Denken und Handeln. Zur Meontologie der Wahrheit
| docx | pdf | html ◆ lecture | preparatory notes, German, origin: 13. 10. 1997

pro Holandany - #

Denken und Handeln. Zur Meontologie der Wahrheit [1997]

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Am Anfang des sg. abendländischen Denkens, dh. der Philosophie, der Theologie und aller Wissenschaften war eine Erfindung des Begriffes. Die Begrifflichkeit mußte dem bisherigen, nämlich dem vorbegrifflichen Denken imputieret, ja oktroiert geworden sein. Das ging natürlich nur langsam vor, sodaß wir immer beide Weisen nicht nur als nebeneinander zusammenlebend, sondern sogar innerhalb der Philosophie auch als durcheinander gemischt und synkretisch zusammengepflegt finden können. Deswegen müssen wir uns mit besonderem Interesse an programmatische Formulierungen bedeutendster Philosophen orientieren. Eine der wichtigsten ist die bekannte Unterscheidung zweierlei Arten (philosophischer) Wissenschaften, nämlich der theoretischen und der praktischen, und zwar ihrem Ziel nach. Für die praktischen Wissenschaften ist das Werk (ERGON) ihr Ziel, wogegen für die theoretischen Wissenschaften ist es die Wahrheit. Die Wahrheit ist also das Ziel, und das heißt auch das Ende des Schauens, des Anschauens, und damit auch ein Ende, ein Schluß, ja ein Ausbleiben jeder Handlung, jeder Aktivität. Am Ende ist jede Bewegung gestoppt, weil das Ziel das Ende jeder Bewegung ist. Wo noch immer eine Bewegung stattfindet, ist es nur deswegen, weil sie noch nicht zu ihrem Ziel, zu ihrem Ende gekommen ist - so daß jedes sich immer noch bewegende Denken nur unterwegs bleibt und noch nicht zur Wahrheit gelangen ist. Wenn wir das Denken als eine Aktivität verstehen, und das ist jedoch für uns heute sozusagen ganz selstverständlich, dann ist es ein Beweis, daß wir noch nicht zur Wahrheit gelangen sind. Wirklich zur Wahrheit zu gelangen heißt auch seine eigene Denkaktivität zum Stehen zu bringen. Das zum Stehen gestopptes, fixiertes „Denken“ ist für die Griechen gerade das nichtstuende Betrachten, das Anschauen, Beschauen, griechisch THEÓREIN. Um die Wahrheit anzuschauen, ist es notwendig jedes Handeln abzuschließen, wirklich zu Ende zu bringen, und ohne jede Aktivität, ohne jedes Handeln die feste, unbewegliche Wahrheit anzustarren.

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Unser heutiges Verständnis ist jedoch von dieser nichthandelnden, so zu sagen „passiven“ Schau weit enfernt. Wir glauben zu wissen, dh. wir glauben ganz sicher zu sein, daß alles Denken im Vollzug einzelner Denkakte besteht und daß diese Denkakte für alle unsere Denkinhalte konstitutiv sind. Es handelt sich dabei nicht lediglich um die Verschiebung unseres Interesses an das Subjekt oder an die Subjektivität, was sonst ohne Zweifel eines der wichtigsten Resultate der neuzeitlichen Denkentwicklug war. Noch bei Descartes jedoch ist das Denken, cogitatio, als Substanz verstanden, als denkendes Ding, res cogitans. Der Mensch „ist“ diese denkende Substanz nicht als Einzelwesen, sondern nur wenn er im Einklang verbleibt mit diser Substanz, ja wenn er sich mit ihr identifiziert, dh. erst wenn er richtig denkt. Denkt er falsch, ist er nichts mehr als ein Körper, also ein Teil der ausgedehnten Substanz, der res extensa. Dann ist er bloßem Tier ganz ähnlich, d.h. er ist nur eine Maschine. Das Denken ist nur als richtiges Denken wirklich, sonst scheint es nur ein Denken zu sein. Und das richtige Denken ist notwendigerweise „stehend“, weil es als Substanz ohne jede Bewegung oder Veränderung immer dasselbe verbleibt. Erst bei Leibniz wird das Denken, dh. das Vorstellen einer Monade, etwas wirklich aktives gedacht. Diese Aktivität des Denkens bleibt jedoch immer als etwas nur inneres und hat überhaupt keine Einwirkung an die äußere Welt, als deren bloße Nachahmung oder vorstellende Immitation es sein soll. Zugleich ist verständlicherweise die ganze res extensa auf einen Punkt reduziert, so daß die Vorstellung der Ausdehnung zum bloßen Hilfskonstrukt wird - wie wir es später auch bei Kant finden (bei ihm wird jedoch nicht nur Räumlichkeit, sondern auch Zeitlichkeit zum sinnlichen apriori).

