- in: Ladislav Hejdánek, Wahrheit und Widerstand. Prager Briefe, transl. Milan Walter – Eva Bauer, München: P. Kirchheim, 1988, p. 218–226
Menschenrechte und Ökologie
Lieber Freund,
aufgrund Deines neuesten Wunsches begebe ich mich auf ein für mich recht dünnes Eis. Die Sprecher der Charta ’77 veröffentlichten neulich (am 28. April 1979) in Form eines Dokuments einen Brief von Professor František Janouch aus Schweden, der als Diskussionsbeitrag zum Dokument Nr. 22 der Charta ’77 über die Kernkraftwerke gemeint ist. Selbstverständlich kann ich mit meinen Bemerkungen in gewissem Sinn nur am Rand dieses großen und gewichtigen Problems bleiben, da ich in keiner Weise Spezialist für die Frage der Kernenergie im ganzen oder gar für ihre Einzelaspekte bin. Dessen ungeachtet, darf die Philosophie aus keinem Bereich des individuellen oder gesellschaftlichen Lebens als inkompetent verwiesen werden. Sie muß allerdings die entprechenden Fachdisziplinen respektieren (was keineswegs bedeutet, daß sie unkritisch deren Standpunkte annehmen muß), aber sie muß vor allem auf weitere Kontexte blicken, die jeder Spezialwissenschaft notwendigerweise entgehen. (Wenn sie sich dennoch mit ihnen beschäftigt, tut sie es notgedrungen ohne die Autorität ihrer Fachkompetenz.) Insbesondere muß die Philosophie die Beziehung eines bestimmten abgegrenzten Problems zum Ganzen im Auge behalten, wozu im Rahmen ihrer Kompetenz keine wissenschaftliche Fachdisziplin und kein noch so großes Team von wissenschaftlichen Fachleuten Zugang haben. Augenblicklich fehlen mir jedoch die ordentliche Sachkompetenz und ein Überblick über die komplizierte sachliche Problematik der Kernenergie. Wenn ich mich auf ein ernstes Gespräch einließe, bei dem meine Partner wirkliche Spezialisten wären, müßte ich mich sehr gründlich vorbereiten. Dennoch denke ich, daß man einige Zusammenhänge andeuten kann, die entweder außer acht gelassen werden oder über die man bewußt und absichtlich (aus verschiedensten Gründen) nicht spricht, die jedoch ein großes Gewicht haben. Selbstverständlich erhebe ich keinen, ja nicht den geringsten Anspruch darauf, durch meine Hinweise alle derartigen wichtigen Zusammenhänge zu erschöpfen. Aber auch die wenigen, die zur Sprache kommen, reichen gewiß aus, um an so manchen Behauptungen oder Schlußfolgerungen des Professors Janouch wenn nicht zu rütteln, so doch wenigstens sie in Bewegung zu bringen und in etwas weniger gesichertem Licht zu zeigen, als sie auf den ersten Blick erscheinen mögen.
