Philosophische Seminare und „Wissenschaftlicher Sozialismus“
| docx | pdf | html ◆ article, German, origin: 10. 4. 1980
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  • Dopis příteli č. 61

  • Philosophische Seminare und „Wissenschaftlicher Sozialismus“

    Lieber Freund,

    selbstverständlich lade ich Dich sowohl zu der Eröffnungsvorlesung der Vortragsserie und dem sich anschließenden Gespräch über „die Philosophie unserer Zeit“, wie auch zu allen folgenden Abenden (falls welche folgen, was nicht nur von mir abhängt) herzlich ein. In Deinem Fall habe ich gar keine Bedenken. Denn Du gehörst ja auch zu den jungen Leuten, die nichts zu verlieren haben, weil neben anderen auch Dir das Recht entzogen wurde, das Studium fortzusetzen (und das zu Anfang des zweiten Studienjahres, was besonders merkwürdig ist, da Du das zweite Semester ordnungsgemäß abgeschlossen hast). Vielleicht ist es verständlich, wenn ich in anderen Fällen ein wenig zögere und insbesondere Hochschulstudenten vor der Teilnahme warne, weil wir wirklich nicht wissen, wie sich die ganze Sache entwickelt.

    Wie schon überall bekannt, blieb unserem Projekt vom Spätsommer 1977 der Erfolg auf der ganzen Linie versagt. Unser Plan ging davon aus, daß es genügend junge talentierte Leute gibt, die infolge der Aussortierung entweder gar nicht die Hochschule besuchen dürfen oder bald nach der Zulassung unter verschiedenen Vorwänden oder sogar direkt ohne jede Vortäuschung aus politischen und Gesinnungsgründen ausgeschlossen werden. Weil es auf der anderen Seite aber Dutzende, Hunderte von Hochschullehrern (Professoren, Dozenten, Assistenten) gibt, denen die Möglichkeit zu unterrichten gleich zu Anfang des sogenannten Normalisierungsprozesses genommen wurde, muß es jetzt darum gehen, die betreffenden Lehrer mit den Interessenten aus den Reihen der potentiellen Studenten zusammenzubringen. Gleich am Anfang tauchten hochtrabende Namen auf wie „Patočkas Akademie“, „alternative Universität“ oder sogar „Antiuniversität“ (was eine besonders unglückliche Bezeichnung war), aber nichts davon hat sich eingebürgert, aus dem einfachen Grund, daß die Arbeit nicht richtig in Schwung kam. In Prag begann nur Prof. Milan Machovec seine Vorlesungen; aber als die Staatssicherheit die Teilnehmer einige Male auseinandergetrieben oder festgehalten und zum Verhör abgeführt hatte, einige Male auch Prof. Machovec verhört worden war, und als es schien, daß die geplante Studienarbeit einfach nicht realisiert werden könne, hörten die jungen Leute auf, sich in der Wohnung von Professor Machovec zu versammeln. Da nahm dann Dr. Julius Tomin, Schüler und Freund von Machovec die Arbeit auf, und unter Aufbietung aller Kräfte setzte er das Werk des Professors fort. Auch in seinem Fall versuchten die Sicherheitskräfte das zu vereiteln, aber Tomins Zähigkeit, Unerschrockenheit und Erfindungsgabe bewirkten, daß sich die Situation veränderte. Großes Verdienst daran hatten jedoch auch die jungen Leute, die durchhielten und nicht aufhörten, an der Arbeit teilzunehmen. Der Druck der Staatssicherheit ließ mit der Zeit nach, und die Vorlesungen von Dr. Tomin konnten fast ohne Hindernisse fortgesetzt werden, bis zum vorigen Herbst, also etwa 18 Monate.