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Etwas wirklich Neues treffen wir erst im deutschen Romantismus, aber besonders tief ausgeprägt bei Hegel. Er muß der Lebniz°schen Monade nicht nur die Fenster, sondern auch die Tür durchbrechen - und dazu braucht die Monade größer sein als bloßer Punkt. Das Entscheidende ist jedoch die epochale Rehabilitation der Bewegung und bzw. der Denkaktivität. Bei Hegel handelt es sich nicht mehr um eine im Inneren verbleibende Denkaktivität: Hegel kennt schon so etwas wie eine Entäußerung oder Veräußerung des Inneren, aber auch eine Verinnerung des Äußeren. Beeinflußt von Spinoza hält er immer weiter noch seinen „Parallelismus“ und ist überzeugt, daß das, was nicht im Außen ist, sicher auch nicht im Inneren war. Da kommt Kierkegaard, um entschiedenerweise zu betonen, daß man einen solchen Parallelismus nicht halten kann, weil das Innere immer anders sein kann und immer auch ist als das Äußere bzw. Veräußerte, nämlich feiner, gründlicher und in jedem Falle wichtiger. In einer anderen Richtung, aber nicht weniger kritisch gegenüber Hegel entfaltet der junge Marx seine Praxis-Auffasung, die nicht nur nicht die äußere Welt, sondern auch nicht das aktive Subjekt als etwas endgültig Gegebenes akzeptieren will und dagegen die Selbständerung des menschlichen Subjektes durch seine nicht nur individuelle, sondern hauptsächlich geschichtliche Praxis unterstreicht. Der Mensch verändert sich, indem er seine Umgebung, seine Welt verändert. Und noch mehr: der Mensch wird zum Menschen, indem er die bloße Natur zur vermenchlichten Natur ändert, und zwar sowie die eigene, innere Natur, als auch die äußere Natur, dh. die Welt. Und nach Karl Marx kommt noch Friedrich Nietzsche mit seiner Idee einer Umwertung aller Werte und der des Übermenschen. Die Zukunft ist nichts Gegebenes, in der Vergangenheit schon entschiedenes, sondern sie muß durch Mut und Härte erobert werden. Jedenfalls zeigt es sich immer klarer, daß nicht das Faktische, das Gegebene, sondern gerade umgekehrt das Noch-nicht-Gegebene von höchster Wichtigkeit für den Menschen - und auch für die ganze Welt - ist.

