- in: Ladislav Hejdánek, Wahrheit und Widerstand. Prager Briefe, transl. Milan Walter – Eva Bauer, München: P. Kirchheim, 1988, p. 247–254
Nation – Territorium oder Tradition
Lieber Freund,
wiederum habe ich ziemlich lange gezögert, ob ich in einem weiteren schon dem vierten Jahr mit dem Schreiben meiner Briefe fortfahren sol, die – wie es schon zu einer festen Gewohnheit geworden ist – nicht nur Du liest. Der Grund ist nicht, daß es nicht genug Themen gäbe. Du selbst nennst ja einige Themen, von denen mir das Problem der sowjetischen Militärintervention in Afghanistan (und aller Reaktionen, die sie in der Welt hervorgerufen hat) äußerst ernsthaft erscheint. Ernstzunehmen ist aber auch die Frage nach der Auffassung der Nation, die in unserer Gemeinschaft durch Abhandlungen von Petr Pithart ausgelöst wurde, die im letzten Jahr in Abschriften kursierten und die dann in der 59. Nummer der Zeitschrift „Svědectví“ als „Versuch über das Vaterland: Bolzano, Rádl und wir im Jahre 1979“ abgedruckt wurden, und auf die im Dezember auch Professor Václav Černý reagierte. Ich zögerte vielmehr deswegen, weil ich ein inneres Bedürfnis verspürte, eine größere wissenschaftliche Arbeit in Angriff zu nehmen nach einigen Jahren, in denen ich dazu nicht nur wegen der bloßen äußeren Umstände keine Möglichkeit gehabt habe, sondern auch, weil ich große Teile meiner Freizeit nach meiner freien Entscheidung anderen Dingen gewidmet habe. Ich habe mich entschieden, in den nächsten Monaten und Jahren meine Aufmerksamkeit auf die Arbeit in meinem ureigenen Fach zu konzentrieren; deshalb hatte ich vor, alles, was mich davon ablenken könnte, soweit wie möglich einzuschränken.
Aber es ist eigentlich eine ziemlich wichtige philosophische Frage: Wird ein Philosoph von seiner ureigenen Arbeit abgelenkt, wenn er sich an die Lösung der aktuellen Probleme des alltäglichen individuellen und gesellschaftlichen Lebens macht? Ich habe immer angenommen, daß Heideggers fragwürdiges politisches Engagement nach der Machtübernahme Hitlers im Jahre 1933 auch ein philosophischer Fehler gewesen sei, und keinesfalls ein bloßes bürgerliches Versagen oder ein menschlicher Fehltritt. Die philosophische Orientierung in der Welt ist nötig und vor allem auch durch die Orientierung in den verschiedensten konkreten menschlichen Situationen möglich. Ich meine damit nicht nur, daß sich die philosophische Orientierung auch im praktischen täglichen Leben bewähren soll, sondern daß ohne eine richtige Orientierung auf der Ebene der menschlichen Alltäglichkeit und auf der Ebene der Teilnahme an der gesellschaftlichen Praxis die philosophische Orientierung keine genügend feste Verankerung findet und im besten Falle irgendwie in der Luft hängen bleibt (meistens verkommt sie und wird zu einer Art Ideologie oder wenigstens zum Deckmantel für die Verschleierung der wahren Wirklichkeit). Philosophie ist durch ihr Wesen, ihre „Wesensbestimmung“ eine Reflexion, und jede Reflexion ist eine Reflexion irgendeiner Praxis. Deshalb gilt: wie die Praxis, so die Reflexion. Die philosophische Reflexion vermag jedoch einen unerläßlichen kritischen Abstand von der Praxis zu bewahren, deren Reflexion sie ist (wenn sie genug Mühe darauf verwendet); sie ist aber nicht fähig, mehr zu tun, als Uneinigkeit und meinetwegen Widersprüchlichkeit der konkreten Praxis zu zeigen, Möglichkeiten der Integritätsvertiefung des individuellen und gesellschaftlichen Lebens anzudeuten, weitläufigere Konsequenzen der Orientierung zu untersuchen, zu der wir uns entschlossen haben u.ä. Lebenswichtige Entscheidungen treffen wir in konkreten Lebenssituationen, nicht im philosophischen Nachsinnen. Dieses kann für uns nur Hilfe, Stütze, Licht sein, aber es kann uns keinen wirklichen Lebenseinsatz ersetzen.