    Das Seminar von Dr. Tomin blieb allerdings leider das einzige seiner Art. Zwar existieren in Prag schon seit Anfang der siebziger Jahre (wenn wir nicht noch weiter in die Vergangenheit gehen wollen) nicht wenige Studien-, Diskusions- und Vortragskreise – und ihre Arbeit ging natürlich auch nach dem Entstehen der Charta ’77 und parallel mit der Arbeit von Dr. Tomin weiter, aber es waren und sind stille bis geheimgehaltene Arbeitskreise, die sich davor hüten, wie auch immer auf ihre Existenz aufmerksam zu machen. In den siebziger Jahren habe ich selbst einige solcher Arbeitskreise geleitet und an weiteren teilgenommen. Ich weiß, wie sehr diese Tätigkeit trotz aller Unauffälligkeit Gegenstand des Interesses und auch des verschiedenartigen Drucks seitens der Staatssicherheit war. Noch im Jahre 1976 forderten die Sicherheitsbeamten beim Verhörgespräch meine Frau auf, mir diese Aktivität auszureden und mich zu überzeugen, daß es in meinem Interesse sei, damit aufzuhören. Wiederholt erwähnten sie mit Nachdruck einen Kreis, an dem Theologiestudenten teilnahmen; die Sicherheitsbeamten gaben an, daß ich durch diese Tätigkeit in Konflikt mit dem § 178 des StGB über „die Vereitelung der Aufsicht über die Kirchen und Religionsgemeinschaften“ gerate. Das gab zwar meiner Frau die Möglichkeit, als meine Ehefrau in dieser Sache von nun an jegliche Aussage zu verweigern, aber trotzdem ging es um eine falsche Interpretation des Gesetzes und um eine Verletzung des Gesetzes von Seiten der öffentlichen Funktionäre. Seit Anfang des Jahres 1977 hatte die Staatssicherheit dann neue Sorgen und ließ ähnliche Privatkreise und -vorlesungen in Ruhe. Sie begann gegen Prof. Machovec und Dr. Tomin vorzugehen, da es sich hier um eine der Öffentlichkeit bekannte Tätigkeit handelte. Höchstwahrscheinlich wäre es zu keinem Eingriff gekommen, wenn die Vorlesungstätigkeit von Prof. Machovec und Dr. Tomin im Halbdunkel der völligen Unauffälligkeit und geschlossenen Privatsphäre geblieben wäre.

    Man muß zugeben, daß nicht wenige Leute auf diesen Umstand hinweisen und argumentieren: Wenn sie ruhig geblieben wären, hätten sie keine Schwierigkeiten gehabt. Aber dieses Argument gilt nur bedingt: Wenn sie ruhig geblieben wären, – wenn ein anderer durch seine Tätigkeit Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hätte, dann hätten sie vielleicht vorübergehend keine Schwierigkeiten gehabt. Ihre Schwierigkeiten hätten dann begonnen, wenn es gelungen wäre, den Arbeitskreis zu liquidieren, der die größte Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte. Die enorme Bedeutung von Tomins hartnäckiger Arbeit besteht neben anderem darin, daß er eine Art Blitzableiter darstellte, unter dessen Schutz manche andere ähnliche Kreise in Sicherheit arbeiten konnten. Dadurch ist jedoch die ganze Angelegenheit bei weitem noch nicht erschöpft. Durch die Unterschrift und Ratifizierung des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte verpflichtete sich unser Staat, im Sinne des anerkannten Selbstbestimmungsrechtes, zu respektieren, daß unser Volk (unsere beiden Völker – die Tschechen und Slowaken) neben anderem ihre kulturelle Entwicklung frei bestimmen und verwirklichen (Art. 1, Abs. 1).

