- in: Ladislav Hejdánek, Wahrheit und Widerstand. Prager Briefe, transl. Milan Walter – Eva Bauer, München: P. Kirchheim, 1988, p. 210–218
Die Vertreibung der Deutschen nach 1945 und die Menschenrechte
Lieber Freund,
zunächst wollte ich zu der Angelegenheit überhaupt nichts mehr schreiben, aber jetzt weitet sie sich immer mehr aus, und mir bleibt nichts anderes übrig. Am 7. Februar 1979, früh morgens, ein paar Minuten nach sieben Uhr, wurde ich von der Polizei von meinem Arbeitsplatz abgeholt. Schriftlich hatten sie wieder nichts vorzuweisen, aber sie teilten mir mit, daß ich vorgeladen sei; der Grund werde mir an Ort und Stelle mitgeteilt, d.h. in der Bartholomäusstraße. (Das gefürchtete Gebäude erkannte ich aber erst, als wir dort ankamen; da wir unglaubliche Umwege fuhren, war ich unterwegs sehr unsicher, wohin sie mich verfrachten wollten. Erst nachträglich erfuhr ich, daß irgendwo in Balabenka eine Wasserleitung geplatzt war und die Straße unter Wasser stand.) Kurz nach unserer Ankunft wurde auch Rudolf Battek von anderen Polizeibeamten gebracht, aber nur ich sah ihn, er mich nicht. Dann wurde ich in einen Warteraum geführt, wo schon Dana Němcová saß. Es war offensichtlich, daß es sich um eine größere Aktion handelte. Nachdem ich in einen anderen Raum im zweiten Stock gebracht worden war, geschah lange Zeit nichts. Nachdem es nach drei Stunden Warten immer noch nicht zum Verhör gekommen war, protestierte ich und verlangte, dem Chef der Sicherheit vorgeführt zu werden, damit ich ihm gegenüber eine Beschwerde vorbringen konnte. Einer der Mitarbeiter der Staatssicherheit, die mich abwechselnd bewachten, ging auch weg, kehrte aber bald zurück und teilte mir mit, daß ich mit dem Chef der Sicherheit nicht sprechen könne. Dann setzte er sich an die Schreibmaschine, spannte ein Blatt Papier ein, schrieb meine Personalien auf und endlich auch die erste Frage. Er las sie mir laut vor, dann stand er auf und verließ das Zimmer mit den Worten, ich solle mir meine Antwort gut überlegen. Ich forderte kategorisch die Fortsetzung des Verhörs und wollte sofort meine Antwort diktieren. Aber auch das wurde mit der Bemerkung abgelehnt, ich hätte eine Stunde Zeit, meine Antwort reiflich zu durchdenken. Aus alldem wurde offensichtlich, daß der Gegenstand des Verhörs nur ein Vorwand war (da ich ähnliches schon öfter erlebt hatte, fand ich das ziemlich schnell heraus). Der vorgebliche Gegenstand meines Verhörs war, wie sich im Verlaufe der Verhandlung herausstellte, ein Artikel von Danubius über die Vertreibung der Deutschen aus unserem Staat nach dem Ende des letzten Weltkrieges. Der Aufsatz war in der Zeitschrift „Svědectví“ erschienen, die ich jedoch nicht kannte.
Nach vielem Hin und Her und langem Zögern gaben mir die Mitarbeiter der Staatssicherheit eine Fotokopie des Aufsatzes, und so konnte ich den Artikel überhaupt zum ersten Mal lesen. Zeit hatte ich, wie schon gesagt, reichlich, weil sich das Verhör außergewöhnlich in die Länge zog (das Protokoll wurde nach 16.00 Uhr beendet, aber freigelassen wurde ich erst gegen 20.00 Uhr). Aus dem Verlauf der Verhöre anderer Vorgeführter wurde klar, daß die Mitarbeiter der Staatssicherheit eine falsche Information besaßen, und zwar, daß es an diesem Tage zur Ernennung neuer Sprecher der Charta ’77 und zur Übergabe der Funktionen kommen sollte; möglicherweise wollten sie es auf diese merkwürdige Art und Weise verhindern. (Zur Übergabe der Funktionen kam es wie vorgesehen am nächsten Tag.)