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Da kommen wir zu einem Punkt, wo wir in dieser Richtung noch weitere Schritte einerseits voran, andererseits im Gegenteil zurück machen können und sogar müssen. Erstens vorwärts, um kurz eine Frage zu stellen: ist das Noch-nicht-Gegebene, also das Noch-nicht-Seiende, ergo Nicht-Seiende, noch „etwas“, oder ist es wirklich „nichts“? Ist die Zukunft wirklich leer? Und zweitens ein Rückblick. Für die archaischen Leute, die in der Welt des Mythos gelebt und auch gedacht haben, war die Zukunft gar nicht nur neutral leer, sondern sie war der drohende Abgrund des Nichtigen. Das vor diesem Nichtigen einzig erlösende und rettende war das, was sich schon einmal ereignet hat und doch nicht im Abgrund des Nichtigen endete: das waren die göttlichen Vorbilder, die archetypischen Taten und Handlungen, die man nachahmen konnte und mußte, um Heil zu finden. Das höchst Problematische an dieser Lebensorientierung - wie wir es heute sehen - war die Illusion, daß ein Mensch sich retten kann, wenn er ein Vorbild bis zur Identifikation nachahmt, also wenn er sich selbst in dieser Nachmahmung, im Kopieren, oder - wie es Kierkegaard formuliert - im Abschreiben eigener Lebensaufgaben von den göttlichen Vorbildern, in dieser „imitatio“ verliert. Diese seltsame Blindheit gegenüber der Einzigartigkeit jedes Menschen charakterisiert nicht nur die Lebensorientierung der archaischen Leute, sondern immer noch auch die der alten Griechen und unter ihnen auch der Philosophen. Für uns scheint es so seltsam und manchmal gar abscheulich nur deswegen zu sein, weil unsere Lebensorientierung im Gang der europäischen Denk- und Geistesgeschichte anders geworden ist, und zwar durch das Christentum und beziehungsweise durch die prophetische Überlieferung des alten Israels. In dieser Tradition, die für uns Europäer ebenso wichtig ist wie die altgriechische, und gerade heute eigentlich noch wichtiger zu sein scheint als sie, wurde eine epochale Erfindung gemacht, die mindestens dieselbe Wichtigkeit hat wie die griechische Erfindung der Begriffe und des begrifflichen Denkens. Ich würde am liebsten über eine höchst sophistiziert herausfordernde, obwohl noch vorbegriffliche Erfindung oder gar Konstruktion von Anti-Archetypen sprechen. Sowie der archaische, an schon gegebene, überzeitliche Archetypen orientierte Mensch seine Selbstverantwortung eigentlich aufgegeben hat, so muß jeder, der den alten Abram (noch vor der Umbenennung) nachahmen will, muß seine eigene Verantwortung übernehmen, denn es ist ihm unmöglich gerade dorthin zu gehen, wohin Abram gegangen ist. Er muß Abram darin nachfolgen, daß er in sein eigenes Unbekannte sich begibt. Abram ist für ihn kein Vorbild zum womöglich pünktlichen Imitieren, sondern eine Inspiration zum eigenen äußerlich zwar ungesicherten, jedoch hoffnugsvollen Handeln. Und diese Umkehrung, diese Kehre der Hauptorientierung des menschlichen Lebens und auch Denkens verändert auch alle menschliche Perspektiven: die Zukunft ist nun kein gefährlicher, drohender Abgrund hinter unserem Rücken, sondern eine offene Landschaft, die zum Gelobten Land kultiviert werden kann, soll und muß.

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Jetzt dürfen wir zu unserer ersten „Frage nach Vorwärts“ zurückkommen. Die starke bisherige Tendenz der christlichen, sowohl philosophisch als auch theologisch orientierten Denker, beide Traditionen, die hebräische und die griechische, in einer synkretischer und vermittelnder Weise beibehalten, ist in der letzten Zeit vom Grunde aus problematisiert worden. Probleme, die mit dieser fast drei Jahrtausende dauernden Zusammenarbeit und mit diesem ebensolange dauernden Dialog und oft auch Polemik verknüpft waren und immer noch sind, werden in immer klarerem, hellerem Licht merkbar und erkennbar. Aber nicht nur das: es ist in dieser langen, aber eigentlich relativ nicht so sehr lange dauernden Geschichte auch etwas sehr wichtiges geschehen, es hat sich etwas übergewichtiges ereignet, besonders mit der Philosophie und in der Philosophie.

