- in: Communio viatorum 9, 1966, č. 1–2, str. 17–24
Glaubensüberlieferung: Nachahmung oder anknüpfendes Überschreiten?
Überlegungen zum Begriff der christlichen Tradition [1965]1
Wir alle, im Westen nicht weniger als im Osten, leben im Zeichen eines riesigen, weitgehenden und noch lange nicht beendeten Traditionsverlustes. Der moderne Mensch – und das sind doch auch wir alle, ob wir es wollen oder nicht – nimmt teil an einer ungeheuren Umgestaltung der Welt, und zwar nicht nur als Objekt und Produkt der geschichtlichen Veränderungen, sondern auch als deren aktives, tätiges Subjekt. Und in dieser sich tief umgestaltenden Welt lebt die christliche Kirche und wird dem vielseitigen Druck der neuen Situation ausgesetzt. Ihre Lage wird nicht nur äußerlich, sondern vor allem innerlich unsicher und labil. Man spürt es immer deutlicher, daß besonders die konstantinische Symbiose der Kirche mit dem Staat zerfällt und rasch zu Ende geht; im umfangreichen Gebiet der heutigen Welt, in der wir leben, und die in den Traditionen der durch das Christentum unwiderruflich beeinflussten sogenannten europäischen Kultur und Zivilisation verwurzelt ist, kommt es zur Kulmination einer bereits einige Jahrhunderte dauernden und immer noch fortgehenden Bewegung, die schon alle Gebiete unseres Lebens erfasst hat und auch tief in unser Denken eingedrungen ist, nämlich des Vorgangs der Verweltlichung, der Säkularisation. Die moderne Welt wird religionslos, und die Religionslosigkeit der Welt bildet für die Christen und für die Kirche nicht nur einen äußeren Druck, sondern eine wichtige Aufforderung und einen Anlass zu einer gründlichen Selbstüberprüfung und zu einer neuen, kritischen Besinnung ihrer eigenen Aufgaben gerade in dieser gewandelten Situation.
Bekanntlich war es schon vor Jahrzenten Karl Barth, der einen scharfen Strich zog zwischen der Religion als menschlicher Leistung und dem Glauben als Gottesgabe. In Anknüpfung daran konnte z. B. Bultmann sein Entmythologisierungsprogramm formulieren oder Bonhoeffer die Probleme der nicht‑religiösen Interpretation entwerfen. In den letzten Jahren ist man noch weiter gegangen; wir stehen in einem weit- und tiefreichenden Gespräch über die Möglichkeiten einer sogenannten „atheistischen“ Theologie. Es ist natürlich, daß in diesen Zusammenhängen jeder Ruf nach Tradition nicht nur konservativ, sondern sogar reaktionär erscheint. Man weiß jedoch – und man weiß es begreiflicherweise auf beiden Seiten, auf der „progressiven“ wie auf der „konservativen“ – daß das Christentum vom Anfang an eine Religion war, oder mindestens, daß es immer eine religiöse Form trug. Anscheinend zweifellos gehört es sozusagen zur Tradition des geschichtlichen Christentums, religiös zu sein und auch religiös zum Vorschein zu kommen. Was aber für die konservativ gestimmten Christen als Beweis der Verfehltheit des nicht‑religiösen Interpretationsprogrammes gilt, wird von den anderen gründlich überprüft und als historisch relativ, heutzutage irreführend und das Wesen des Glaubens sogar verdunkelnd klassifiziert. Es scheint, daß gegenüber dem Alten und Traditionellen das wirklich Neue nicht als vollkommen untraditionell und gegen jede Tradition voreingenommen vorgestellt werden kann, sondern daß vielmehr gegen eine Tradition eine andere empfohlen und befolgt wird. Der eigentliche Unterschied zwischen den beiden Traditionen besteht keineswegs darin, daß die eine christlich und die andere unchristlich ist oder zu sein scheint; beide wollen christlich sein und sind es vielleicht wirklich in gewissem, obwohl nicht demselben Sinne. Einen Unterschied gibt es einerseits im Gegenstand der Tradition, d. h. darin, was tradiert, überliefert, weitergegeben wird, andererseits im wie, in der Form, in dem Typus der Tradition. Beides hängt eng zusammen.