Vorerst zur Frage unserer tschechoslowakischen energiepolitischen Situation, die Prof. Janouch – mit Recht – für die Schlüsselfrage hält. Es ist verständlich, daß er von seinem naturwissenschaftlichen Gesichtspunkt aus unsere energiepolitische Situation im wesentlichen als eine naturgegebene beurteilt: Die Tschechoslowakei hat „eine außerordentlich ungünstige geographische Lage“ und ist ein von der Natur dürftig bedachtes Land, „was die Rohstoffe und insbesondere die Energiequellen betrifft“. „Wir haben kein Erdöl, wir haben kein Erdgas, (…), Kohle ist auch knapp bemessen, die Möglichkeiten der Hydroenergie sind ausgeschöpft“. Und dann sagt Professor Janouch: „Weil die Energie ein erstrangiger Faktor ist, der zur Sicherung des normalen Gangs der modernen Industriegesellschaft erforderlich ist, wird unser Land ökonomisch und politisch von den Energielieferanten immer abhängiger.“ Hier sind viele Prämissen, die man gar nicht so selbstverständlich hinnehmen kann und ins rechte Licht rücken und gründlich durchgehen muß. Zuerst müssen wir also fragen, was unter jener „modernen Industriegesellschaft“ zu verstehen ist. Es werden ja schon lange überall auf der Welt ernsthafte Diskussionen geführt, in denen die ganze Attitüde der sogenannten „modernen Industriegesellschaft“ problematisiert wird, und das sowohl im großen wie auch in einzelnen Bereichen. Für unsere tschechoslowakische Situation bedeutet das konkret z.B.: In welchem Sinne und in welchem Umfang ist der Lebensstandard der Gesellschaft mit der ökonomischen Orientierung an der Schwerindustrie und insbesondere an der Stahlproduktion (man könnte gewiß noch viele weitere Beispiele nennen) verknüpft? Warum orientiert sich unsere Wirtschaft an einer Produktion, die maßlos Energie und Rohstoffe beansprucht, wenn wir nicht einmal genug Erz, Kohle und Energie haben? Der Ausbau der Kernkraftwerke bei uns bedeutet, daß nichts diese unsinnige Konzeption auf Dauer ins Wanken bringen kann und daß hier etwas fortgesetzt wird, was schon einige Jahrzehnte andauert. Gewiß ist der Energiemangel Tatsache. Die allererste Aufgabe sollte deshalb die Energieeinsparung sein. Stattdessen wird Energie vergeudet. Betriebe z.B., die heute nicht die geplante Zuteilung der Stromenergie abnehmen, werden wegen der Nichterfüllung des Plans mit einer Geldstrafe belegt (genauso wie andere Betriebe, die das Abnahmesoll unerlaubt überschreiten). Neben der Gesamtorientierung der Volkswirtschaft an der bezüglich des Energiebedarfs zu anspruchsvollen Produktion ist hier noch das ungeeignete Führungssystem zu nennen, das die Energieeinsparung in der Produktion verhindert und stattdessen kosmetische Verbesserungen völlig unwichtiger Randerscheinungen propagiert. Beides zusammen zeigt, daß die tschechoslowakische Energiesituation nicht durch die dürftigen Gaben der Natur, sondern durch die Produktionsverhältnisse und die ganze gesellschaftliche und politische Situation des Landes gekennzeichnet ist. Die Natur können wir nicht ändern, aber die gesellschaftliche Situation muß geändert werden.
Professor Janouch schließt ganz typisch: „Das einzige, was wir hatten und vieleicht noch in ausreichender Menge haben, ist das Uran.“ „Vieleicht noch haben“, diese Bemerkung oder dieses Einschiebsel spricht für sich selbst. Die Frage unseres Urans ist eigentlich seit dem Ende des letzten Weltkrieges tabu. Es wurden keine Zahlen darüber bekanntgegeben, welche Uranmengen in dieser Zeit gefördert wurden, wieviel Prozent zu Hause genutzt und wieviel ausgeführt wurden und zu welchem Preis. Es sind keine Schätzungen bekannt, wieviel Uran wir noch in etwa haben. Und wir machen uns auch keine Illusionen darüber, bis zu welchem Grad wir über das geförderte Uran verfügen können. Wenn Prof. Janouch nicht zögert, „das Gleichheitszeichen zwischen der Energie, der Freiheit und der Unabhängigkeit“ zu setzen, wobei er diese Wechselbeziehung so versteht, daß „der Staat, der in eine zugespitzte energiepolitische Krise gerät, keinen anderen Ausweg haben wird, als sich dem zu unterwerfen, der den Hahn kontrolliert, oder mit der Einschränkung der politischen und bürgerlichen Freiheiten zu beginnen“, dann müssen wir uns die Richtung seiner Überlegungen durch eine andere Perspektive erklären, als die, die uns näher steht. Ich würde sagen, daß wir uns gegenwärtig (und sehr wahrscheinlich auch in ziemlich ferner Zukunft) mit ähnlichen Gedanken nicht beschäftigen müssen. Unsere Freiheit und Unabhängigkeit wurde in der Vergangenheit nie durch Energiemangel bedroht, eher im Gegenteil. Die Überlegungen Prof. Janouchs gelten vielleicht für Großmächte oder wenigstens für normale „anständige“ internationale Beziehungen, wo man vor allem die Gefahr der wirtschaftlichen Abhängigkeit sehen muß. Unsere Erfahrungen sind jedoch schon jahrzehntelang von anderer Art. Es gab Zeiten, da waren wir wenigstens im Rahmen unseres Blocks gemeinsam mit der DDR auch eine Art kleinere wirtschaftliche Großmacht (von einer energiepolitischen Krise konnte damals noch keine Rede sein, obwohl sich schon der Mangel an Rohstoffen, Erdöl und Erdgas und sogar an Kohle bemerkbar machte) – und doch kann man nicht sagen, daß es für unsere politischen und bürgerlichen Freiheiten irgendeinen Vorteil gehabt hätte. Soll man also heute ein Kernkraftwerk nach dem anderen bauen, und hoffen, daß sich dadurch irgendwann die Lage bessert? Ich kann mich für diese Idee nicht besonders begeistern, weil ich weiß (wenn auch nur in groben Umrissen), wie es auf anderen Gebieten der Energiegewinnung aussah.