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Jetzt dürfen wir zu unserer ersten „Frage nach Vorwärts“ zurückkommen. Die starke bisherige Tendenz der christlichen, sowohl philosophisch als auch theologisch orientierten Denker, beide Traditionen, die hebräische und die griechische, in einer synkretischer und vermittelnder Weise beibehalten, ist in der letzten Zeit vom Grunde aus problematisiert worden. Probleme, die mit dieser fast drei Jahrtausende dauernden Zusammenarbeit und mit diesem ebensolange dauernden Dialog und oft auch Polemik verknüpft waren und immer noch sind, werden in immer klarerem, hellerem Licht merkbar und erkennbar. Aber nicht nur das: es ist in dieser langen, aber eigentlich relativ nicht so sehr lange dauernden Geschichte auch etwas sehr wichtiges geschehen, es hat sich etwas übergewichtiges ereignet, besonders mit der Philosophie und in der Philosophie. Philosophie ist vom Anfang an wesentlich Reflexion, obzwar nicht jede Reflexion schon als Philosophie gelten darf. Erst Begrifflichkeit ermöglichte die wichtigsten Momente der philosophischen Reflexion zu entfalten, bzw. daß sie kritisch, systematisch und prinzipiell (oder besser radikal) wird. Und jenes sozusagen abenteuerliche Treffen und lanfristiges Dialolgführen beider Lebensorientierungen und Denkweisen ermöglichte diese sonderbare Umwandlung der griechischen Philosophie, die eigentlich als höchst rationale Reflexion des immer noch aktuellen Sichrichtens an überzeitliche Vorbilder entstanden ist, in eine Reflexion neuer Art, oder präziser gesagt, in eine Reflexion einer anderen Lebensorientierung. Es dauerte eine ganze Ewigkeit, wenn wir es am individuellen Menschenleben messen, bis es midenstens einigen großen Denkern und mindestens teilweise klar geworden ist, worum es sich hier handelt. Nichtsdestoweniger können wir bei verschiedenen Denkern gewisse Andeutungen dessen finden, daß sie über manche Unvollkommenheiten des traditionellen begrifflichen Denkens doch etwas gespürt haben. In der tschechischen Geistesgeschichte gibt es sogar eine interessante mehr als zwei Jahrhunderte dauernde Tradition, die mit dem Thema „Wahrheit“ eng verbunden ist und die einerseits an einige althebräische Gedankenmotive anknüpfte und die andererseits nach einer wieder mehr als zwei Jahrhunderte dauernden Zäsur Schritt für Schritt durch die tschechische Volksrenaissance und dann besonders durch Masaryk und drei seine Schüler und Nachfolger neubelebt worden ist, wahrscheinlich ohne daß sie von den althebräischen Wurzeln dieses Gedankens gewußt haben.