Die philosophische (oder eher quasi-philosophische) Reflexion kann jedoch auch manchmal darum bemüht sein, die Verantwortung für unsere menschlich konkreten Entscheidungen auf mannigfaltige Fakten, auf die faktischen Tatsachen abzuwälzen, d.h. darauf, was auf der Welt schon vor uns und unabhängig von uns gegeben ist. Ich meine, daß sich die wirkliche Philosophie dagegen wehren muß, und daß sie diesen „Fauxpas“ in jedem Einzelfall ins grelle Licht rücken und ablehnen muß. So wurde es für mich zu einer Notwendigkeit, mich gegenüber einigen Thesen von Professor Václav Černý aus seinem Text „Zur Problematik der Charta und über eine Nummer der Zeitschrift Svědectví“ abzugrenzen. Die entscheidende Frage ist hier in der Tat philosophisch: es geht um die Auffassung der Nation. Professor Černý beurteilt nicht nur Überlegungen von Petr Pithart kritisch und lehnt sie ab, sondern auch die Studie von Jan Patočka „Das Dilemma in unserem Nationalprogramm – Jungmann und Bolzano“. Ich kann verstehen, daß der vierseitige Text für Professor Černý ein hinreichender Ablehnungsgrund der Überlegungen von Pithart zu sein schien. Jan Patočka gegenüber hatte er allerdings zweifellos die Pflicht einer detaillierten Begründung solcher Urteile wie: „Patočkas Beitrag zur Bewertung des doppelten tschechischen Nationalprogramms ist das Ergebnis von abstraktem Räsonieren, beinhaltet eine Reihe von schwerwiegenden Irrtümern, die sich aus einer unvollständigen historischen Analyse ergeben, gegebenenfalls aus Lücken und Vertuschungen historischer Fakten“ und: „Er bringt in den Prozeß einer neuen Konzeption unseres Nationalschicksals … eine hoffnungslose Verwirrung, genau genommen eine nationale Ideenarmut ein“.
Ich habe nicht die Absicht, hier Petr Pithart zu verteidigen. Ihm gegenüber habe ich ganz andere Vorbehalte, über die ich übrigens in meinem dritten Brief vom Vorjahr geschrieben habe und die ich (mit einer geringfügigen Erweiterung) nur erneut wiederholen müßte. Aber in der Sache, auf die vor allem Professor Černý eingeht, stimme ich Pithart im Groben bei (auch wenn er sowohl Bolzanos als auch Rádls Auffassung sehr verflacht und oberflächlich behandelt). Ich habe auch nicht vor, hier meinen Lehrer, Professor Patočka, zu verteidigen. Ich war mit ihm zwar in mancher Hinsicht nicht einig, aber seine erwähnte Studie über das Dilemma im tschechischen Nationalprogramm halte ich für eine der besten aus dem Buch „Über den Sinn der Gegenwart“. Ich habe Patočkas Auffassung begrüßt, weil sie die Konzeption von Emanuel Rádl erneuerte, über die hinaus ich in der tschechischen geistigen Tradition nichts Tieferes, Durchdachteres, philosophisch Bedeutsameres und national Perspektivenreicheres kenne. Ich werde lieber meine ganze Aufmerksamkeit auf die Auffassung von Professor Václav Černý richten, selbst wenn sie nur bruchstückhaft dargeboten ist. Das Thema ist so wichtig, daß es gut wäre, z.B. einen Sammelband ausführlicher Beiträge vorzubereiten, in dem man die Reproduktion der Gedanken von Bolzano, Jungmann, Masaryk, Rádl und eventuell auch anderer einer Überprüfung unterziehen könnte, und das sowohl in der Darlegung von Patočka und Pithart, als auch in der Darlegung von Professor Černý. Ich werde nur einen Punkt erwähnen, nämlich Černýs Relativieren und direktes Bagatellisieren der Konzeption von Rádl.
Professor Černý räumt ein: „Es ist zwar wahr, daß Rádl vom Stammespatriotismus (sprachlichen Patriotismus) zum ethischen Patriotismus zurückkehrt.“, „aber er hat es während der ersten Republik getan“, so unterstreicht Černý, „gerade in der Zeit, als der sprachliche Nationalismus mit großem Erfolg in einem über hundert Jahre gehenden Zyklus den Höhepunkt seiner Wirkung erreichte und der Nationalstaat eine vollendete Realität wurde.“ Nach Professor Černý ging es bei Rádl „streng genommen“ um „eine proponierte Lösung Masaryks, wie Rádl überhaupt ein Masarykanhänger ist, der philosophisch bedeutsamste Repräsentant des Masarykismus.“ Und deshalb sei Rádl auch kein „Einzelgänger“, wie uns Pithart einzureden versuche.