Aber bevor ich zu diesem Punkt übergehe, möchte ich noch auf einen ganz entgegengesetzten Effekt der Kernenergie für den Bereich der Menschenrechte und der bürgerlichen und politischen Freiheiten aufmerksam machen. Das gesamte Nuklearprogramm in allen, auch den demokratischen, Ländern ist Gegenstand maximaler Geheimhaltung und führt zu erhöhten polizeilichen und militärischen Überwachung. Das war bereits von Anfang an der Fall. Der Umstand, daß gerade Krieg herrschte, hinderte paradoxerweise die Polizei und das Militär (wenigstens in den Vereinigten Staaten) eher daran, ihre berüchtigten Methoden voll zu entfalten. Ihre Stunde kam erst nach dem gewonnenen Krieg. Aber mutatis mutandis wiederholte sich alles, wenn auch in kleinerem Rahmen, naturgetreu in allen anderen demokratischen Ländern (freilich noch mehr in den übrigen). Als logische Konsequenz brachte die Kernenergie die Erweiterung der Gebiete mit sich, die der gesellschaftlichen Kontrolle und Kritik entzogen sind und die somit die Domäne der polizeilichen und militärischen Geheimdienste werden. Zu Orwells Alptraum kann nicht nur die x-te energiepolitische Krise, sondern auch das „Vereinigte Nuklearprogramm“ führen.
Als eine Antwort auf das Dokument Nr. 22 der Charta ’77 wurde angeblich eine Pressekonferenz veranstaltet, zu der auch ein Journalistenausflug in den Norden Böhmens gehörte. Dort wurden ihnen die Folgen des Abbaus der Kohle im Tagebau für die Landschaft anschaulich demonstriert. Man spricht und schreibt darüber übrigens schon ziemlich lange. Und dies sollte das entscheidende oder wenigstens eines der überzeugendsten Argumente sein: So sehen also die Folgen der klassischen Technologie aus. Der Ausbau der Kernkraftwerke ist daher unumgänglich. – Ziemlich ähnlich argumentierte eigentlich auch Prof. Janouch: Die Nebenprodukte der Chemieindustrie und die Industrieemissionen überhaupt gefährden die Bevölkerung im Grunde mehr als gegenwärtige und zukünftige Kernkraftwerke. Er führt ein Beispiel aus Schweden an; es könnte sich um eine Tatsache handeln. Damit wir die Frage hinreichend beurteilen können, dürfen wir uns nicht dadurch irreführen lassen, daß schwedische Kernkraftwerke gegenwärtig zwei Opfer im Jahr auf dem Gewissen haben, während die klassischen Technologien jährlich 4000–5000 Menschen (durch Schadstoffemissionen) umbringen. Man muß auch den Umfang der Produkte und der Technologien, ihr Alter u.ä. miteinander vergleichen.