Alles wies daraufhin, daß der Text über die Vertreibung der Deutschen ein bloßer Vorwand für die ganze Aktion war. Am 19.02.1979 erschien dann in der Tageszeitung „Rudé právo“ eine Glosse von Karel Douděra „Bemerkenswertes Zusamenspiel“, wo er – auf eine für ihn bezeichnende Art eine bedeutungslose Kampagne, die an die „Vertreibung von Millionen Deutschen aus ihrer Heimat“ erinnerte, mit dem Wirken einer „Gruppe, die sich Charta ’77 nent“, in Zusamenhang brachte. Das Bindeglied war jener oben erwähnte Artikel aus der Zeitschrift „Svědectví“, dessen Autor „laut der Behauptungen der westdeutschen Presse“ ein Unterzeichner der Charta ’77 sei. (Douděra benutzte jedoch die nicht gerade intelligente Bezeichnung „Mitglied eines Grüppchens“). – Eigentlich nichts Besonderes; solche Glossen werden ohnehin nicht viel gelesen, und falls sie doch jemand liest, dann eher wegen des Spaßes am Klatsch. Eigentlich kein Grund, sich damit zu befasen. Aber am 2. 2. 1979, d. . drei Tage später, wurde von einem europäischen Korrespondenten in der „Stimme Amerikas“ ein ziemlich langer Auszug aus dem Artikel von Danubius vorgelesen, der als das neueste Dokument der Charta ’77 vorgestellt worden sein soll (ich selbst habe das nicht gehört).
Die Mitarbeiter der Staatssicherheit waren sehr daran interessiert zu erfahren, ob in der Charta ’77 ein Dokument über die Deutschen vorbereitet worden sei. Man konnte merken, daß sie die Angelegenheit für eine sehr willkommene Gelegenheit hielten, um die Charta ’77 und die ganze Bewegung der Verteidiger der Menschen- und Bürgerrechte zu diskreditieren. Dies bestätigte auch der Schluß der Glosse von Douděra in „Rudé právo“. Trotzdem kam mir überhaupt nicht in den Sinn, daß es nötig sei, sich mit der ganzen Angelegenheit gründlicher zu befassen; dieser eventuelle Versuch einer so einfallslosen, ja dummen Diffamierung erinnerte mich an eins meiner vorherigen Verhöre, wo die Mitarbeiter der Staatssicherheit versucht hatten, den Fall einer Gruppe junger Menschen aus dem 10. Bezirk von Prag, die faschistischen Charakter haben sollte, mit der Charta ’77 in Zusammenhang zu bringen, weil bei den Jungen angeblich einige Dokumente der Charta ’77 gefunden worden waren! Ich hatte jedoch den Eindruck, daß das ein völlig frei erfundener Vorwand war – und in diesem Sinne habe ich mich auch geäußert.