Lasst uns also beide grundsätzlich verschiedene Arten der Tradition untersuchen. Der erste Typus zeichnet sich durch äußerst strenge Betonung des gegebenen Schatzes, der anvertrauten Erkenntnis und der festgesetzten Art des Lebens aus, die man rein, d. h. durch keine Veränderung verunreinigt, erhalten soll und muß. Die in solcher Weise begriffene Tradition gibt uns Sicherheit und Schutz in jeder Gefahr eines Abgleitens von festen Wegen in Ratlosigkeit und Scheitern. Es gibt da nicht nur eine bloße Auffassung, also eine Theorie des traditionellen Lebens, sondern vor allem eine wirkliche und wirkende Lebenspraxis, die prinzipiell in derselben Richtung orientiert ist, in welcher auch der Mensch der archaischen Kulturen den Sinn und die Wirklichkeit seines Lebens gesehen und gesucht hat. Wie z. B. Eliade gezeigt hat, bedeutet „Leben“ für diesen archaischen Menschen vor allem: nach außermenschlichen Vorbildern und in Übereinstimmung mit den Archetypen zu leben. Im Rahmen seines bewußten Handelns kennt der „Primitive“, der archaische Mensch, keine Handlung, die bis in Einzelheiten nicht von einem andern gesetzt und vorgelebt worden wäre, nämlich von einem andern, der kein (bloßer) Mensch gewesen ist. Was dieser archaische Mensch tut, ist schon immer getan worden. Sein Leben besteht in der ununterbrochenen Wiederholung von Handlungen, die von andern getan worden sind. Dieselbe oder sehr ähnliche Haltung sehen wir immer auch dort, wo das Existierende und vor allem das schon Gewesene so hoch gewertet wird, daß es sogar zum Ziel alles nachfolgenden menschlichen Strebens gesetzt und zum Vorbild einer verbindlichen Nachahmung vor den Menschen gestellt wird. In dieser Richtung des menschlichen Lebens und Denkens sind die fertiggebrachten, zu Ende gezogenen vergangenen oder sogar – in mythischer Deutung – vorzeitlichen Vorbilder etwas, was vor uns untergebracht wird und sich vor uns in seiner Wirklichkeit und Größe erstreckt. Die Zukunft dagegen ist wie ein schwarzer Abgrund des Chaos und der Nichtigkeit hinter unserem Rücken geblieben: dorthin kann man nur verblindet fallen, wenn man von der Bindung an die Vorbilder abfällt.
Dieses erste Verständnis der Tradition, der Überlieferung ist dadurch gekennzeichnet, daß es die Geschichte entweder gar nicht sieht und zur Kenntnis nimmt, oder mindestens sie unterschätzt und nicht ernst nimmt. Das neuzeitliche sogenannte historistische Verhältnis zur Vergangenheit (im Sinne eines Positivismus) ist nur eine Abänderung und in gewisser Hinsicht eine säkularisierte Vollendung dieser alten mythischen und mythologischen Haltung. Dieser sogenannte „historistische“ Zutritt zu dem, was „tatsächlich geworden ist“ (oder anders, wie bei Ranke, „wie es eigentlich gewesen“), dieser positivistische Historismus besteht in einer folgerichtigen Ablehnung, was immer für ein Ereignis, eine menschliche Entscheidung, eine Persönlichkeit mit einer anderen Norm zu messen und überhaupt sie in einem anderen Rahmen und von einem anderen Hintergrund her zu verstehen, als dem der gegebenen Zeit zugehörigen. So wird eine bestimmte Zeit, ein bestimmter Zeitraum, zu einer endgültigen Gegebenheit, die man nur ohne jede Voreingenommenheit als bloße Tatsache feststellen kann und muß. Einzelne Persönlichkeiten, ihre Entscheidungen und überhaupt alle einzelnen Ereignisse sind unter einem Maß gestellt, der auch nur in einem gewissen Zeitraum, in gewissen geschichtlichen Bedingungen seine Geltung erhalten kann und festzustellen ermöglicht, ob sie im Einklang mit ihnen oder eher in einem Widerspruch zu ihnen stehe. Die Zeit und ihre Bedingungen sind keiner weiteren Norm mehr unterstellt; sie genügen sich vollkommen in ihrer Gegebenheit, in ihrer Faktizität, und können unter keinen weiteren Maßstab gebracht und zu keiner übergeordneten Wirklichkeit in Beziehung gestellt werden. Verschiedene, voneinander zeitlich getrennte oder sogar fernliegende Epochen können legitim nicht verglichen werden; alle Ähnlichkeiten und Analogien sind nur scheinbar, weil sie doch immer zu einer einzigen Zeitperiode bezogen sind, in der sie wurzeln und in der sie ausschließlich ihren Sinn und ihre Geltung behalten können. Jedes Ansehen einer anderen Zeit, einer anderen Epoche, jeder Versuch, Ereignisse anderer Epoche zu begreifen und zu verstehen, ist und bleibt immer nur eine gegenwärtige, aktuelle Deutung, die deswegen nur scheinbar die Vergangenheit, in Wirklichkeit aber wieder nur die Gegenwart widerspiegelt. Und so gibt es – nach dieser Meinung – tatsächlich kein wahres Verstehen für andere Epochen in ihrer in die Vergangenheit verfallenen konkreten Wirklichkeit. Was für echtes Verständnis gehalten wird, ist immer nur eine Illusion. Und so ist es auch mit aller vermeintlichen Anknüpfung an vergangene Zeitabschnitte.
