- in: Ladislav Hejdánek, Wahrheit und Widerstand. Prager Briefe, transl. Milan Walter – Eva Bauer, München: P. Kirchheim, 1988, p. 232–238
Ist Emigration Verrat?
Lieber Freund,
wie ich sehe, kann ich noch einem weiteren, etwas persönlicheren Thema nicht ausweichen, das plötzlich sehr aktuell geworden ist. Du hast darauf verwiesen, daß genauso wie Mlynářs Fortgang in die Emigration auch Havels Rücktritt aus der Funktion des Sprechers der Charta ’77 mehr als nur ein individuelles Versagen und als eine Folge der Erschöpfung durch den anhaltenden Druck sei, daß er Vorbote eines sich verbreitenden Gefühls sei, nämlich, daß es keinen Sinn habe, mit dem Kopf gegen die Wand zu laufen. Zum Glück verwendest Du das Wort „vielleicht“; aber es hat mich doch geärgert, daß Du dann fragst, wie ein solcher „Verrat“ den moralischen Kredit der Charta ’77 und der Chartisten beeinflussen könne? Du kennst mich schon lang genug, um zu wissen, daß ich nicht dazu neige, die Probleme zu beschönigen oder in der Beurteilung der Probleme anderer strenger als der eigenen zu sein. Ich will nicht leugnen, daß ich weder von Mlynářs Entscheidung (mit der er übrigens nicht allein dasteht), das Land, in dem er etwas bedeutete, zu verlassen (obwohl ich mit ihm in einer Reihe von grundsätzlichen Fragen weder in der Vergangenheit noch jetzt einer Meinung war), wenig erbaut bin, noch von Havels Vorgehensweise schon während der Untersuchungshaft und anschließend von seinem Verhalten nach der Freilassung. Kurz: In keinem der beiden Fälle verspüre ich Lust, der Charta ’77 gewaltsam irgendwelche Pluspunkte gutzuschreiben. Ich gebe sogar zu, daß sich hier der Staatsapparat, insbesondere die Staatssicherheit schließlich einige Pluspunkte gutschreiben kann. Das kommt eben vor. Es gibt keinen wirklichen Kampf ohne Schrammen, es gibt keinen Krieg, nicht einmal einen siegreichen, ohne verlorene Schlachten, es gibt keine siegreichen Schlachten ohne Verluste – und ohne Fehler auch auf Seiten der Sieger. Trotzdem ist die Verwendung des Wortes „Verrat“ fehl am Platze, es ist entweder ein Ausdruck der Hysterie und des Fanatismus oder der Ausdruck von Komplexen und von schlechtem Gewissen.
Ich empfehle Dir, eine kleine statistische Übersicht nur so für Dich selbst und zur Probe aufzustellen: Wenn jemand beispielsweise über Havels Resignation verächtlich spricht, so prüfe nach, was er persönlich für die Durchsetzung der Menschen- und Bürgerrechte geleistet hat. Du wirst etwas Interessantes entdecken: Zu einer moralischen Verurteilung erdreisten sich meistens solche Menschen, die dafür nicht die notwendige moralische Berechtigung besitzen; und umgekehrt sind Menschen, die eine solche moralische Berechtigung haben, in ihren Beurteilungen sehr zurückhaltend. Im übrigen gibt es nur wenige, die das Recht besäßen, über Havel zu urteilen. Kümmern wir uns nicht um journalistische Verleumdungen; alles das, was Havel in den letzten Jahren geschrieben und unternommen hat, muß bei jedem einigermaßen urteilsfähigen Menschen nur Respekt erwecken. Das, was für die öfentliche Difamierung Václav Havels mißbraucht wurde, z.B. unter welchen Bedingungen er aufgewachsen ist, spricht in Wirklichkeit trotz des ersten Anscheins für ihn, weil sich nichts davon aus seinen Werken belegen läßt. Die Weitsicht und die innere Wahrhaftigkeit seines Blicks auf die Wirklichkeit läßt sich weder aus seiner sozialen Herkunft noch aus seiner früheren oder heutigen sozialen Stellung bei uns oder daraus, wie er in der Welt anerkannt wird, ableiten. Dummköpfe, die nichts Sachliches zu seinen Werken sagen können, greifen zu Erfindungen darüber, von wem er eigentlich bezahlt sei, wer die angeblich erfolglosen Aufführungen seiner Theaterstücke oder seine Veröffentlichungen finanziere, obwohl doch das Publikum an ihnen