufungsverhandlung. Das ist mit Gewißheit ein Erfolg und das Kennzeichen eines gewissen Fortschritts, einer gewissen Verbesserung der Situation (noch wissen wir nicht, ob einer vorübergehenden oder dauerhaften). Es handelt sich um ein sehr begabtes Mädchen, und, wie es scheint, ist es geradezu prädestiniert für die wissenschaftliche Arbeit. Dem wissenschaftlichen Nachwuchs wird der Militärdienst erlassen oder verkürzt, weil der Verlust von 2 Jahren für die angehenden Wissenschaftler bedenklich ist. Wie sollen wir in diesem Falle den Verlust von vollen vier Jahren einschätzen? – Es gibt Fächer, wo Abhilfe durch Selbsthilfe nicht möglich ist; aber es gibt andere, wo es möglich ist. Die Selbsthilfe hat bei den meisten humanistischen Fächern gute Aussichten; darüberhinaus ist Selbsthilfe eine ganz logische Folge aus einer Situation, in der viele, ja Hunderte von Hochschulprofessoren, Dozenten und Assistenten mit Vorlesungsverbot leben und Hunderte von wissenschaftlichen Arbeitern der Möglichkeit beraubt sind, in wissenschaftlichen Instituten und oft auch überhaupt in ihrem Fach zu arbeiten, und andererseits Hunderte und Tausende von jungen Menschen trotz ihrer Begabung nicht zum Studium an den Mittel- und Hochschulen zugelassen werden, weil ihre Eltern der vernichtenden kaderpolitischen Überprüfung nicht standhalten konnten. Was ist in einer solchen Situation logischer, als daß sich erfahrene Fachleute mit jungen Menschen treffen, die sich ernsthaft für ihre Fächer interessieren? Ich deutete es bereits in meinem Brief von Ende Juli an. Für dieses Vorhaben werden gewiß nicht unbedeutende Opfer auf beiden Seiten nötig sein. Solch ein ehemaliger Universitätsprofessor, sofern er noch nicht pensioniert ist, muß von irgendetwas leben; er kommt müde von der Arbeit zurück und statt sich auszuruhen, muß er mit voller Konzentration den Stoff erklären oder Fragen beantworten, muß das Konzept des Vortrags durchdenken und alles Wesentliche überlegt vortragen. Er muß Literatur zum weiteren Studium empfehlen und Ratschläge geben, wie man beim selbständigen Studium optimale Ergebnisse erzielen kann. Er muß immer zur Verfügung stehen, wenn irgendein Student in Schwierigkeiten gerät und wenn er nicht weiß, wie es weiter gehen soll. Und die jungen Leute selbst werden auch nicht besser dran sein, weil auch sie arbeiten müssen, damit man sie nicht als Schmarotzer bezeichnen kann; und sie werden nur in ihrer „freien“ Zeit studieren können. Aber selbst als eine provisorische und mühevolle Lösung wird sich diese Vorgehensweise lohnen. – Hierfür würde sich die Ausnutzung der Technik empfehlen; die Vorträge kann man auf Tonband aufnehmen und dann abschreiben. Wenn sie dann autorisiert sind, entsteht eine Art Skripten und neue Unterrichtstexte, die auch denjenigen zur Verfügung stehen werden, die nicht anwesend sein konnten und die kein Tonbandgerät besitzen, um sich die Vorlesungen und Diskussionen überspielen zu können. Darüber hinaus ist der Kontakt der älteren Fachgelehrten mit den jungen Menschen auch für die selbständige wissenschaftliche Arbeit von großer Bedeutung. Es ist ja eine alte und bekannte Lebensweisheit, daß die wachsame Aufmerksamkeit der jungen Menschen, die mit der wissenschaftlichen Routine noch nicht belastet sind, auch die erfahrenen und bewanderten Wissenschaftler zu neuen, oft sehr produktiven Ansichten und Zugängen inspiriert.