Einen ganz anderen Eindruck machte die Sache jedoch auf den Dozenten Milan Hübl und bald danach auch auf den Dozenten Luboš Kohout, die es für notwendig hielten, kritische Anmerkungen zum Text von Danubius zu verfassen (was freilich ihre ureigene Sache ist und wozu sie auch durchaus berechtigt sind). Ich gebe zu, daß ich die eventuelle politische Bedeutung der polizeilichen Aktion und der Glosse von Douděra unterschätzt haben mag, obwohl ich auch heute noch nicht genau weiß, inwiefern. Ich gebe auch zu, daß ich die oben erwähnte Sendung der „Stimme Amerikas“ vielleicht fälschlicherweise für belanglos gehalten habe (vielleicht, weil ich sie nicht selbst gehört habe). Bis heute bin ich nur wenigen heftigen Reaktionen begegnet, die sich auf das Problem der Vertreibung der Deutschen, auf den Artikel von Danubius und die Erfindung, daß die Charta ’77 in diesem Zusammenhang ein Dokument zu veröffentlichen beabsichtige, beziehen. Aufgeregte Reaktionen gab es nur bei einigen wenigen Leuten, die zum nahen Umkreis der beiden erwähnten Historiker gehörten, und nirgendwo sonst (weder bei den Chartisten, noch außerhalb der Charta ’77). Wenn dieses Thema in den Kreisen der Unterzeichner der Charta ’77 zu etwas Aktuellem und breit Diskutiertem geworden ist, dann ist das ein meinem Urteil nach sehr zweifelhaftes Verdienst der Dozenten Hübl und Kohout. Die Bemerkung in Deinem letzten Brief, in der Du mich um Aufklärung bittest, wie es zu alldem überhaupt gekommen ist, ist nur ein weiterer Beweis für die Richtigkeit meiner Beurteilung, weil Dein Interesse durch die Glosse von Hübl zu den „Thesen“ von Danubius geweckt wurde (den Text von Kohout konntest Du noch nicht gekannt haben). Ich muß aber noch an etwas anderes erinnern: die Gerüchte darüber, daß ein Dokument seitens der Charta ’77 über die Vertreibung der Deutschen in Vorbereitung sei, hatten sich in gewissen Kreisen bereits vor den polizeilichen Verhören und vor der „Glosse“ von Douděra in „Rudé právo“ verbreitet. Eine ganze Reihe von Unterzeichnern der Charta ’77, die darüber ziemlich aufgebracht waren, hatten sich an mich gewandt. Ihnen allen gegenüber hatte ich es selbstverständlich dementiert. Und jetzt mußte ich in Hübls „Glossen zu den Danubius-Thesen über die Aussiedlung der Deutschen“ lesen, daß sich Danubius an einer Stelle auf Hübl „zu Unrecht berufe“, da „ihm nicht verborgen geblieben sein könne, welch äußerst ablehnende Haltung“ Hübl „zu den Überlegungen, daß solche Thesen als ein Dokument der Charta 7 herausgegeben werden sollen, eingenommen hat“. Das ist zwar äußerst vorsichtig ausgedrückt, aber es soll den Eindruck erwecken, daß ein ähnliches Dokument wirklich vorbereitet worden sei, und daß Dozent Hübl die Gelegenheit hatte, sich dagegen zu stellen. Ich erkläre also, daß ein solcher Eindruck vollkommen falsch ist.
Es wundert mich, daß Dozent Hübl die Bemerkung über sich in dem Text von Danubius für so gefährlich hielt, daß er zu derartigen Formulierungen gegriffen hat; trotzdem überrascht es mich, daß er bei einer solchen Gelegenheit sogar so weit geht, daß er Danubius als „eine Art verspäteten Sproß“ einer gewisen „Tendenz“ bezeichnet, „die auch in der Zeit des Prager Frühlings zutage trat“. Obwohl er Danubius vorhält, daß „er der wisenschaftlichen Methodologie untreu wird“, beruft er sich selbst auf westdeutsche sozialistische Autoritäten, von denen „diese Tendenz ihre Portion Kritik schon anläßlich des 10. Jahrestages des Jahres 1968 bekommen habe“. Überhaupt ist offensichtlich, daß er gegen Danubius' Text nicht aus wissenschaftlich-kritischen, sondern vor allem aus politischen Gründen protestiert. Mich irritiert nur, daß ich nicht in der Lage bin, seine Gründe zu durchschauen. Die gleiche Nervosität beobachte ich auch im Text des Dozenten Kohout; obwohl er sich eine Untersuchungen „sine ira et studio“ wünscht, bleibt er nicht bei trockener fachlicher Kritik, sondern läßt als Cantus firmus seiner Anmerkungen die Apologie der Vertreibung ertönen, als eines Aktes der nationalen und staatlichen Selbsterhaltung“, zu dem keine Alternative existiert habe. Auch Hübl wiederholt das Schlußwort seiner Dissertationsarbeit, daß “es eine harte, aber notwendige Maßnahme war“, und meint, daß eine andere, bessere Lösung nicht möglich gewesen sei.