angeblich gar kein Interesse fände. Auch wenn es wahr wäre, daß niemand an dem Dramatiker Havel ein wirkliches Interesse hätte, wäre damit überhaupt nichts über die Qualität seiner Stücke gesagt; darüber hinaus stimmt es jedoch nicht einmal. Wir selbst haben Havels Stücke lange als ironische Kritik an den verkommenen Mechanismen der deformierten sozialistischen Gesellschaft verstanden (was so auch seine volle Berechtigung hätte). Erst die Aufführungen seiner Stücke im Ausland haben gezeigt, daß die Schärfe seines Blickes keineswegs geschwächt ist, wenn die Zuschauer oder Zuhörer sie auf ihre eigene Umwelt beziehen und wenn sie seine Stücke vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen mit der eigenen Gesellschaft begreifen, die sich in mancher Hinsicht von unserer Gesellschaft so sehr unterscheidet. Havel ist auch nicht im mindesten ein antisozialistischer Schriftsteller. Wer so etwas behaupten will, dokumentiert damit nur, daß er es nötig hat, den Sozialismus mit seinen eigenen Deformationen zu identifizieren, sondern auch, daß er in seiner Verblendung den Sozialismus sogar mit den Irrwegen und Absurditäten der modernen Gesellschaft schlechthin identifiziert, Absurditäten, die man sowohl im Westen wie im Osten finden kann. Kein Recht über Havel zu urteilen hat vor allem derjenige, der ihn nicht versteht, der das Wesen seines künstlerischen Schaffens nicht begriffen hat, der zum Wesentlichen seines Schaffens nicht durchgedrungen ist.
Havel ist vielmehr der Prototyp eines engagierten Künstlers, der sich nur mit hohem professionellem Niveau seines dramatischen Werks nicht zufrieden gibt, sondern der sich sowohl im Rahmen seines Schaffens als auch in seinem bürgerlichen Leben engagieren will. Gerade in dieser Hinsicht gehört er heute zu den hervorragendsten Repräsentanten der tschechischen Kultur. Mit seinen Meinungen braucht man nicht immer einverstanden zu sein, aber man muß sie ernst nehmen und darf sie nicht ignorieren oder nur ironisieren. Niemand kann ihm Mut und Offenheit absprechen. Wenn er die Funktion des Sprechers der Charta ’77 niedergelegt hat, dan nicht deshalb, weil er Angst bekommen oder über die Charta ’77 den Stab gebrochen hätte. Der Beweis dafür ist die Tatsache, daß er weiterhin Unterzeichner der Charta ’77 geblieben ist, und daß er nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft die Nachrichten dementiert hat, er habe seine grundsätzliche Haltung zur Charta ’77 revidiert und sich von ihren Grundsätzen distanziert. In seiner Situation war, glaube ich, gerade zu einem solchen Schritt viel mehr Mut vonnöten, als die meisten seiner Kritiker aufgebracht haben. Ich glaube nicht, daß jemand das Recht hat, Havels Entscheidung zu verurteilen, der z.B. die Charta ’77 überhaupt nicht unterschrieben hat und der jetzt auf einmal für die Chartisten als Kritiker sprechen möchte.
Natürlich geht es in der ganzen Angelegenheit nicht nur um Havels Person und um seinen konkreten Fall. Keiner von uns weiß, wie wir uns in äußerst gespannten Situationen verhalten werden, solange wir nicht selbst in eine solche Situation geraten und solange wir uns in dieser Lage nicht selbst gründlich kennen. Manche von uns ertragen mehr, andere weniger. Es ist ungerecht und unmenschlich, anderen Menschen schwere Lasten aufzuerlegen, die wir vielleicht selbst nicht bewältigen könnten. Demgegenüber ist im zivilisierten Leben nicht die einzige und wichtigste Tugend, viel „auszuhalten“. Das moderne Drama benötigt in erster Linie keine Autoren, die sich nicht einschüchtern oder betrügen lassen, sondern vor allem Autoren, die schreiben können. Wenn sich jemand in Lebensgefahr tapfer verhält, ist das menschlich groß und respektwürdig, aber es macht ihn weder zum größeren Dichter oder Mathematiker noch zum fähigeren Politiker usw.