Emanuel Rádl fühlte sich allerdings als Schüler von Masaryk und bekannte sich zu Masaryks Linie. Dennoch schreibt er im Vorwort zum „Krieg der Tschechen mit den Deutschen“ aus dem Jahr 1920: „Ich stehe mit meinen Ansichten mutterseelenallein da. Keine politische Partei, keine literarische Gruppe, kein Einzelner schließt sich ihnen öffentlich an. Man hält sie für ein Paradoxon. Wen die tschechische öfentliche Meinung für mich ein Kriterium ihrer Richtigkeit wäre, könnte ich dieses Buch nicht schreiben. Und doch weiß ich, daß ich recht habe.“ Es ist also nicht Pithart, der uns „einzureden“ versucht, daß Rádl ein „Einzelgänger“ war. Diese Unwahrheit muß man Rádl selbst, dem „philosophisch bedeutendsten Repräsentanten des Masarykismus“ nachweisen. Und was seinen Masarykismus in der Auffassung der Nation angeht, äußerte sich Rádl auch ganz anders, als es im Rahmen der „proponierten Lösung Masaryks“ scheinen könnte, die Professor Černý so einfach bei Rádl zu finden glaubt. Nach Rádl „schwankt Masaryk zwischen der Mehrheits- und der vertragsmäßigen Demokratieauffassung; er spürt die Vorteile der vertragsmäßigen Auffassung, aber in der Praxis läßt er sich von einer Auffassung leiten, die auf der Philosophie Herders basiert.“ „In der Auffassung des tschechischen Staates und der tschechischen Nation steht Masaryk also hinter der Ideologie Herders. … Als Nachfolger Herders steht Masaryk dem Panslavismus und Pangermanismus und auch dem Marxismus näher als der westlichen Lehre vom gesellschaftlichen Vertrag. Masaryks Abhängigkeit von Herder und der deutschen Konzeption des Staates erklärt, woher es kommt, daß die Mehrzahl seiner Anhänger nach dem Krieg dem Nationalismus verfallen ist, und daß sie nicht wissen, wie sie davon loskommen sollen.“ Nach Rádl „zeigen bisherige Erfahrungen, daß sich die Idee des sogenannten Nationalstaates (d.h. des Stammesstaates) bei uns nicht gerecht durchführen läßt“. „Ich glaube fest, daß wir am Ende einer historischen Epoche angelangt sind, in der diese Welt mit ihren Naturbedingungen herrschte, wo die Moral durch eine bloße Durchsetzung angeborener Eigenschaften ersetzt wird und die Freiheit mit einer bloßen Entfaltung angeborener Anlagen verwechselt wird, und wo der Rassen-, Stammes- und Staatskult herrscht.“ „Das Verhältnis zwischen den Tschechen und den Deutschen ist ein genügend ernsthaftes Phänomen, um durch seine Analyse zum Verständnis dieser großen Krise gelangen zu können, in der sich die Menschheit heute befindet. Die Lösung dieses Problems wird über die Zukunft nicht nur der Tschechoslowakischen Republik, sondern Mittel- und Osteuropas überhaupt entscheiden.“
Rádl selbst war also keinesfalls der Meinung, daß er nur die „proponierte Lösung Masaryks“ weiterführe und daß er „in seiner Auffassung der Nation ein Masaryk-Anhänger“ bleibe. Im Gegenteil, er hat sich von Masaryk (damals dem Präsidenten der Republik) ziemlich deutlich distanziert. Es scheint also, daß der Vorwurf – den er zu Unrecht Jan Patocka macht – in vollem Maß Professor Černý trifft: Es ist eine unvollständige historische Analyse, es sind Lücken und Vertuschungen historischer Fakten und daraus folgende schwerwiegende Irrtümer.