Dieser apologetische Ton irritiert mich, weil er notgedrungen bei den jüngeren oder der Geschichte unkundigen Lesern den Eindruck erweckt, daß es in erster Linie die Kommunisten gewesen seien, die für die Vertreibung verantwortlich sind und sie jetzt so nervös verteidigen müssen. In Wirklichkeit waren die Gründe, die die damalige kommunistische Führung dazu bewogen haben, den Plan der Vertreibung anzunehmen, alles andere als konsequent marxistisch – daher hat auch eine erkleckliche Anzahl von Vorkriegskommunisten diese Gründe nicht geschluckt, hat von sich aus die kommunistischen Reihen verlassen oder wurde ausgeschlossen.
Keine politische Gruppe in diesem Land hat soviel Möglichkeiten, unter ihren eigenen Mitgliedern an das kritische Verhältnis zur Vertreibung anzuknüpfen, wie gerade die Kommunisten. Wenn ich Kommunist wäre, fühlte ich mich dazu berechtigt, das Einverständnis mit der Vertreibung (so wie sie nach Plan verlief, also keineswegs mit wilden Aussiedlungen) als einen der Bestandteile der deformierten und so verheerenden Parteipolitik zu sehen, die die Schleusen für die Überflutung mit den Ungesetzlichkeiten der fünfziger Jahre und später öffnete.
Ich bin weder Politiker noch Historiker; ich habe nicht vor, mich auf die Beurteilung von Fragen einzulassen, in denen ich micht nicht kompetent fühle. Wenn wir uns jedoch plötzlich inmitten einer so erbitterten Polemik wiederfinden, täte es gut, die Köpfe etwas abkühlen zu lassen und zu versuchen, in einer vernünftigen und sachlichen Diskussion fortzufahren. Formulierungen, wie z.B. daß es nicht richtig sei, „die Geschichte zu klittern“ oder daß man das, „was in der Geschichte geschah, nicht ungeschehen machen könne“, bringen uns ein wenig vom rechten Wege ab, weil es nur Halbwahrheiten sind.
Was in der Geschichte geschehen ist, ist für die Gegenwart von Bedeutung, aber das tatsächlich nur insoweit, als es durch andauerndes Reagieren der Lebenden am Leben erhalten und aktualisiert wird. Die Geschichte ist keine Selbstverständlichkeit, aber man muß sie sich aneignen. Aus der vergangenen, d.h. nicht mehr existierenden Gegenwart (der ehemaligen Gegenwart) muß in einem solchen Reagieren eine gegenwärtige, aktualisierte Vergangenheit, d.h. unsere heutige Vergangenheit werden. Die Geschichte beruht darauf, daß die neuankommenden Generationen an die Generationen ihrer Väter und Vorväter anknüpfen; und bei diesem Anknüpfen werden wir immer vor die Wahl gestellt, woran wir und wie wir anknüpfen wollen. Dabei kommt es immer auf das Verständnis der Vergangenheit an, auf ihre Interpretation und folglich auch auf ihre Bewertung. In diesem Sinne ist dann die Vergangenheit niemals etwas Fertiges, Gegebenes, sondern sie gewinnt immer wieder neue Konturen, neue Merkmale (oder kann sie gewinnen), und sie ist immer noch im „Werden“ und im „Geschehen“.