    Es gibt gar keinen Zweifel, daß ein Teil dieser kulturellen Entwicklung und des kulturellen Lebens überhaupt das Denken ist. Das Recht eines Volkes auf freies kulturelles Leben und seine Entwicklung steht in enger Beziehung zum Recht jedes einzelnen auf solch ein freies kulturelles Leben. Wir können von keinem freien kulturellen Leben eines Volkes sprechen, wenn seine zahlreichen Angehörigen kein Recht auf ein freies kulturelles Leben haben oder es ihnen abgestritten wird. Und andererseits wird das Recht auf ein freies kulturelles Leben dort wesentlich eingeschränkt und verletzt, wo die Freiheit fehlt, kulturell zu leben und sich als Volk zu entwickeln, wo also die Freiheit der einzelnen zur Formung von Volks- und Völkergemeinschaften eingeschränkt wird. In diesem Sinne hat sich unser Staat verpflichtet, das Recht auf freies kulturelles Leben und seine Entfaltung innerhalb der Gesellschaft durchzusetzen und zu realisieren „ohne irgendeine Unterscheidung nach Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer Gesinnung, nationaler und sozialer Herkunft, Eigentum, Herkunft oder Abstammung oder anderer Stellung“. Dagegen wird jedoch in unserer Gesellschaft auch nach der Ratifizierung des erwähnten Dokuments, auch noch zu Beginn des fünften Jahres, seitdem es in unserer Republik in Kraft getreten ist, in vieler Hinsicht verstoßen. Die Chancen der Kinder von Eltern, die ein sogenanntes gesellschaftliches Engagement vorweisen können, z.B. eine Funktion oder wenigstens die Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei oder in einigen gesellschaftlichen Organisationen, sind bei der Aufnahme auf die Mittel- und insbesondere die Hochschulen erheblich größer als die Chancen der Kinder, deren Eltern die Mitgliedschaft in solchen Organisationen ablehnen, einer echten Demokratie den Vorzug geben, die offizielle marxistische Doktrin nicht annehmen und z.B. Christen bleiben. Zahlreiche Fälle sind dokumentiert, wo Lehrer versuchten, die Eltern zu überzeugen, ihre Kinder nicht zum Religionsunterricht zu schicken und besser erst gar nicht anzumelden, weil die Kinder dann zum Studium nicht zugelassen werden usw.

    Aber bleiben wir beim Recht auf freie Entfaltung des Denkens als Bestandteil des Rechtes auf freie kulturelle Entwicklung überhaupt, und das sowohl im Einzelfall, als auch im Fall ganzer Gruppen und Schichten der nationalen Gesellschaft. Laut Verfassung der ČSSR gründet „die gesamte Erziehung und der gesamte Untericht. auf einer wisenschaftlichen Weltanschauung und auf einer engen Verbindung von Schule und Leben und Arbeit des Volkes“ (Art. 24, Abs. 3). Es heißt weiter: „Die gesamte Kulturpolitik in der Tschechoslowakei, die Entfaltung der Bildung, die Erziehung und der Unterricht werden im Geiste der wissenschaftlichen Weltanschauung, des Marxismus-Leninismus, und in enger Verbindung mit dem Leben und der Arbeit des Volkes geführt (Art. 16, Abs. 1). Es ist ganz offensichtlich, daß diese Verfassungsnormen (auch wenn es sich hier eigentlich nicht um eine normative Formulierung handelt, sondern um reines Konstatieren, das überdies im Widerspruch zur Realität steht, wie wir noch zeigen werden) im Widerspruch zu dem ratifizierten Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte stehen (und übrigens auch zu dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte). Im Hinblick darauf, daß sich unser Staat durch die Ratifizierung beider Pakte verpflichtet hat, unumgängliche Maßnahmen zur schrittweisen Erreichung der vollen Verwirklichung der in diesen Pakten anerkannten Rechte zu unternehmen, „und das mit allen geeigneten Mitteln, einschließlich der Annahme von legislativen Maßnahmen“, müssen wir als selbstbewußte Bürger auf entsprechende Veränderungen der genannten Formulierungen in der Verfasung der CSR bestehen. Dafür solte u.a. auch ein nichtexistierendes, aber in der Verfassung vorgesehenes Verfassungsgericht der ČSSR Sorge tragen.

    Wenn es tatsächlich existiert hätte, dann hätte es sich in der Vorbereitungsphase der Ratifizierung beider Internationaler Pakte äußern müssen, und hätte sie entweder als der Verfassung widersprechend ablehnen müssen, oder anhand der Ratifizierung auf die Notwendigkeit einer entsprechenden Veränderung der Verfassung hinweisen müssen. Heute können sich weder Bürger noch gesellschaftliche Organisationen auf eine solche Entscheidung eines Verfassungsgerichts berufen und müssen abwarten, bis sich endlich das Oberste Gericht der ČSSR dieser Aufgabe annimmt, wie es auch die Verfassung der ČSSR im Art. 106a, § 4, Abs. 3 voraussetzt. Bis zu diesem Zeitpunkt, bis die nötigen Veränderungen auch formal durchgeführt werden, muß gelten, daß die älteren Gesetze gemäß der neueren Gesetzgebung interpretiert werden.