Aber laß uns annehmen, daß man auch solche Kernkraftwerke in Betrieb nehmen kann, deren Gefährlichkeit für die Bevölkerung und die Umwelt nur ganz minimal wäre, so daß alle Voraussetzungen der bisherigen klassischen Technologie überholt wären. Selbst dann ist es noch bedenklich, bei uns immer weitere Kernkraftwerke einzurichten, weil wir wissen, wie der technische Ausbau und Betrieb der Werke anderen Typs aussieht. Vor allem wissen wir, wie wenig man in vielen Betrieben auf die Arbeitssicherheit achtet, unter welchen hygienischen (d.h. hygienisch unzulänglichen) Bedingungen die Beschäftigten arbeiten. Wir wissen, daß sich in all den Jahren und Jahrzehnten betreffs der Verseuchung der weiteren Umgebung durch die Emission oder die Nebenprodukte einiger Betriebe nichts verbesserte, wodurch unzählige, im Betrieb beschäftigte Menschen leiden müssen. Und vor allem wissen wir, daß keine Bürgerinitiativen existieren, die es ermöglicht hätten, sich dagegen kollektiv wirksam zu wehren. Wir wissen, daß die Gewerkschaften in den Betrieben schon längst aufgehört haben, ihre ursprünglichen und grundlegenden Aufgaben zu erfüllen, und daß sie in ähnlichen Angelegenheiten nicht auf der Seite der Geschädigten stehen, sondern daß sie die Betriebsleitung verteidigen und politische Aufgaben erfüllen, über die die führenden Parteiorgane entscheiden.
Professor Janouch stieß einen Seufzer darüber aus, wieviel Irrationalität, Aberglaube und Hysterie mit dem Problem der Entsorgung des radioaktiven Abfalls verbunden ist. Das gilt wiederum für andere, aber nicht unsere Verhältnisse. Bei uns sind wir Zeugen einer ganz anderen Situation. Die Leute arbeiten in hygienisch unzulänglichen Betrieben, weil keine anderen in der Nähe sind oder weil sie dort mehr verdienen. Die Menschen wohnen in verseuchten Gebieten, weil sie schon daran gewöhnt sind oder weil sie sich mit einem Stück Land oder mit einem Häuschen zu sehr verbunden fühlen, für dessen Aufbau sie ihre besten Jahre und ihre Lebenskraft geopfert haben. Bei uns gibt es keinen Aberglauben und keine Hysterie, sondern im Gegenteil eine indifferente Haltung, Desinteresse und Resignation. Das alles wird durch Geheimhaltung oder Statistikverfälschung, durch Erschwerung der Vergleichsmöglichkeit und Verhinderung jedweder öffentlichen Debatte über ein derartiges Thema unterstützt. Die Uninformiertheit, das Bagatellisieren der Probleme und die Vertuschung der Wirklichkeit bringt mit sich, daß sich unsere Situation sehr von der Situation z.B. in Schweden unterscheidet, so daß es nur von der Mangelhaftigkeit des oberflächlichen Vergleichs zeugt, wenn Professor Janouch durch „einige Behauptungen und Standpunkte des Dokuments … in auffallender Weise an den Stil und die Argumente der verschiedensten Gegner der Kernenergie im Westen erinnert wird“. In unserem Kontext haben solche Argumente ein anderes Gewicht und andere Folgen. Die Menschen aus der Lethargie zu wecken (die bei weitem nicht nur auf Probleme der Kernenergie beschränkt bleibt), ist in jedem Fall notwendig. Bei uns fehlen jedoch die elementarsten Voraussetzungen für eine sachliche Diskussion und für ein kritisches Überprüfen des tatsächlichen Zustands und der geheimgehaltenen Projekte.
Professor Janouch ist sich allerdings sehr wohl vieler Begleitumstände bewußt, wodurch sich unsere Situation z.B. von der schwedischen unterscheidet. Er zeigt das zum Schluß seines Briefes, wenn er seine Übereinstimmung mit einer Reihe von Punkten des Dokuments zum Ausdruck bringt. Wir Laien stellen uns die Frage: Wenn wir nicht einmal die Prager Metro nach unseren Vorstellungen bauen durften und heute z.B. schweigend fahren müssen, weil man sein eigenes Wort nicht verstehen kann, wie sollen wir Vertrauen haben, daß es beim Ausbau der Kernkraftwerke besser sein wird? Die Metro ist dazu da, um von einem Ort schnell zum anderen Ende der Stadt zu gelangen; die Dezibel zieht man einfach nicht in Erwägung. Die Kernkraftwerke sind dazu da, um elektrische Energie zu liefern; was könnte die Planer dazu bringen, über die Beeinflussung der Umwelt, die Sicherheit des Betriebs u.ä. auch im Detail nachzudenken? Und was wird aus den tausenden und abertausenden Menschen werden, die in den Bergwerken und in riesigen Betrieben für die Erzverarbeitung beschäftigt sind? Das Dokument der Charta ’77 empfahl übrigens in keiner Weise die Ablehnung der Kernenergie, sondern wies auf die vertuschten Mängel und Probleme hin, die in Zukunft gefährlich anwachsen könnten (wie es uns aus anderen Bereichen gut bekannt ist).