Sicherlich ist es völlig verständlich, daß sich auch unter den Unterzeichnern der Charta ’77 Menschen finden lassen, die – obwohl sie durch die Unterzeichnung der Charta ’77 eine beträchtliche Portion an Mut gezeigt haben – kein anhaltendes Schikaniert-, Belästigt- und Verfolgtwerden ertragen können. Warum sollten wir für irgendeine ähnliche Schwäche kein Verständnis haben? Warum sollten wir für kranke, nervlich labile oder außerordentlich sensible Menschen kein Verständnis haben? Das bedeutet nicht, daß wir uns selbst vielleicht mit so etwas herausreden dürften. Und ebensowenig bedeutet es, daß wir über diese Ebene ganz hinwegsehen sollten. Uns muß bewußt werden, daß in dem Kampf, den wir führen, und in dem, wie bisher die Erfahrung gezeigt hat, höchst irreguläre Mittel gegen uns angewandt werden, jede Schwäche zweifellos eine große Belastung bedeutet. Bedenke nur die Rücksicht auf den Ehepartner und die Kinder; es ist manchmal sehr schwer, ja fast unmöglich, in einen riskanten Kampf zu gehen, wenn unser Ehemann oder unsere Ehefrau nicht zu uns hält. Eine große Verantwortung nehmen wir auch dadurch auf uns, daß wir unseren Kindern das Leben enorm erschweren. Auch unseren Nachbarn fallen wir zur Last, wenn sie mitten in der Nacht bei einer Hausdurchsuchung in unserer Wohnung assistieren müssen. Der Arbeitgeber wird ebenfalls nicht sehr begeistert sein, wenn wir von Zeit zu Zeit für zwei oder vier Tage bei der Polizei festgehalten werden. Wenn wir in der Familie einen alten oder kranken Menschen haben, müssen wir um seine Gesundheit bei gelegentlichen Hausdurchsuchungen und Ermittlungen fürchten.
Das alles haben wir nicht selbst verschuldet. Aber wie schön läßt sich die Tatsache ausnutzen, daß wir irgendwo wirklich einen Schnitzer gemacht haben! Deshalb ist es gut, wenn derjenige, der sich auf den Kampf um die Menschenrechte einläßt, eine möglichst reine Weste und möglichst wenig Schwachstellen hat. Wenn Václav Havel entschieden hat, daß er der Funktion des Sprechers der Charta ’77 nicht weiterhin nachkommen kann, weil er strafrechtlich verfolgt (und dadurch für die entscheidenden Augenblicke wesentlich geschwächt) wird, ist die Resignation sein volles Recht. Wir haben doch noch in guter Erinnerung, wie Negative, die man in Vaculíks Wohnung fand, gegen ihn mißbraucht wurden. Jeder Unterzeichner der Charta ’77 kann diffamiert, erpreßt und auch auf andere Weise unmöglich gemacht werden. Wir haben keine Gentlemen gegen uns, die Regeln des Anstands werden nicht beachtet (wenn wir auch manchmal anständigen Menschen begegnen). Wir müssen im Grunde auf alles vorbereitet sein denn wir wissen nicht, was alles noch kommen kann.
Eine Sache wird aber jedem, der bereit ist, in wenig nachzudenken, klar. Wer über unsere Gesellschaft, wer über den Sozialismus den Stab gebrochen hat, der wird sich im Verborgenen und Dunkeln aufhalten. Alle diejenigen, die begonnen haben, für die Menschen- und Bürgerrechte und für ihre Respektierung in unserem Land zu kämpfen, beweisen dadurch, daß sie ihre Hoffnung für dieses Land nicht aufgegeben haben. Für die Mehrheit von uns wäre das Verlassen der Tschechoslowakei eine gute und vorteilhafte private Lösung. Die Mehrheit von uns würde im Westen sicherlich gut leben können, könnte ihrer Arbeit nachgehen, unsere Kinder könnten unter normalen Bedingungen und nach ihren Fähigkeiten studieren, unser Lebensstandard würde erheblich steigen. Wenn wir bis auf wenige Ausnahmen nicht an die Emigration denken, dann deshalb, weil wir die Hoffnung auf Verbesserung der Verhältnisse, und zwar nicht nur privat für uns selbst, sondern für alle, nicht aufgegeben haben. Ich bin überzeugt, daß Havel sofort die Erlaubnis zur Auswanderung bekäme, wenn er um sie ersuchen würde. Es ist gar nicht ausgeschlossen, daß es ihm sogar angeboten wurde. Warum aber bleibt Havel hier? Warum ist er nach der Okkupation im August 1968 hiergeblieben? Warum sind auch wir hiergeblieben, die wir älter sind und in dem Fach, für das wir die Qualifikation haben und das wir lieben, seit dem Studienabschluß, bis auf die kurze Zeit nach dem Januar 1968, nicht arbeiten durften? Und warum sind alle die hiergeblieben, die nicht einmal zu Ende studieren durften und die von den Universitäten gleich nach dem Februar 1948 oder irgendwann später ausgeschlossen wurden? Warum sind alle die hiergeblieben, deren Familienmitglieder jahrelang inhaftiert waren, im Gefängnis gestorben oder gar hingerichtet worden sind? Und warum sind auch alle die hiergeblieben, die in den fünfziger Jahren und noch in den sechziger Jahren in Gefängnissen oder Arbeitslagern interniert waren, und das 10, 15 und 20 Jahre lang oder gar lebenslänglich?
