970126-1
Eine philosophische Reflexion der Situation am Ende des 20. Jahrhunderts muß ein wenig in Distanz stehen gegenüber der bisherigen europäischen Tradition, die sich schon seit den alten Griechen durchsetzte, nämlich sich vor allem um das Seiende als Seiendes zu kümmern. Den Historikern überlassen wir das schon Geschehene und deswegen nichtmehr Seiende. Was für uns Nicht-Historiker entscheidend ist, ist die Zukunft. Gerade jedoch daß wir an der Zukunft interessiert sind und sein müssen, brauchen wir eine gute Kenntniß der Vergangenheit, denn die Geschichte ist voller Fehler und Irrtümer, voller Dinge, die nicht hätten geschehen sollen, wie es einer unserer Historiker, der auch hier anwesend ist, gesagt hat. Zu einem gewissen Maß hat er recht, jedoch ohne alle diese Fehler und Irrtümer, die als solche erkannt worden sind, wäre es viel mehr wahrscheinlich, daß wir das alles von neuem tun müßten. Ich kenne es beziehungsweise aus der Philosophiegeschichte. Nur gute Kenntniß und gute Orientierung in der Vergangenheit verschiedener philosophischer Konzeptionen kann uns ermöglichen, womöglich nur neue große Fehler zu machen und uns dadurch gar in die Geschichte einzuschreiben. Sowas gilt jedoch auch und gar besonders für unser gemeinsames, gesellschaftliches und politisches Zusammenleben. Wir dürfen und sehr oft müssen uns mit der Vergangenheit recht sorgfältig auseienadersetzen. Unser Ziel ist jedoch nicht immer nur zum Vergangenen zurückzuschauen oder gar es nachzuahmen und neu zu beleben, sondern nur das beste auszuwählen und sonst alles schlimme, dumme und unnützige in das „nicht-mehr-Seiende“ und damit zum Abfall der Geschichte fallen zu lassen. Gerade in diesem Sinne kann ich als Mitglied der protestantischen Minderheit, die in unserem Lande übriggeblieben ist, und später als aktiver Chartist sowohl an Beziehungen zu unseren ostdeutschen nichtopportunen Brüdern und Schwestern in der Kirche denken, als auch an deutsche Aktivisten der Menschenrechtsbewegungen. Wir verstanden uns einander und sahen klar, daß Zusammenarbeit eine bessere Perspektive vorstellt als Konflikt und Kampf.
(korektura pro Berlin)
(Praha, 970126-1.)