In den beiden angeführten Fällen ging es um Intellektuellenkreise. Es wäre bestimmt unangebracht, wenn wir vergäßen, daß die Probleme und Schwierigkeiten in unserer Gesellschaft bei weitem nicht auf diese Kreise beschränkt sind. Ich habe schon gelegentlich erwähnt, wie unzureichend man sich bei uns, insbesondere in einigen bestimmten Bereichen, um die Arbeitsbedingungen, um die Arbeitssicherheit, um die Modernisierung der Produktion u.ä. kümmert. Das hängt damit zusammen, daß an manchen Stellen notwendige ökonomische Anreize fehlen (z.B. scheint die Einführung einer neuen Technologie oder die Anschaffung neuer Maschinen ökonomisch „unvorteilhaft“, weil die menschliche Arbeitskraft „billiger“ ist), und anderenorts sich wiederum schwerwiegende Mängel bei der Arbeit der gesellschaftlichen Organisationen, insbesondere der Gewerkschaften zeigen. Es geht jedoch nicht nur um Mängel und Mißstände im Arbeitsprozeß, sondern auch um ernste negative Erscheinungen außerhalb der Arbeitssphäre. Zum Beispiel beim Wohnungsbau, wo in den letzten Jahren der Staatsanteil auf ein Minimum zusammengeschrumpft ist. In einer Reihe von Wirtschaftszweigen ist es gelungen, die Preise so ziemlich in Grenzen zu halten. Das gilt jedoch nicht für das Bauwesen. Die Baukosten sind enorm gestiegen; deshalb wurde der staatliche Wohnungsbau drastisch beschränkt (die Mittel werden anderswo dringend benötigt), und die Last müssen die jungen Leute tragen, die keine Wohnung bekommen können. Wir alle wissen, welche sozialen Mißverhältnisse und Ungleichheiten hier entstehen. Es geht mir allerdings weder um die Kritik an einer falschen Wohnungspolitik, noch um die Kritik an den unerfreulichen Arbeitsbedingungen usw., sondern darum, was man in einer solchen Situation positiv unternehmen kann, damit sie sich wenigstens teilweise und meinetwegen nur lokal verbessert. Ein Fall ist mir bekannt, wo kurz nach dem Krieg eine verwüstete Gemeinde im Grenzgebiet wieder durch Familien besiedelt wurde, die zum großen Teil mit der Nachkriegseinwanderungswelle kamen (ich glaube aus Wolynien, ich bin mir aber nicht mehr ganz sicher). Diese Leute handelten nicht egoistisch, sondern wie eine enge Gemeinschaft und in einer bemerkenswerten gegenseitigen Solidarität. Sie begannen nicht privat, jeder für sich, ihr eigenes Häuschen auszubessern, sondern sie verständigten sich auf eine Reihenfolge, taten sowohl ihr Geld, wie ihre Kräfte zusammen und bauten gemeinsam ein Haus nach dem anderen, bis zum Schluß das ganze Dorf stand. In diesem Dorf lebten auch zwei blinde Geschwister, die ihre Eltern im Krieg verloren hatten; auch ihnen wurde in gemeinsamer Arbeit ein Häuschen gebaut. Ist das nicht ein inspirierendes Beispiel? Könnten wir nicht besser leben, wenn wir lernen würden, gemeinsam zu leben und zu arbeiten und auch die Freizeit gemeinsam zu verbringen, und nicht jede Familie oder sogar jeder für sich selbst? Ist eine solche gegenseitige Solidarität (die nicht nur bei Emotionen und Deklarationen stehen bleibt, sondern die praktisch und effektiv ist) nicht etwas, was einen bedeutsamen Beitrag zur Schaffung eines freien Raumes ohne unerwünschte Interventionen leisten würde? Wäre es nicht für jedermann von Nutzen? Was für ein Refugium dies in schwierigen Augenblicken, Krisen und Zeiten einer kurzfristigen oder auch langfristigen Bedrohung wäre, können wirklich nur die abschätzen, die schon in einer schweren Situation waren und dabei die solidarische Hilfe der anderen am eigenen Leib erfahren haben. Die Krise der modernen Gesellschaft wurzelt in beträchtlichem Maße in ihrer Atomisierung, d.h. in der Isolation des Einzelnen und in der sogenannten Kleinfamilie. Unter allen Umständen müssen wir neue Beziehungen ins Leben rufen, die garantieren, daß der einzelne und auch die „kleine“ Familie dauerhaft (wenn auch wechselnd) durch eine breitere Gesellschaft „umhüllt“ werden, in der sie ihre Zuflucht finden, und in der sie auch selbst an der Schaffung einer Zuflucht für die anderen mitwirken.
Ein Nebenprodukt solcher neuen Gesellschaftsstrukturen wäre noch etwas Weiteres, außergewöhnlich Bedeutsames. Wir alle wissen und sehen, daß die sozialistische Gesellschaft, allen Erklärungen zum Trotz, keinen neuen Lebensstil geschaffen, sondern in überwältigendem Maß die kleinbürgerlichen Sitten, Formen und Ideale faktisch übernommen hat. Solche Gesellschaftsstrukturen lassen sich nämlich nicht planen und verordnen, sondern sie entstehen organisch und zeigen den wahren Charakter der Verhältnise in der Geselschaft, d.h. sie sind ein Kenzeichen und ein Signal. Es hätte keinen Zweck, einzelne charakteristische Merkmale dieses „sozialistischen Spießbürgertums“ ausführlich aufzuzählen, was um so sinnloser ist, je weniger funktionsfähig es ist. (Ein einziges Beispiel – man könnte außerdem noch viele weitere nennen: Eine Menge Leute bzw. Familien bei uns besitzen heute ein eigenes Auto, einige Familien sogar mehrere. Die große Mehrheit dieser Privatwagen ist jedoch nur an Wochenenden in Betrieb, und auch das nicht immer. Ein Auto zu besitzen gehört zum Sozialprestige, es ist keinesfalls ein neutraler Gebrauchsgegenstand). Einen neuen Lebensstil können jedoch nicht die Menschen schaffen, die sich ständig nur anpassen, adaptieren, akkommodieren, sondern nur die Menschen, die fähig und entschlossen sind, ihr Leben von einer anderen Ebene her als der der bestehenden Verhältnisse zu entwerfen, nämlich aus der Tiefe. Ein neuer Lebensstil kann nur als Folge einer tieferen Lebensverankerung und einer festeren Lebensorientierung entstehen.