Eine kleine Randbemerkung, die ein ziemlich törichtes Argument im Brief Janouchs betrifft, kann ich mir nicht verkneifen. Als er bemerkte, daß die Zahl 10 Jahre (die Halbzeit des radioaktiven Zerfals einiger beim Betrieb der Kernkraftwerke entstehender Isotope) „hauptsächlich zur Einschüchterung der kleinen Kinder und Laien bestimmt ist“, ließ er sich von der unkonkreten Art der Argumentation „ad hominem“ soweit anstecken, daß er in die weite Vergangenheit der Menschen griff, um zu demonstrieren, daß in Frankreich und Spanien in einigen Höhlen wunderschöne prähistorische Zeichnungen schon seit 30–40 000 Jahren erhalten sind. Und Professor Janouch fragt: „Will vielleicht jemand behaupten, daß heutige Ingenieure und Techniker weniger Möglichkeiten, Kenntnisse und Erfahrungen haben, als der Homo palaeolithicus, dem hochtechnische Mittel wie das Feuersteinmesser und das Beil zur Verfügung standen?“ Das Problem liegt darin, daß jener prähistorische Künstler durch puren Zufall eine Höhle zu seiner Wirkungsstätte wählte, in der dann seine Zeichnungen für eine so lange Zeit erhalten blieben; in keinem Falle tat er es deswegen, weil er uns als seinen so entfernten Verwandten eine Freude machen wollte, oder weil er wollte, daß sein Werk so lange erhalten bliebe. Mit Sicherheit haben zahlreiche andere, ihm ähnliche Künstler auch sehr viel gemalt, aber alles ist spurlos verschwunden. Heute haben Techniker und Ingenieure eine ganz konkrete Aufgabe vor sich, den Abfall so zu lagern, daß der das Leben und die Umwelt nicht mehr bedrohen kann. Sie können sich keine Analogie mit jenen prähistorischen Künstlern erlauben, daß es ihnen nur in einem Fall von Tausenden und dann noch durch puren Zufall gelingt. – Darüberhinaus liegt jedoch das eigentliche Problem anderswo. Es geht in erster Linie um die Kostspieligkeit der Entsorgung der hochradioaktiven Bestandteile aus den Produkten der Kernbetriebe. Da, wo keine ausreichend entwickelte Kontrolle garantiert wird, wird „hinters Licht geführt“. Und außerdem: Können wir darauf vertrauen, daß die Regierung genug Verantwortung gegenüber den zehn, zwanzig nächsten Generationen zeigen wird, wenn sie nicht einmal daran denkt, was in fünfzehn, zwanzig Jahren sein wird?
Die Charta ’77 hielt sich und hält sich selbstverständlich aufgrund ihres Gründungsdokuments nicht für kompetent, eine sachliche Stellungsnahme zur Frage der Inbetriebnahme der Kernkraftwerke abzugeben. Im Prinzip ging es vor allem um einen Versuch, diese Frage zum Gegenstand des öffentlichen Interesses, der öffentlichen Diskussion und der öffentlichen Kritik zu machen. In der ganzen Welt sind solche Diskussionen gang und gäbe (insofern dort entsprechende Fragen aktuell sind), nur im sozialistischen Block sind sie ausgeschlossen. Sogar, wenn es in den Vereinigten Staaten zu einer mittleren Katastrophe kommt, es dann ein ganz außergewöhnliches Interesse erweckt, und in vielen Ländern heftige Diskussionen entstehen, erwähnen es unsere Massenmedien nicht, obwohl es doch eine sehr passende Gelegenheit zur erneuten Kritik an der kapitalistischen Gesellschaftsordnung wäre, und das alles nur, damit keine Diskussion entsteht. Ein Versuch, dieses Schweigen zu durchbrechen, wird immer wertvoll und nützlich sein; es müssen doch endlich einmal öffentliche Interessen und Angelegenheiten zum Gegenstand der öffentlichen Diskussion gemacht werden. In diesem Punkt sind sich alle vernünftigen Menschen einig.