Lassen sich denn wirklich alle diese Fälle durch den Hinweis auf ihre Erschöpfung und Schwäche „lösen“, durch den Hinweis darauf, daß sie in einem vorgerückten Alter sind, in dem es nicht leicht fällt, woanders neu anzufangen, durch den Hinweis auf ihren Besitz, den sie nicht hierlassen wollen (wir sind doch viele, die weder ein eigenes Haus oder Wochenendhaus noch ein Auto haben – es ist alles nur offizielle Propaganda, die sich immer nur einige bekanntere Persönlichkeiten, die alles das haben, aussucht) – oder gar durch den Hinweis darauf, daß sie hier angeblich ihre „Disidentenrolle“ für ausländisches Geld spielen? Jedem vernünftigen Menschen muß doch völlig klar sein, daß das alles Unsinn ist, oder daß es sich bestenfalls um vereinzelte Ausnahmefälle handelt (bis auf die zuletzt angeführte Möglichkeit, die der vollendete Unsinn ist). Wir alle bleiben deshalb hier, weil wir an ein besseres Schicksal dieses Landes glauben und weil wir den Eindruck haben, daß wir durch unseren Fortgang und sogar durch unser Schweigen oder unsere Gleichgültigkeit dieses bessere Schicksal hinausschieben und seine Erfüllung erschweren würden. Uns geht es nicht an erster Stelle um unsere eigene Person und unsere eigene Familie; manche halten uns für verrückt, daß wir „unnötig“ uns und unseren Kindern schaden. Wir haben mannigfaltige Risiken auf uns genommen, von denen wir nur einige einschätzen können. Nur ein niederträchtiger Lügner und ein Ehrabschneider kann trotz alledem behaupten, daß wir nur die eigenen Vorteile im Auge haben. Aber was wollen wir denn wirklich?
Hier werden wir uns allerdings bedeutend voneinander unterscheiden. Wer seine Hoffnung auf die politische Ebene (im engeren Sinne, d.h. auf die machtpolitische Ebene) setzt, ist entweder ein Phantast, oder er hält nicht lange durch. Eine normale politologische Analyse kann heute nichts anderes als düstere Aussichten zeigen. Machtpolitisch ist unsere Situation im Grunde blockiert. Deshalb können auch keine noch so schwerwiegenden politischen Fehler, nicht einmal totales Versagen oder gar „Verrat“ (wenn es dazu käme) an der Sache etwas zum Schlechten verändern. Die Situation ist auch so schlimm genug. Darüber machen sich die meisten von uns keine Illusionen; und irgendwelche billigen Illusionen wollen wir auch nicht verbreiten. Wenn ich aber für mich selbst sprechen soll (was in diesem Falle wohl am besten ist), dann ist irgendeine politische Aktion (im engeren Sinne, d.h. eine direkte Beeinflussung der machtpolitischen Situation) nicht mein Hauptziel. Ich befürchte nämlich, daß es in der gegebenen Situation bloß einen Austausch von Personen bedeuten würde, und zudem wäre es schwer zu garantieren, daß eine Wendung zum Besseren eintreten würde. Das gesellschaftliche Leben (und um so eher das individuelle, persönliche Leben) ist jedoch durch andere Motive bestimmt als durch irgendeinen äußeren Druck, oder es wird zumindest auch durch andere äußere Motive bestimmt. Auch wenn die Hoffnung auf die Zukunft dieses Landes, auf die Zukunft Europas und der ganzen Welt, der ganzen Menschheit nicht auf irgendwelchen günstigen objektiven Indikatoren begründet sein kann (sofern es sich jedoch um größere Zusammenhänge und um weitere historische Perspektiven handelt, habe ich den Eindruck, daß sich auch solche objektiven Indikatoren aufdecken ließen), die entscheidende Ebene, auf der über die Zukunft des Volkes, der Zivilisation und heute auch der ganzen Menschheit entschieden wird, ist der Bereich der persönlichen Verantwortung, der Lebensorientierung und der festen geistigen, moralischen und gedanklichen Verankerung. Verantwortungsbewußt kann sich nur der Mensch entscheiden, der seine Epoche, seine konkrete Situation und sich selbst begreift. Ein Mensch, der die Täuschungen, Selbsttäuschungen und Vorurteile seiner Zeit und seiner eigenen Gesellschaft durchschauen kann; ein Mensch, der genau und nüchtern denken kann; und auch derjenige, der nicht im Schlepptau des Augenblicks lebt, der geduldig warten kann und heute schon aus der Zukunft lebt, auf die er hofft und in die er seine ganze Zuversicht setzt. Und für all das ist für ihn die unbedingte Offenheit unerläßlich, genauso wie die tiefe Loyalität zur Wahrheit, in deren Licht er alles um sich, auch sich selbst und seine Nächsten, Freunde und alle die sehen will, mit denen er sich auf dem gleichen Weg und in der gleichen Richtung bewegt.