Der Sozialismus kann in seinem innersten Wesen nicht ökonomisch definiert werden, umso weniger politisch. Sozialistisch ist die Gesellschaft, in der sich der Mensch auf andere Menschen als auf seine Freunde, Kameraden, Genossen bezieht (d.h. in der gilt: homo homini socius). Das ist jedoch nicht primär eine Frage der sozialen Organisation, sondern der aktuellen und konkreten Beziehung des einzelnen Menschen zu einzelnen Menschen. Hier gilt, daß vor allem die Menschen, die leiden, schwach sind, die man schlecht behandelt, die darben und entbehren müssen, die rechtswidrig benachteiligt und diskriminiert werden, die krank und alt sind oder an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden, meine Freunde werden müssen. Genauer gesagt: Ich muß ein Freund, Kamerad und Genosse dieser Menschen werden. Sich „kameradschaftlich“ gegenüber einem Direktor oder Sekretär u.ä. zu verhalten, ist nichts typisch Sozialistisches, das ist in allen Gesellschaften üblich. Aber einen verleumdeten, angeschwärzten, betrogenen, erniedrigten Menschen gegen einen Direktor oder gegen einen Sekretär in Schutz zu nehmen, oder wenigstens ohne Rücksicht auf diese und darauf, wie sie es beurteilen werden, das ist gerecht und gleichzeitig sozialistisch, d.h. kameradschaftlich, freundschaftlich, kurzum menschlich. Gelegenheiten dazu haben wir täglich um uns herum mehr als genug. Es dreht sich immer bloß darum, ob die anderen es wert sind, ob es sich lohnt, daß wir uns ihretwegen das Leben ein wenig komplizieren. Wenn wir gelernt haben, andere Menschen so zu behandeln, daß wir wirklich ihnen und nicht uns selbst helfen, daß wir ihre und nicht unsere Situation verbessern, erst dann bekommt unser Leben den richtigen Kurs und die richtige Qualität. Es ist möglich, daß Dir diese Zeilen ein wenig schulmeisterlich und moralisierend vorkommen. Aber wenn Du Dir alles gut überlegst, wirst Du sehen, daß sie von nichts mehr entfernt sind als von einer Moralpredigt. Es ist die praktischste Sache im menschlichen Leben; und der gangbarste Weg zu einer Gesellschaft, in der man wirklich menschlich leben kann. Und dazu braucht es ganz wenig: die Augen öffnen und die wirkliche menschliche Not sehen, und alles, was in unseren Kräften steht, dagegen tun, und sich dabei durch keine Ideologie und durch keine noch so gut klingenden Phrasen irreführen lassen.
Zum Schluß möchte ich Dir noch sagen, daß ich bereits erfahren habe, daß Du Deine Unterschrift nun doch unter die Charta gesetzt hast. Ich weiß nicht, was Dich daran hinderte, es mir zu sagen; vielleicht, daß ich Dich damals, vor mehr als einem halben Jahr, abgelehnt habe? Bedauerst Du vielleicht, daß Du nicht unter den ersten warst? Hast Du den Eindruck, daß Du zu spät gekommen bist? Dies wäre ein Irrtum. In der Angelegenheit, die die Charta betrifft, geht es nämlich gar nicht um die Unterschrift, d.h. nicht nur um die Unterschrift, sogar nicht einmal an erster Stelle. Im Geiste der Charta ’77 zu handeln und zu leben, ist auch ohne die Unterschrift ganz gut möglich. Es ist aber auch möglich zu unterschreiben, sich später jedoch durch das eigene Handeln aus dem Umkreis der Charta zu entfernen, ja sogar sich auszuschließen. Das Ziel der Charta ist nicht, möglichst viele Unterschriften zu sammeln, sondern möglichst viele Leute zu überzeugen, daß sie sich dem Staat gegenüber als freie, mutige Bürger verhalten können und sollen. Und daß sie – dies ist die Hauptsache – ihre Mitbürger wie Freunde, Kameraden, Genossen behandeln sollen, an erster Stelle diejenigen Mitbürger, die geschmäht und verleumdet, ungerecht beschuldigt und verurteilt, schikaniert und diskriminiert, neurotisiert und provoziert, beleidigt und gedemütigt werden. Solche Mitbürger können sicherlich auch Unterzeichner der Charta ’77 sein; – die zahlenmäßige Übermacht haben alerdings die anderen. Und alle diese müssen wir gemeinsam ausfindig machen und dürfen nicht zulassen, daß sie mit ihren Schwierigkeiten allein bleiben. Die Menschenrechte gehören nämlich nicht zu ihrer „natürlichen Ausstattung“, sondern sie verpflichten uns und die anderen dazu, sie praktisch anzuwenden. Wir müssen diesen Menschen durch unser Handeln und unsere Taten versichern, daß sie unsere Freunde, Kameraden und Genossen sind, die wir nie aufgeben werden, auch wenn es für uns mit Risiken verbunden wäre.
Dein
Ladislav Hejdánek
Prag, den 1.9.1977