Professor Janouch begann – nach der beliebten Praxis liberaler und milder Rezensenten verschiedener Dissertationen und Diplomarbeiten, wie er selbst schreibt, – mit dem, was im Dokument nicht vorhanden ist. Ich schließe damit. In der Situation dieser sich hinschleppenden energiepolitischen Krise, in die unsere Welt geraten ist, ist es nötig, sich global und möglichst langfristig zu orientieren. In gewissem Sinn ist es absurd und höchst „ungerecht“, daß einige Länder von ihren Bodenschätzen profitieren, während andere trotz aller ihrer Bemühungen arm bleiben. Diese „Ungerechtigkeit“ der Natur (zu der allerdings noch zahlreiche andere Ungerechtigkeiten hinzukommen) kann freilich nicht sofort beseitigt und gutgemacht werden. Aber man darf sie wenigstens für die Zukunft nicht außer acht lassen. Die Zukunft sollte eine Energietechnologie haben, die praktisch allen zur Verfügung steht. – Zweitens: Die globale energiepolitische Situation muß so gelöst werden, daß die Umwelt auf der Erde gar nicht oder nur minimal bedroht wird. – Drittens: Es ist nötig, sich auf solche Energiequellen zu konzentrieren, deren Vorräte für eine so lange Zeit ausreichen, daß sie bis in die ferne Zukunft praktisch unerschöpflich bleiben. Das ist die zentrale Direktive; selbstverständlich kann und wird das nicht der einzige Weg sein. Die Kohlevorräte müssen begreiflicherweise ausgenützt werden, schon deshalb, weil es sich um ein Nebenprodukt der bio-geologischen Entwicklung handelt, in der so oder so ein Recycling stattfindet. Es geht jedoch darum, daß es auf rationele Weise geschieht, d.h. daß Kohle maximal z.B. als chemischer Grundstoff ausgenutzt und nicht bei einer energiemäßig nicht allzu wirksamen Verbrennung vergeudet wird. Dasselbe gilt auch für das Erdöl usw. Gegenwärtig gibt es zwei in die ferne Zukunft weisende Hauptperspektiven für die Lösung der Energieprobleme der Menschheit: Die eine wird sich an der thermonuklearen Energie, insbesondere an der Wasserstoffumwandlung in Helium orientieren; die andere wird sich an der Sonnenenergie orientieren (was im eigentlichen Sinn dieselbe Energie ist, wobei nur der riesige Reaktor sehr weit entfernt ist). Der Wasserstoff und die Sonnenstrahlung sind auf der Erde in Hülle und Fülle vorhanden. Die Orientierung an der Sonnenenergie wird, wie es scheint, die technisch besser anwendbare Methode sein. Übrigens hat die Biosphäre selbst schon längst vor unseren Überlegungen diesen Weg eingeschlagen. Andere Quellen brauchen nicht ausgeschlossen zu werden. Man muß sie aber als eine Ergänzung betrachten und die Betriebe, die mit ihnen arbeiten werden, einer sehr strengen Kontrolle unterziehen.
Was aber vielleicht das Wichtigste von allem ist, mit der Energie muß man sparsam umgehen. Und nicht bloß deshalb, weil es heute oder in der Zukunft an ihr mangelt oder mangeln wird. Ich würde sagen, daß es an erster Stelle um etwas anderes geht: Großer Energiebedarf, Energieverschwendung oder zu geringe Ausnutzung der Energiequellen sind Begleiterscheinungen der mangelhaften, primitiven, unproduktiven Arbeitsweise der Betriebe. In der Natur werden leistungsschwache Organismen mit zu großen Ansprüchen an Ernährung, Wärme usw. in ungünstigen Situationen zum Aussterben verurteilt. Das ist eine Warnung.
Dein
Ladislav Hejdánek
Prag, den 10.5.1979