    Für die Veränderung in den zitierten Formulierungen spricht auch noch ein ganz sachliches Moment. Der Terminus „wissenschaftliche Weltanschauung“ ist innerlich widersprüchlich, sachlich fragwürdig und fachlich unhaltbar. Es ist ein Beweis dafür, daß die geplante Einheit der gesamten Erziehung und des gesamten Unterrichts gar keinen ideologischen Charakter hat, sondern daß es sich um ein reines ideologisches Instrument zur Unterdrückung des kritischen Denkens handelt, egal welcher Art (d.h. auch wenn es sich um einen kritisch denkenden Marxisten handelt). Die Wissenschaften können nämlich niemals zu einer „Weltanschauung“ gelangen, weil keine von ihnen Zugang zur Welt als Ganzem hat. Die einzelnen Fachwissenschaften haben die Welt in verschiedene Aufgabengebiete geteilt, die in ihre Kompetenz fallen, sie sind kaum in der Lage, sich über Grenzgebiete zu verständigen, und schon gar nicht sind sie in der Lage, irgendeine „Gesamtweltanschauung“ zu erarbeiten. Es gibt also vielleicht eine „Weltanschauung“, aber die wird und kann dann aus triftigen Gründen niemals wissenschaftlich sein, oder es kann sich um eine wissenschaftliche Anschauung handeln, die dann aber in keinem Fall eine Anschauung über die Welt als Ganzes sein kann. Darüberhinaus wissen wir, daß wissenschaftliche Anschauungen über ein und dieselbe Sache manchmal wesentlich auseinandergehen und es erst die Frage der Zukunft ist, welche von den unterschiedlichen augenblicklichen „Anschauungen“ (Theorien, Hypothesen usw.) sich als gültig erweist. Und endlich wissen wir aus der Erfahrung, daß uns gerade in den wichtigsten Fragen des menschlichen Lebens die Fachwissenschaften in Verlegenheit bringen und im Stich lassen und daß sie uns keine praktischen Ratschläge geben können; ja noch schlimmer, sie wissen sich selbst nicht einmal zu helfen und sind in Wirklichkeit gegen jegliche Art des Mißbrauchs wissenschaftlicher Ergebnisse machtlos. Die Erziehung und Bildung, rein auf der Wissenschaft und ihren allgemein schon anerkannten Ergebnissen gegründet, wären notgedrungen fragmentarisch und entschieden unzureichend; insbesondere könnten sie jedoch niemals eine Einheit sein, weil die Wissenschaft eine stürmische Entwicklung durchmacht, begleitet von Zusammenstößen verschiedener Anschauungen und Konzeptionen, die des öfteren durch den Sieg einer völlig neuen und ursprünglich nicht einmal geahnten Anschauung überboten werden.

    Es gibt also keine Einheit von Erziehung und Bildung, die auf der Wissenschaft begründet ist (oder genauer auf Wissenschaften, weil keine „Wissenschaft an sich“ existiert und die Ansichten verschiedener wissenschaftlichen Disziplinen über eine und dieselbe Tatsache sich bisweilen voneinander scharf unterscheiden). Auch wenn wir zum zweiten Terminus, nämlich zum „Marxismus-Leninismus“ übergehen, kommen wir jener vorgesehenen Einheit kein Stück näher. Schon der Terminus selbst gibt zu verstehen, daß es mehrere Marxismen gibt, so daß uns nichts anderes übrig bleibt, als den richtigen als „Marxismus-Leninismus“ näher zu bestimmen. Aber wir wissen doch sehr gut, daß aus unseren Hochschulen und wissenschaftlichen Instituten Fachkräfte, „Marxisten-Leninisten“, entfernt wurden, die sich zu dieser Richtung nicht nur subjektiv gezählt und bekannt haben, sondern die ihr, allen Anzeichen nach, auch tatsächlich angehört haben. Ihr „Marxismus-Leninismus“ wurde jedoch für falsch erklärt, keineswegs auf Grund einer fachlichen Diskussion, die mit sachlichen Argumenten und in der Öffentlichkeit arbeitet, sondern auf Grund einer Entscheidung von meistens fachlich völlig inkompetenten Leuten und aus unverhohlenen politischen Gründen. Marxismus und Leninismus stellen ganz bestimmte gedankliche, kulturelle, soziale, politische usw. Richtungen dar. Beurteilen, ob es sich tatsächlich um eine Anknüpfung an Marx und Lenin handelt, die deren Weg fortsetzt, oder nur um eine Anknüpfung am Rande, die andere Wege sucht, kann nur ein Fachmann und niemals irgendein zufälliges Mitglied irgendeiner politischen Kommission, sei sie parteilich oder anders geartet. Aber wer ist nun berufen, zu entscheiden, welcher Marxismus-Leninismus der wahre ist und welcher deshalb die Grundlage der einheitlichen Erziehung und der gesamten Bildung und des gesamten Unterrichts bilden soll? Politische Instanzen und Staatsämter sind hier notwendigerweise inkompetent, auch wenn sie immer wieder in wissenschaftliche Kontroversen aus eigenem Antrieb und aus spontaner Willkür eingreifen wollen, oder weil sie zur Domäne und zum Instrument einer Gruppe oder Schule gegen alle anderen geworden sind. Die Eingriffe gegen Prof. Machovec oder Dr. Tomin sind deshalb aus der Natur der Sache illegal, auch im bisherigen Sinne der zitierten Partien der Verfassung, weil sich beide für Marxisten halten und sich zum Marxismus bekennen, im Fall von Prof. Machovec seit dem Krieg, im Fall von Dr. Tomin seit den fünfziger Jahren (Tomin wurde Marxist im Gefängnis, wo er sich auch mit dem Christentum vertraut gemacht hat). Am allerwenigsten ist die Staatssicherheit berufen, zu entscheiden, was ein wahrer Marxismus-Leninismus ist und was nicht.