Professor Černý hält Pithart und auch Patočka „nationale Ideenarmut“ vor. Was stellt er selbst dagegen? Chaos und Ideenarmut sieht und nennt er in einer Reihe mit der „Gleichgültigkeit gegenüber der natürlichen und angeborenen Gegebenheit der Nation“. Das ist äußerst merkwürdig. Sind vielleicht in den Augen von Professor Černý „Natürlichkeit und angeborene Eigenschaften“ der Nation etwas Ideenreiches oder wenigstens Ideenreicheres? Meiner Meinung nach wird Ideenarmut gerade dort erreicht, wo die Realität der Nation auf das abgeleitet wird, was dem Menschen als „natürlich und angeboren“ gegeben wurde. Professor Černý interpretiert Jungmann als den Repräsentanten einer „neuen Konzeption der Nation“, die das Volk „in erster Linie durch die Sprache als den höchsten Wert“ definiert, wobei „die Sprache eine angeborene, natürliche und naturgemäße Realität ist“. „Bolzano schwindet aus dem kulturellen Unterbewußtsein beider Völker unseres Raumes, der Tschechen und der Deutschen, einfach aus dem Grunde, daß er überholt ist, verdrängt durch die Entwicklungsnotwendigkeit und den allgemeinen Wandel der kulturellen Bezüge“; „es ziemt sich durchaus nicht, darin eine Verdunkelung zu sehen“. Es ist einfach eine Entwicklung, „ein unaufhörliches Anwachsen und entzückendes Aufblühen, ein Sprießen der sprachlichen Veredelung in Triebe und Sprößlinge des Programms der nationalen physischen Kraft, des sozialen Wachstums, der politischen Autonomie“; und „am Ende dieser Entwicklung stehen Masaryk und die Idee oder das Programm des einsprachigen Volkes, das sich durch den eigenen Staat realisiert“. Auf diese Linie stellt sich also auch Professor Černý selbst, und in ihrem Namen lehnt er Bolzano, Patočka und Pithart ab – und insgeheim und auch im besonderen Maße Emanuel Rádl.
Eine rassistische Auffassung der Nation hatte es da einfacher: Ein rassistischer Charakter ex definitione wurde als naturgemäß und angeboren angenommen. Aber wie will uns Professor Černý davon überzeugen, daß „die Sprache eine angeborene, natürliche und naturgemäße Realität ist“? Die Menschen werden als sprachlose, d.h. nicht sprechende Wesen geboren, als Wesen ohne Sprache, ohne Sprechen, nur mit der Sprach- und Sprechfähigkeit. Die Sprache ist eine soziale und kulturelle Realität, in die der Mensch erst eindringen muß, die er sich aneignen, die er erlernen muß: Der sprachlose Säugling muß erst sprechen lernen. Er ist mit keiner natürlichen oder angeborenen Begabung für eine bestimmte konkrete Sprache, eine bestimmte Nationalsprache ausgestattet; ein völlig rassenfremdes Kleinkind (z.B. ein schwarzes oder ein indianisches) kann genauso gut eine der europäischen „Sprachen“ erlernen und beherrschen, und wir sehen darin nichts „Unnatürliches“ (wenn wir die sonstigen ungewöhnlichen Umstände beiseite lassen, die eine solche Situation hervorgerufen haben). Diese Tatsache unterstreicht übrigens auch der Terminus „Renegat“, der voll von moralischer Verachtung ist. Hat vielleicht jemals jemand etwas davon gehört, daß einer seiner langen Nase oder seinen roten Haaren untreu geworden ist, die er in der Tat von der Natur bekommen hat, die ihm wirklich angeboren wurden? Die Vorstellung, daß die Natur selbst den Menschen mit der Muttersprache beschenkt, ist einfach unhaltbar. Will sie Professor Černý trotzdem halten? In seinem Text geht es nicht nur um die Interpretation Jungmanns und seines Lehrers Herder, auch um die Interpretation der wichtigsten Entwicklungsströmung der nationalen Ideologie; er selbst bekennt sich allgemein und im weiten Sinne zu dieser Strömung und verteidigt sie (wenn auch mit der merkwürdigen Argumentation „durch die Entwicklungsnotwendigkeit“), aber er führt nirgendwo ausdrücklich die Auffassung an, daß die Sprache (und ergo die Nation) durch die Natur selbst gegeben ist. Wenn er jedoch diese Vorstellung nicht teilt, warum hat er sich von ihr nicht distanziert?