Die Auffassung der Geschichte als etwas, was ein für allemal geschehen ist, und als etwas, was jetzt geschieht (ebenfalls ein für allemal), und als etwas, was in der Zukunft geschehen wird (wiederum ein für allemal), ist falsch und durch den Positivismus belastet. Die ganze Geschichte ist im Werden, in ständigem Werden, und das in allen ihren Bestandteilen. Und deshalb ist auch das, was schon geschehen ist, für uns eine ständige Aufforderung, es entweder aufzuwerten und lebendig zu erhalten, oder es abzuwerten und in Vergessenheit geraten zu lassen. Durch unser Anknüpfen können wir einem Teil von dem, was geschehen ist, Gewicht und Wichtigkeit verleihen, aber wir können im Gegenteil es auch abwerten und dem Geschehenen die Kraft entziehen, mit der es unser Leben einengt.
Die Vertreibung der Deutschen ist eine historische Tatsache, die unser eigenes Nationalleben geschädigt hat. Vielleicht haben diejenigen recht, die darauf beharren, daß es eine Notwendigkeit war; ich kann das nicht beurteilen. Aber eins kann ich beurteilen: daß es ein Stück unserer Vergangenheit ist, die uns bis heute belastet, und die auf uns noch lange wie ein schwarzer Felsbrocken lasten wird. Es geht nicht darum, daß wir damit in der Zukunft noch einmal konfrontiert werden könnten; wir sind schon damit konfrontiert worden, und es kommt immer wieder auf uns zu, weil wir uns dadurch auch selbst geschädigt haben. Und dieser Schaden bringt sich nicht von selbst wieder in Ordnung, sondern wir müssen etwas dafür tun.
Eine der grundlegenden Bedingungen für den Heilungsprozeß ist, das Geschehene offen und wahrheitsgetreu so zu sehen, wie es geschehen ist. Wir müssen der ganzen Apologetik ein Ende bereiten, wir müssen diese ganze Angelegenheit enttabuisieren und zugeben, daß nicht allein die Vertreibung, sondern auch, was ihr vorausgegangen ist und was zu ihr geführt hat, in gewisser Hinsicht auch von uns verschuldet ist. Das bedeutet nicht, alles, was die Deutschen getrieben haben, zu entschuldigen; auch das muß besser und genauer betrachtet und erfaßt werden. Die wahrheitsgetreue Betrachtung dessen, was geschehen ist, ist nicht nur für unsere Gesundung wichtig, sondern auch für die Gesundung der Deutschen; und sie benötigen die Gesundung nicht weniger als wir. Beide Seiten müssen jedoch mit der Kritik bei sich selbst anfangen, ohne Rücksicht darauf, daß das nicht gerade populär ist, oder noch besser, gerade deshalb, weil es unpopulär ist.
Ich will nur einige wenige Aspekte zur Vertreibung und zur sogenannten Lösung der deutschen Frage in unserem Staat aufzeigen, egal ob diese der Vertreibung voranging oder ihr erst folgte. Diese Aspekte hatten, meinem Urteil nach, zweifellos einen sehr problematischen Charakter und können wiederum meinem Urteil nach – einer alseitigen Beurteilung und Bewertung nicht standhalten. An erster Stelle muß man den rechtlichen Aspekt anführen, weil gerade er unsere Gesellschaft auf eine äußerst verhängnisvolle Art und Weise über Jahrzehnte in die Zukunft hinaus belastet hat. Schon die Politik von Beneš, aber danach auch die ganze kommunistische Politik der Folgezeit, hat nicht aufgehört, die Wiedergutmachung des Münchener Diktats nach internationalem Recht und die Bestätigung der Ungültigkeit des Münchener Abkommens „von Anfang an“ anzustreben (wir können uns noch daran erinnern, wie die Formel von der sogenannten Nullität gefunden wurde). Aus juristischer Sicht wurde jedoch die Vertreibung der Deutschen mit einem Prinzip begründet, das mit jener Bemühung um die Annullierung der Gültigkeit des Münchener Abkommens in flagrantem Widerspruch stand. Wenn der tschechoslowakische Staat nach internationalem Recht nach München nicht aufgehört hat zu existieren, und wenn seine Gesetze nicht aufgehört haben zu gelten, dann haben die Deutschen nicht aufgehört, tschechoslowakische Bürger zu sein. Dennoch wurden sie nach dem Kriege nicht wie tschechoslowakische Bürger behandelt, d.h. man hat ihnen nicht das Recht eingeräumt, sich gegen die Beschuldigungen von Verbrechen und Straftaten individuell vor ordentlichen Gerichten zu verteidigen. Der Verweis auf die technische Undurchführbarkeit eines solchen Verfahrens in einer Zeit, in der die Gerichte ohnehin schon mit einer Lawine von Gerichtsund Strafverfahren hoffnungslos überfordert waren, kann einfach nicht akzeptiert werden.