Nach äußeren Stützen, nach irgendwelchen globalen Trends, historischem Verharren, nach dem unaufhaltsamen und sich nie rückwärts drehenden Rad der Weltgeschichte usw. Ausschau zu halten, kann manchmal völlig perspektivelos oder sonst trügerisch sein. Alle wesentlichen Schritte vorwärts und höher, auf eine höhere Ebene, waren imer unwahrscheinlich – wie im übrigen das ganze Leben unwahrscheinlich ist. Wahrscheinlich sind nur Täuschungen und Selbsttäuschungen, Irrtümer und Lügen – höchst unwahrscheinlich ist die Wahrheit. Aber gerade von dieser äußerst unwahrscheinlichen Wahrheit hängt letztlich alles ab. Unser aller Hoffnung, die wir in die Machtlosigkeit und Ausweglosigkeit gedrängt werden, ist die Wahrheit. Denjenigen, die uns (und viele weitere, letztlich eigentlich alle, auch sich selbst) bedrohen und vernichten, können wir niemals in ihrer Machtausstattung, ihrem Propagandaapparat und ihrer vielfachen materiellen Absicherung gleichkommen. Wir haben in unseren Händen und in unseren Entscheidungen nicht einmal unsere eigene Rettung, unsere persönliche, private Zukunft. Aber dort, wo wir uns in den Dienst der Wahrheit stellen, existieren nur lokale und kurzfristige Niederlagen, während das Schicksal derjenigen, die gegen die Wahrheit ankämpfen und sie fürchten müssen, besiegelt ist. Und jetzt kann ich endlich auf Deine zweite, allgemeinere Frage antworten: Inwiefern können irgendwelche Fehler, irgendein Versagen oder eventuelle Fälle von „Verrat“ den moralischen Kredit der Charta ’77 und der Chartisten beinflusen? Die Charta ’77 und die Chartisten wären in dem Augenblick verloren, in dem sie sich in erster Linie nur noch um ihren eigenen moralischen Kredit kümmern würden. Die Charta ’77 hat nur Sinn, solange sie nicht anfängt, sich nur um sich und um ihren Ruf, um die Unbescholtenheit ihrer Unterzeichner und ihren guten Ruf zu sorgen. In der gegebenen Situation fält und steht die Charta ’77 mit ihrer Loyalität zur Wahrheit und mit ihrer Solidarität zu all denjenigen, die trotz persönlicher Opfer in den Dienst der Wahrheit getreten sind. Konkret bedeutet das, daß die Charta ’77 ihre Funktion ihre meinem Urteil nach große Mission erfüllt, solange sie nicht aufhört zu zeigen, wie die Dinge wirklich liegen, und solange sie nicht aufhört, jede Lüge, Heimtücke, Gehässigkeit und Rachsucht, aber auch Dummheit und Beschränktheit ins Licht der Wahrheit zu rücken. Und solange der Wahrheit ein einziger, letzter Unterzeichner treu bleibt, oder gar nur ein einziger Mensch in unserem Lande, der die Charta ’77 nicht einmal unterzeichnet hat, aber sie doch ernst nimmt, solange ist die Sache, für die die Charta ’77 Partei ergriffen hat, noch nicht verloren. Im Kampf zwischen der absoluten Macht und Gewalt auf der einen Seite und der machtpolitisch schwachen, fast wehrlosen Wahrheit auf der anderen Seite siegt immer wieder die Wahrheit (auch wenn man manchmal auf ihren Sieg geduldig warten muß), wie es vor 44 Jahren Rádl geschrieben hat:
„Alle Menschen sind verpflichtet, für die Gerechtigkeit und die Wahrheit zu kämpfen. Die Welt wird jedoch im Namen der Wahrheit, keineswegs im Namen der Gewalt befreit werden.“
Dein
Ladislav Hejdánek