Laß uns dann noch Černýs Argumentation „durch die Entwicklungsnotwendigkeit“ besonders beachten. Nach ihm verschwindet Bolzano aus dem kulturellen Unterbewußtsein beider Völker unseres Raumes, der Tschechen und der Deutschen, „einfach aus dem Grunde, daß er überholt, durch die Entwicklungsnotwendigkeit und allgemeinen Wechsel der kulturellen Bezüge verdrängt ist“. In dieser Formulierung spiegelt sich außerordentlich ausdrucksvoll die „Ideenarmut“ der Konzeption Professor Černýs wieder, die weit mehr als etwas anderes „… ein hoffungsloses Chaos“ in die Betrachtung über unser „Nationalschicksal bringt“. Schon die terminologische Ungenauigkeit: Professor Černý spricht über die Beweggründe dort, wo er mit der Entwicklungsnotwendigkeit argumentiert. Aber die Entwicklung befolgt doch keine Beweggründe, dort entscheiden die Ursachen (so gilt es wenigstens im gewöhnlichen Sinne, so ist die gültige terminologische Konvention). Nichtsdestoweniger, von was für einer „Entwicklung“ können wir dort sprechen, wo es um menschliche Ansichten, Gedanken, Ideen, Konzeptionen geht? Ist das nicht ein eklatanter Beweis nicht nur einer gedanklichen, sondern direkt einer charakterlichen Minderwertigkeit, wenn sich jemand in seinen Ansichten an der „Entwicklungsnotwendigkeit“ oder am „allgemeinen Wechsel der kulturellen Bezüge“ orientiert? Wo bleibt hier die Verantwortung des menschlichen Individuums, wo hat hier die Wahrheit ihren Platz, der jeder Mensch seine Kräfte widmen und der er sein ganzes Leben und auch sein Denken weihen soll? Es gibt gewiß Gedanken, die sich eher durch „eine Ansteckung“ als durch eine Begründung verbreiten; so war es auch in der menschlichen Prähistorie, und irgendwo an der Peripherie der gegenwärtigen Kultur und Bildung halten sich noch hier und da Relikte dieses Zustandes. Wir können jedoch diesem überlebten gedanklichen Diluvium keinen Platz in unseren heutigen Betrachtungen, in unserer gedanklichen, moralischen und geistigen Orientierung einräumen. Noch einmal im Rückblick, wenn schon alles wie „vor uns“ gegeben und fertig liegt, dürfen wir das, was geschehen ist, „quid factum est“, ohne den Zusammenhang mit gedanklichen, moralischen und geistigen Kämpfen der Zeit sehen. Und wir dürfen nicht infolge falscher Objektivierung von „Entwicklungsnotwendigkeiten“, von „allgemeinen Wechseln der kulturellen Bezüge“ u.ä. wie von Instanzen sprechen, die letztendlich über das Ergebnis zu entscheiden hatten, und die man heute „einfach“ zur Kenntnis nehmen muß. Genauso, wie die damaligen Zeitgenossen nicht vor der Aufgabe standen, irgendeine „Entwicklung“ zu vestehen und sich ihr anzupassen, sondern vor einer moralischen und geistigen Verpflichtung standen, sich in der gegebenen Situation für die Wahrheit und gegen die Lüge, für die Gerechtigkeit und gegen das Unrecht, für die Freiheit und gegen die Versklavung zu entscheiden – soll das alles schon irgendwelche „Entwicklungs“-Chancen haben oder nicht -, so müssen wir auch heute Ereignisse aller Art, zu denen es in der Vergangenheit kam, aus der Sicht unserer heutigen Verantwortung beurteilen und uns für sie oder gegen sie entscheiden, d.h. an sie anknüpfen, aus ihnen Material für den Aufbau unseres heutigen Lebens machen, sie als Grundlage unserer heutigen Entscheidung wählen, oder im Gegenteil nicht an sie anknüpfen, uns kritisch von ihnen distanzieren, „die Toten ihre Toten selbst begraben“ lassen, nichts von ihnen für unseren heutigen Bedarf benutzen und uns an ganz anderen Traditionen orientieren (weil ohne Traditionen und ohne Anknüpfungen etwas Heutiges und Neues überhaupt nicht möglich ist). In diesem Sinne ist kein moralischer, geistiger und auch kein gedanklicher Kampf jemals definitiv ausgetragen, sondern wir müssen ihn noch nach Jahrhunderten und Jahrtausenden antreten und uns auf die eine oder die andere Seite stellen – oder eine Möglichkeit finden, wie man sich neu orientiert, wie man einen ganz anderen Zugang und eine andere Lösung findet, und so eigentlich den ganzen Kampf neu eröffnen und durch Bildung einer neuen Form aufs neue gewinnen. Wie unsinnig auch immer es in den Ohren der gedanklich irregeführten Historiker klingen mag, es ist der einzige, wirklich historische Zugang zur Vergangenheit. Alles andere bleibt in den Bahnen des gegenständlichen, objektivierenden Denkens stecken, das sich am Äußeren, an der Oberfläche orientiert, aber nicht fähig ist, zum Kern der Tatsachen durchzudringen.