Genau wie die Deutschen haben sich auch andere nicht-deutsche Bürger gegen den Staat und gegen die Menschlichkeit vergangen, die Tschechen und Slowaken selbst nicht ausgenommen. Und doch war das Verfahren gegen die tschechischen und slowakischen Kollaborateure, Konfidenten und Verräter von den Verfahren gegen die Deutschen völlig verschieden. Das waren nicht nur einige vereinzelte Auswüchse, sondern es war ein offizielles Programm, dessen Folge die grobe Verletzung der Struktur eines Rechtsstaates und des Rechtszustandes der Republik unsererseits war. Dieses Faktum muß der Kritik unterzogen werden, aber die Kritik muß auch die Rechtskonzeption, die dahinter stand, in Betracht ziehen. Vor allem ist es die unhaltbare und direkt unmoralische Auffassung von der sogenannten kollektiven Schuld; es handelt sich jedoch auch um die Verletzung eines alten Rechtsgrundsatzes, der Annahme der Unschuld, die ad hoc mit ihrem Gegenteil, d.h. mit der Annahme der Schuld vertauscht worden ist. Nicht zuletzt ist noch die Verletzung des Grundsatzes anzuführen, daß eine Straftat nach dem zur Zeit des Vergehens geltenden Gesetz abgeurteilt werden muß und keineswegs nach einem Gesetz, das nachträglich verkündet wurde. Der Umstand, daß es sich bei manchen der erwähnten Gesichtspunkte nicht um eine tschechoslowakische Besonderheit, sondern um allgemein anerkannte und geteilte Verfahrensweisen handelte, kann keine Entschuldigung sein, sondern bestenfalls eine gewisse Erklärung für die Wendung der Ereignisse.
Es steht außer Frage, daß das Rechtsbewußtsein der Bürgerschaft wie der Richter (und Staatsanwälte, Verteidiger, Politiker, usw.) durch all das grob verletzt wurde, und daß die Rechtsordnung brüchig wurde, was zu einem fatalen Einreißen von Gesetzwidrigkeiten führte, die dann in den fünfziger Jahren die ganze Gesellschaft überfluteten. Dies war jedoch nicht der einzige Angriff auf das Leben der Gesellschaft. Ich will nur noch einen weiteren, meiner Überzeugung nach nicht weniger wichtigen Grund anführen; obwohl man natürlich noch viele andere Gründe nennen könnte.