Ich habe gesagt, daß dieser positivistische Historismus (der überdies noch in gewissermaßen überspitzten Zügen dargestellt wurde) nur eine säkularisierte Form der ersterwähnten Traditionsauffassung bildet. Das mag vielleicht auf den ersten Blick nicht ganz klar und durchsichtig erscheinen. Wenn man von der alten Weltauffassung, d. h. von der Orientierung des ganzen Interesses auf das, was unter allen Veränderungen und hinter ihnen unverändert bleibt, sondern im Geschehen feststeht, im Sinne eines verweltlichten prozessualen Denkens gerade das Feststehende entfernt und wegfallen und verschwinden läßt, gelangen wir auf einem sehr kurzen Weg zum positivistischen Historismus. Weil aber aus der modernen philosophischen Auffassung alles Beharrende, Stehenbleibende und deshalb Zeitlose und Überzeitliche sehr gründlich ausgemerzt wurde (z. B. auch in der Naturwissenschaft werden alle Gesetzmäßigkeiten nicht mehr als für alle Ewigkeit und somit vollkommen absolut geltend, sondern vielmehr als nur historisch relativ aufgefaßt), ist es mit dem Verfall des metaphysischen Denkens auch zu einem Zusammenbruch jenes obenerwähnten Traditionsverständnisses gekommen, in dem gerade nur das als einer Überlieferung fähig angesehen wird, das in allem geschichtlichen Wandel vollkommen identisch feststehen bleibt. Es ist nicht mehr möglich, das Wesen der Tradition als ein Aufbewahren von immer demselben, von etwas vom Anfang an immer gleichen, aufzufassen. So muß man zum Beispiel auch die Ansichten Gerhard Krügers ganz schroff abweisen, wenn er z. B. sagt, daß nicht einmal der genetische Zusammenhang mit den Anfängen bestünde, wenn nicht trotz aller Wandlungen doch auch ein identisches Anliegen zu allen Zeiten immer wiederholt würde, wenn also nicht doch in, mit und unter allen geschichtlichen Veränderungen so etwas wie eine Tradition noch immer da wäre.
Aber wie anders? Gibt es überhaupt eine andere Möglichkeit? Ich glaube ja. So wie die erste Traditionsauffassung nur eine Reflexion eines bestimmten Lebensstils, einer Lebensrichtung ist, nämlich der Richtung auf die Archetypen oder Stereotypen hin, die letzten Endes zu einer konservativen und manchmal sogar rückschrittlichen Praxis führt, gibt es auch noch eine andere Lebenshaltung oder – besser gesagt – eine andere Richtung, eine andere Orientierung des Lebens und auch des Denkens. Es war jedoch nötig, daß gerade diese neue Orientierung einmal in der Vergangenheit gefunden wurde. Dazu ist es nach einer gewissen Vorbereitung im alten Iran eben in der prophetischen Tradition des alten Israel gekommen, und zwar in bewußter Polemik mit der geschilderten mythischen Haltung der alten, archaischen Tradition. Neue „Archetypen“ wurden dort erarbeitet, die jedoch nicht mehr archetypisch waren. Wir wissen es, wir kennen es eigentlich sehr gut. Abraham sollte sein Vaterland, seine Freundschaft und seines Vaters Haus verlassen, also das, was er vor sich gehabt hatte, hinter sich lassen, hinter seinem Rücken bleiben lassen, und sein Antlitz in die unbekannte, aber durch Berufung und Verheißung gelobte Zukunft richten. Also gibt es jetzt einen neuen „Archetyp“, eine neue „archetypische“ Lebenshaltung, die auf kein wirklich archetypisches, das heißt altes, schon gewesenes, fertig gemachtes Vorbild, auf keine wie immer aussehende Gegebenheit, sondern umgekehrt auf etwas Offenes, offen Bleibendes, noch nicht Fertiggebrachtes und endgültig Abgeschlossenes gerichtet ist und sein soll. Die Rettung wird nicht mehr in einer Nachahmung gegebener Vorbilder gesehen; z. B. Lot hört: „Errette deine Seele und sieh nicht hinter dich.“ Und wenn sein Weib dann doch hinter sich sah, ward es zur Salzsäule (1. Mose 19,17 u. 26). Auch lesen wir in Jesaia 43,18–19: „Gedenket nicht an das Alte und achtet nicht auf das Vorige. Denn siehe, ich will ein Neues machen…“ Diese prophetische Tradition des alten Israel war am Anfang nur eine Tradition eines ziemlich engen Kreises der in gewissem Sinne „religiösen Elite“. Aber schließlich drang diese vollkommen neue Orientierung ins allgemeine Bewußtsein mindestens in bestimmter Hinsicht ein, wie wir an einigen Tatsachen z. B. der Lebens- und Weltauffassung der Jesus von Nazareth umgebenden einfachen, aber auch geschulten Leute kennenzulernen imstande sind.