    Aber die Freiheit einer kulturellen Entwicklung gilt ja nicht nur für Marxisten-Leninisten, sondern für jeden Bürger dieses Landes. Auch als ich den Theologiestudenten Vorträge über Philosophie gehalten habe, da sie nach dem Abgang von Prof. Lochman an der Komenský-Faktultät niemand richtig unterrichtet hatte, also als ich christlich orientierte Philosophie gelesen habe, durfte das damals kein Grund für polizeiliche Ermittlungen sein, geschweige denn heute. Bezüglich der Bürgerrechte und der politischen, kulturellen usw. Freiheiten sind absolut nicht die Formulierungen der Gesetze das wichtigste, sondern die praktische Durchsetzung der Rechte und Freiheiten im alltäglichen Leben der Gesellschaft. Deshalb wird das Aushalten und die Standhaftigkeit von Dr. Tomin und seinen Hörern in die Geschichte der kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung unseres Landes eingehen: Diese ziemlich kleine Gruppe führte ihren Kampf um die Freiheit ihres eigenen kulturellen Lebens eigentlich zugleich für und um uns alle. Gegenwärtig sind wir Zeugen dessen, wie die Sicherheitsorgane die Fortsetzung ihrer Tätigkeit dadurch vereiteln, daß sie jede Versammlung auseinandertreiben und eine Reihe ihrer Teilnehmer entweder zu mehrstündigen Verhören abführen oder sie bis zu 48 Stunden festhalten. Sie dringen in die Wohnung ein, wo sich die Teilnehmer treffen sollen oder sich schon versammelt haben, ohne sich dabei durch irgendeinen amtlichen Auftrag auszuweisen, und stellen dadurch ihre Mißachtung der Gesetze zur Schau und erklären, daß sie die Seminare jetzt und auch in Zukunft verhindern werden. Trotzdem trifft sich der Kreis immer wieder, und immer wieder kommt es zu Übergriffen der Staatssicherheit.

    Ich glaube, daß alle selbstbewußten Bürger sich klarmachen sollten, daß dies nicht nur eine Attacke auf die Rechte einiger junger Leute und einiger Dozenten ist, sondern daß die Attacke auf die ganze Gesellschaft und auf alle zielt, die das Recht des Volkes, das Recht des Einzelnen und der Gruppen von Einzelpersonen, d.h. auch das Recht, das eigene kulturelle Leben und seine Entwicklung frei zu bestimmen und zu verwirklichen, in Ehren halten. Die Erfahrungen haben gezeigt, daß mündliche oder schriftliche Proteste, an die verantwortlichen Funktionäre und Institutionen adressiert, keine anderen als polizeiliche Aktionen und Reaktionen hervorrufen, und die bedeuten nur immer neue Repressionen. Wir müssen zeigen, wie unsere Wert- und Präferenzskala aussieht: Schätzen wir unsere unveräußerlichen Rechte und Grundfreiheiten höher ein, oder haben wir vor Unannehmlichkeiten Angst, die uns die Sicherheitsorgane zufügen können, die unsere eigenen Gesetze verletzen? Wird unser Gefühl für Verantwortung und Solidarität mit den gesetzwidrig Unterdrückten und Verfolgten die Angst besiegen, daß wir selbst zum Gegenstand der Repressionen werden können? Werden wir weiterhin passiv zusehen, wie einige Menschen auch für unsere Freiheit, für unsere freie kulturelle Entwicklung kämpfen, oder stellen wir uns an ihre Seite?