Durch die Vertreibung der Deutschen wurde nicht nur das Rechtsbewußtsein beeinträchtigt, sondern der nationale Charakter der tschechischen Gesellschaft selbst (die Frage der slowakischen Gesellschaft lasse ich absichtlich beiseite). Ich erinnere mich, welche Erschütterung es für mich war, als ich mich in den ersten Tagen des Prager Aufstandes an der Ecke Mezibranská Straße und Wenzelsplatz plötzlich im Angesicht der tschechischen Bestialität befand, die ich bis dahin für ausgeschlossen gehalten hatte. Es geht mir jedoch nicht um derartige Auswüchse, sondern um etwas, was einen wesentlich bedeutsameren gesellschaftlichen Charakter hatte. Damals begann schon wieder der Schulunterricht, und die Schüler aus der Kladská Straße und die Studenten aus der Slovenská Straße in Prag-Weinbergen gingen täglich an einem improvisierten kleinen „Lager“ der inhaftierten Deutschen vorbei; ich erinnere mich besonders an deutsche Frauen mit kahlgeschorenen Köpfen (einige mit Säuglingen im Arm), die durch Schläge angetrieben wirden, sinnlos im Kreis herumzutraben, ohne ihn verlassen zu dürfen. Es hat nicht lange gedauert. Das kleine Lager verschwand aus unseren Augen; mit anderen kleineren zu einem größeren Lager zusammengeschlossen, existierte es jedoch anderswo weiter. Solche Lager gab es viele; es geschahen dort abscheuliche Dinge. Sie geschahen unter der Aufsicht, unter der Assistenz und aus der Initiative unserer tschechischen Mitbürger. Egal, ob sie sich für ihre früheren Erniedrigungen rächten oder ob sie sich so Verdienste erwerben wollten, mit deren Hilfe sie ihre vorausgegangene feige und nicht selten kollaboratorische Vergangenheit zu vertuschen beabsichtigten, oder ob sie sich nur in ihren psychischen Verirrungen Luft machen wollten – sie haben neues Unheil in das Leben unserer Gesellschaft gebracht, sie haben unserer nationalen Zukunft eine riesige Last auferlegt, sie haben das neu beginnende freie Leben mit Schuld befleckt, die weitreichende, nicht immer leicht aufspürbare Folgen hat.
Und diese Menschen haben die Basis dafür geschaffen, daß sich eingespielte und in gegenseitiger Verbindung stehende Gruppen, ganze Gangs formieren konnten, die nach der durchgeführten Vertreibung der Deutschen ein neues Betätigungsfeld für sich in den Lagern und bei den Angehörigen des eigenen Volkes fanden, wo sie sich, nach den Feinden der Nation, an den Klassenfeinden und politischen Feinden austoben durften. Ich bin mir sicher, daß die fünfziger Jahre ganz anders ausgesehen hätten, wenn unsere nationale Gesellschaft es geschafft hätte, sofort im Mai 1945 eine größere Widerstandsfähigkeit gegenüber der Seuche des nationalen Hasses zu entwickeln, der zwar vielleicht zum größten Teil durch den nationalen Haß der Deutschen provoziert wurde, der aber deshalb nicht weniger ekelhaft und gefährlich, und umso weniger entschuldbar ist. Allen politischen Führern der Nachkriegszeit haftet ein Makel an, weil sie so wenig dafür getan haben, all den Monstrositäten und Gesetzwidrigkeiten, all dem Unrecht bezeiten Einhalt zu gebieten. Und es bleibt die Mahnung, daß das Böse, dem man nicht gleich von Anfang an entgegentritt, sich in einem solchen Maße verbreitet und sich auf allen Ebenen der Gesellschaft so tiefgreifend durchsetzt, daß schließlich auch die höchstgestellten Menschen ergriffen werden. Außerdem werden die Reihen der Sieger und Herrscher innerlich geschwächt und äußerlich versklavt, indem das Böse die erhabensten Prinzipien und Ideale beschädigt und deformiert und die Bemühungen um eine neue gerechtere Gesellschaft durch Berge von neuen Ungerechtigkeiten zuschüttet.
Das alles, und vieles mehr muß gesagt werden, wenn wir das Gespräch über die Vertreibung der Deutschen führen werden. Wir dürfen uns nicht auf eine, etwa die politische Seite der Angelegenheit beschränken, sondern müssen uns allen Ernstes auch mit den moralischen, rechtlichen, gesellschaftlichen usw. Fragen befassen.
Dein
Ladislav Hejdánek
Prag, den 10.3.1979