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Laß uns jetzt wieder ein bischen zurückkommen , um die Zusammengehörigkeit der Frage nach der „Wahrheit“ mit dem Thema Zeit, Zeitlichkeit, Geschichte, Geschichtlichkeit zu klären, und natürlich auch mit dem Thema „Subjekt“ und dessen Aktivitäten. Das wird uns bald zu unserem Hauptthema führen, nämlich zu der engen Gebundenheit des Denkens an das Handeln und des menschlichen Handelns an das Denken. Für Aristoteles war, wie wir gesehen haben, die Wahrheit unbeweglich, und er hielt den Sternenhimmel für nahe zur Wahrheit, weil die Stellung der Sterne und der Sternengebilde untereinander unbeweglich bleibt, nur daß sie sich zusammen mit dem ganzen Himmel im Kreislauf über uns bewegen. In diesem Sinne setzte sich das geometrische Ideal in der Philosophie durch: die Wahrheit ist etwas noch vollkommeneres als die geometrischen Gebilde wie Dreieck, Kreis usw. Wir wissen dagegen, daß gerade diese „dauernde“ oder besser „überzeitliche“ Gebilde bloß unsere Konstruktionen sind, und zwar Konstruktionen, die nur mit Hilfe der Begrifflichkeit unserer Denkaktivitäten geschafft werden können. Und so ist es mit allen unseren „intentionalen Gegenständen“ (oder Objekten), wie es Husserl in seinen Logischen Untersuchungen am Anfang unseres Jahrhunderts erläutert hat. Und da fragt es sich, ob wir in unserem Zutritt zur wirklichen Welt und zur Wirklichkeit im Ganzen diese Art von objektivierenden Modellkonstruktionen in jeder Richtung und in jedem Fall legitim gebrauchen können und dürfen. Der Durbruch der hauptsächlich deutschen romantischen Philosophie besteht unter anderem auch darin, daß neuerlich das Subjekt als ex definitione non-Objekt, als Nicht-Gegenstand gedacht wurde und werden mußte. Und es blib nicht nur beim Subjekt; auch die Welt im Ganzen ist kein Gegenstand, weil - wie es z.B. Jaspers ausspricht - sie nie im Ganzen uns gegenüber steht, sondern um uns herum ist, so daß wir immer innerhalb und nimmer außerhalb ihr sind. Jaspers wollte gar das griechische, schon von den Praesokratikern gebrauchte Wort PERIECHEIN neu beleben im Benennen einer neuen philosophischen Disziplin als Periechontologie, also als Disciziplin über Wirklichkeiten, die keine „res“, keine Dinge, keine Gegenstände sind. Ich glaube, daß wir auch die Wahrheit nur als non-Objekt, als nicht-gegenständliche Wirklichkeit denken müssen, also mit Jaspers als PERIECHON. Nur müssen wir jenes PERI- nicht nur räumlich, sonder auch und gar vor allem zeitlich denken wollen.

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Die Zeitlichkeit oder Geschichtlichkeit der Wahrheit pflegt man immer noch im relativierendem Sinne zu denken: jede Zeit, jede Geschichtsphase hat ihre eigene „Wahrheit“. Das ist jedoch immer weiter ein Verbleibsel des alten, von den Griechen vorstrukturierten Denkens. Im griechischen Denken ist das Seiende das Wichtigste: die Wahrheit ist vor allem das Offenbarwerden des Seienden im Ganzen. Die Wahrheit richtet sich nach dem, was wirklich ist, also nach dem Seienden. Und da kommt zu diesem epochemachenden Zusammentreffen, beide Seiten betreffenden Zusammenkommen der griechischen und der hebräischen Tradition, am Anfang ohne Veremittlung, später durch das Christentum vermittelt. In der Septuaginta werden hebräische Wörter ins Griechische übersetzt und dann ihre Bedeutung immer mehr griechisch gedacht. Manchmal muß man auch dasselbe Wort oder Wörter mit derselben Wurzel mit zwei Wörtern von ganz verschiedenen Wurzeln übersetzen. Das war gerade der Fall mit „Wahrheit“ und mit „Glauben“. Die hebräischen Wörter mit der Wurzel °m-n mußten manchmal als ALÉTHEIA, andersmal als PISTIS übersetzt werden. Nach mehr als zwei Jahrtausenden sind wir nichtmehr imstande die Wahrheit und den Glauben als zwei Attributen derselben Wirklichkeit zu denken. Und wir sind beziehungsweise nicht imstande die Wahrheit als einen Ruf, Ausruf, als Ansprache, als Herausforderung zu verstehen, und den Glauben als Antwort auf diese Herausforderung. Theologisch hört man zwar doch Zeit zu Zeit, daß der Glaube eigentlich ein Sich-Verlassen auf das einzige Verläßliche ist, aber immer wird Gott als der einzig Verläßliche gemeint. Aber philosophisch muß man fragen - und beziehungsweise heute muß man es tun - wie wir eigentlich den wahren Gott finden können: welcher ist der wahre Gott? Wie kann man den wahren Gott definieren? Das ist doch eine uralte philosophische Frage, die fast alle Vorsokratiker und auch ihre großen Nachfolger beantworten wollten. Der schon erwähnte Aristoteles wollte den einzigen wahren Gott als erste Ursache oder als den unbewegten Beweger usw. definieren - ganz geometrisch. In dem apokryphischen §. Esdras finden wir eine interessante Definition: der wahre Gott ist der Gott der Wahrheit. Diese ohne Zweifel polemische Aussage bedeutet etwas wichtiges: es handelt sich um ein logisches Resultat der nicht-griechischen, ja anti-griechischen Auffasung des Verhältnisses zwischen der Wahrheit und des Seienden: es ist nicht die Wahrheit, die sich dem Seienden nach richtet, sonder umgekehrt ist es das bloß Seiende, da sich der Wahrheit nach, dh. dem Wahren nach richtet oder mindestens richten soll und endlich muß.