    Dadurch, daß unsere Welt, d.h. unsere Regierung, die Föderative Versammlung und auch der Präsident der Republik Verpflichtungen auf sich nahmen, die aus den beiden Internationalen Pakten hervorgehen, ist auch jeder tschechoslowakische Bürger verpflichtet, ständig vor Augen zu haben, daß auch jeder „Einzelne, der Verantwortung gegenüber den anderen und der Gemeinschaft, der er angehört, hat, verpflichtet ist, sich für die Entfaltung und Einhaltung der in diesem Pakt anerkannten Rechte einzusetzen“ (Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Präambel). Dazu führt ihn übrigens auch der Artikel 34 der Verfassung der ČSSR, nach dem „die Bürger verpflichtet sind, die Verfassung und auch die übrigen Gesetze einzuhalten und in ihrem ganzen Tun die Interessen des sozialistischen Staates und der Gesellschaft der Werktätigen zu wahren“; die beiden Internationalen Pakte sind vor drei Jahren Bestandteil unserer Rechtsordnung geworden.

    Deswegen habe ich mich entschlossen, ab Montag, dem 14. April 1980, in meiner Wohnung eine Serie von Vorträgen aus dem Gebiet der Philosophie zu eröffnen, für diejenigen, die Interesse an einer Denkweise haben, die von der offiziellen abweichend ist, welche durch alle staatlichen und gesellschaftlichen Mittel propagiert und dem gesamten Erziehungs-, Unterrichts- und Bildungsprozeß ungerechtfertigt zugrundegelegt und oktroyiert worden ist. Es wird wieder nur eine kleine Enklave des freien Denkens und dadurch auch freien Lebens in der Gesellschaft sein, die den Staatsorganen aus ihrer Macht entschlüpft ist, und der sie jetzt (wie übrigens im verschiedenen Maße auf der ganzen Welt) gegen deren Willen Schwierigkeiten und Zwänge bereitet. Sollte es jedoch mehrere solcher Enklaven geben und sollten sie wachsen, werden sie ein wichtiges Instrument für die Befreiung der Gesellschaft aus den Fesseln ihres eigenen Produkts, des Staates, der sich ihr jedoch entfremdet hat. Eine der ersten Forderungen der allmählichen Befreiung der Gesellschaft wird die bewußt unterdrückte Trennung von kulturellem Leben und dem Staat sein und der Schlußstrich unter jede machtpolitische und bürokratische Reglementierung der Kultur. Eines der wichtigsten Instrumente beim Kampf um die Befreiung der Kultur ist die Verbreitung eines kritischen, ideologiefreien Denkens in den breitesten Schichten der Gesellschaft. Für diese große Aufgabe ist die Rolle der kritischen, modernen und sachverständigen Philosophie unersetzlich; es ist eine Rolle, in der die Philosphie durch keine andere Disziplin, geschweige denn durch eine Institution ersetzt oder vertreten werden kann. Für die Philosophie ist jedoch das Verständnis von Seiten der Künstler, Wissenschaftler, Techniker, aber auch der Gläubigen und überhaupt aller Bürger und aller Angehörigen der Gesellschaft von enormer Wichtigkeit.

    Unsere Anfänge in diesen Jahren sind bescheiden, aber unsere Ziele sind groß. Durch die Verteidigung und Durchsetzung unserer Rechte und Freiheiten verfolgen wir nicht nur eigene Interessen, sondern die Interessen der gesamten Kultur und des ganzen Lebens der Gesellschaft.

    Dein

    Ladislav Hejdánek

    Prag, den 10.4.1980