Für unsere Frage hat das einige ganz konkrete Folgen: Die Tatsache, daß ich als Kind tschechischer Eltern geboren wurde, verpflichtet mich zu nichts anderem als zu der Entscheidung, ob ich Tscheche werde und es auch bleibe oder nicht, ob ich in der Stadt oder in dem Dorf bleibe, wo ich geboren wurde und aufgewachsen bin, oder ob ich woandershin ziehe, ob ich weiterhin in meiner Heimat leben werde oder mir eine neue Heimat aussuche usw. Die Tatsache, daß ich in Prag, in Böhmen und in einer tschechischen Familie geboren wurde, ist rein zufällig und ist nicht von allerletzter Bedeutung. Wenn ich aus Prag wegziehen will, wenn ich mein Land verlassen und irgendwo anders in der Welt anfangen will, wenn ich bei einem anderen Volk heimisch werden will und auf eine andere Art und Weise und in einer anderen Sprache denken will, so habe ich das volle Recht dazu, aber ich kann an dieser Stelle nicht mehr gegen einen Zufall einen anderen Zufall stellen (weil es menschenunwürdig ist, sein Leben auf Zufällen zu bauen), sondern ich muß mir selbst und auch den anderen Menschen Gründe für meine Entscheidung formulieren. Und diese Gründe überschreiten dann schon auf eine fundamentale Art und Weise die Ebene reiner Zufälle, aber sie fügen sich in breitere, sinnvolle Kontexte ein, sie respektieren eine gewisse Ordnung und nehmen sie an, sie anerkennen die Gültigkeit gewisser Kriterien (die nicht nur reine „Fakten“ sind) usw. Dann besonders setzen sie sich kritischen Beurteilungen aus, ob sie als Gründe bestehen oder nicht. Die „Entwicklungsnotwendigkeiten“ oder die „allgemeinen Wechsel der kulturellen Bezüge“ müssen selbstverständlich in ihrer Faktizität respektiert werden, (die jedoch nachgeprüft sein muß, weil sie auch fiktiv sein könnte), aber sie können keine Ausrede bei unserer Entscheidung werden. Wenn überhaupt etwas Ähnliches wie ein Nationalcharakter existiert, kann und muß er konstatiert werden, aber er kann uns auf keinen Fall von den Pflichten entbinden, zu handeln und uns in eigener, privater Verantwortung zu entscheiden, und zwar ohne daß wir uns vor uns selbst und auch vor den anderen hinter einem wie auch immer denkbaren Nationalcharakterzug verstecken könnten. In einer neuen Situation kann nicht nur der Einzelne, sondern die ganze Nation den Charakter durchgreifend ändern: Das hängt insbesondere davon ab, ob ihre Angehörigen den bisherigen Standard als ihren eigenen annehmen oder ob sie sich entscheiden, nach neuen, höheren, anspruchsvolleren Kriterien zu handeln. Jene „neue Situation“ wird zu einer wirklich neuen Situation eigentlich erst durch diese Entscheidung, sie ist ihre Folge, keineswegs ihre Ursache, und schon gar nicht ihr bloßer Begleitumstand.
Zum Schluß möchte ich noch einen letzten Einwand gegen Professor Černý anführen. Er wirft nicht nur Pithart, sondern angeblich auch der Hausredaktion der erwähnten Nummer der „Svědectví“ vor, daß sie „weder den Standpunkt noch auch die Meinung der ganzen chartistischen Bewegung zum Ausdruck bringt“. Meiner Ansicht nach existiert so etwas auch gar nicht: Die Charta ’77 repräsentiert die gemeinsame Plattform von Menschen und Gruppen mit unterschiedlichsten Standpunkten und vielfältigen Ansichten.
Dein
Ladislav Hejdánek
Prag, den 24.1.1980