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Der philosophische Romantismus hat, wie wir gesehen haben, ein großes Verdienst, daß es ein neues Verständnis dessen, was wir Subjekt nennen, geprägt hat. Hegel formuliert es so, daß die Wahrheit nicht mehr als Substanz, sondern als Subjekt gedacht werden muß. Leider hat man sehr bald das wichtigste in dieser denkerischen Erfindung verloren gehen lassen. Kierkegaard - und später auch Nietzsche - haben über „subjektive Wahrheit“ gesprochen, aber es wurde als Versuch die Wahrheit zu versubjektivieren, also zu relativieren verstanden. Die adäqutere Interpretierung heißt etwas ganz anderes: die Wahrheit attakiert das Subjekt in seinem Inneren, jedoch nur um es zu angagieren, diese Wahrheit durchzusetzen, das heißt: sich dieser Wahrheit in Dienste zu stellen und in ihren Diensten zu bleiben. Das ist jedoch nichts anderes als der Glaube, jedoch nicht im griechischen, aber auch nicht im allgemein akzeptierten christlichen Sinn. Rádl, der wichtigste Schüler und Nachfolger Masaryks, formulierte es folgenderweise: glauben ist so etwas wie zur Tat bereit und geneigt zu sein. Und weil wir schon gesehen haben, daß das griechische THEOREIN heute nichtmehr akzeptierbar ist und daß wir das Denken keinesfalls als Substanz denken dürfen und können, sondern als Aktivität des Denkens, bezieht sich notwendigerweise diese sich in die Zukunft hin öffnende Neigung zur Tat, Neigung zu immer neuen Taten, auch für das Denken. Auch im Denken muß man immer neu und immer aktiv und voll von Hoffnung ins Unbekannte gehen, um selbst wahr und wahrhaftig zu werden.

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Hoffnung ins Unbekannte, dh. in die unbekannte, noch nich da seiende Zukunft. Und das heißt wieder: Hoffnung als Sich-Verlassen an die noch nicht seiende Wahrheit, die nicht einfach „nicht-seiend“ ist, sondern „noch-nicht-seiend“, also kommend. Die Wahrheit ist eine für uns, die immer noch zuviel griechisch denken, eine selsame Wirklichkeit, die erst von uns, dh. von mir, von dir, von jedem ganz individuell und personell verwirklicht werden soll und muß, jedoch so, da= sie in ihrer Verwirklichung nie definitiv einverkapselt wird, daß sie nie mit ihrem Da-sein (hic et nunc esse) identisch ist und weiter bleibt, sondern sich von jeder Verwirklichung immer von neuem emanzipiert, um wieder neu in neuen Situationen zu kommen und immer kommend zu „bleiben“. Ohne diese immer neuen Ankommen wäre auch keine unsere Aktivität als Antwort an di Herausforderung der Wahrheit můglich - und bliebe ohne wirklichen, dh. ohne jeden wahren Sinn. Und das gilt in derselben Weise auch für unser Denken, weil auch das Denken immer auch unsere Aktivität ist und bleibt.



Zusammenfaasung

Von der Ontologie zur Meontologie der Wahrheit.

(Ein Versuch auf einen Gedanken in der „tschechischen“ Denktraditionanzuknüpfen)