So z. B. erwarteten diese Leute den Messias so, daß sie von ihm mehr, unvergleichlich mehr erwarteten als je ein Mensch getan hatte. Und wenn sie dann nicht nur Jesu Worte gehört, sondern vor allem seine Taten gesehen hatten und wenn sie sich nichts größeres vorstellen zu können geglaubt hatten, benützten sie zum Ausdruck ihres Glaubens folgende Frage: „Wenn Christus kommen wird, wird er auch mehr Zeichen tun, denn dieser tut?“ (Joh. 7,31.) Da sehen wir seht gut, wie die beiden einander widersprechenden Traditionen und Lebensrichtungen sich vermischt haben. Man sieht voll Glauben und Hoffnung in die Zukunft und erwartet den verheißenen Erlöser, den Messias, der gewiß kommen soll; aber man glaubt gleichzeitig, daß eben durch diese Verwirklichung des Gehofften und Geglaubten auch das Ende der Zukunftsorientierung gekommen sein wird, weil dann wieder alles Wesentliche und Wichtigste ein für allemal zu Ende gebracht, also gegenwärtig, fertig, schon immer da sein wird. Also wieder ein Ende des Geschehens, der Geschichte, ein Zumachen der Tür und Versperren des Weges in die Zukunft. Noch mehr wurde natürlich diese Zukunftsorientierung problematisiert und unterdrückt bei denen, die in Jesus nicht Christus anerkennen konnten und wollten. Für die wurde Abraham und auch die Propheten zu neuen Vorbildern, in deren Nachahmung man nie vollkommene Genauigkeit erzielen konnte, ganz zu schweigen von irgendeiner Überwindung oder einem Weitergehen, Vorausgehen. Sie sagten zu Jesus: „Bist du mehr denn unser Vater Abraham, welcher gestorben ist? Und die Propheten sind gestorben. Was machst du aus dir selbst?“ (Joh. 8,53.) Eliade sagt davon, daß die damalige Priesterschaft die von den Propheten entdeckte Geschichte wieder zu relativieren versucht habe, indem sie dieselbe nur als ein Intermezzo, ein Zwischenspiel auffasste und schilderte. Wie dem auch war, sicher ist eins, nämlich daß Jesus gerade in dieser Hinsicht sehr radikal war, radikaler als wir, die wir uns zu oft dem Konservativismus der damaligen Priesterschaft nähern und den Zukunftsglauben der Propheten und vor allem des Jesus Christus seiner Dringlichkeit berauben. Jesus hat seinen Jüngern, beziehungsweise auf den Einwand des Thomas, daß sie nicht den Weg wüßten, sich selbst als den Weg bezeichnet und erklärt. Also als Weg, nicht als Ende des Weges. Deshalb sagt er auch gleich danach: „Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Wer an mich glaubt, der wird die Werke auch tun, die ich tue, und wird größere als diese tun.“ (Joh. 14,12.) Also Jesus Christus nicht als ein neues Vorbild, oder Archetypus zum Nachahmen, sondern ein Weg zum Weiterschreiten. Hier sind wir eben zum Schwerpunkt der ganzen Problematik eingedrungen.
Christliche Tradition ist ein Weg, also keine Position, kein Feststehehen. Sie ist ein Anknüpfen des Glaubens, der auch nur auf einen anderen Glauben und nie auf eine vergangene Gegebenheit, auf ein gegenständliches Ereignis bezogen werden kann. Was ist dann aber genau mit dem Worte „Glaube“ gemeint? Marxsen hat gezeigt, daß bei den Synoptikern an den meisten Stellen, ja fast ausschließlich von keinem Glauben an oder in jemand (oder etwas) gesprochen wird (er hat das statistisch erforscht und bewiesen), sondern vom Glauben absolut. Um alle Beziehungen wirklich angemessen zu klären, muß man also zwischen dem eigentlichen Glauben und der Reflexion des Glaubens unterscheiden. Tatsächlich existiert der Glaube immer nur zusammen mit einem bestimmten Verständnis seiner selbst und auch der Welt, in der er sich betätigen soll. Es gibt also auch eine Tradition der Glaubensreflexion, die nicht ohne weiteres mit der Tradition des eigentlichen Glaubens verwechselt oder gar identifiziert werden darf. Der Glaube betätigt und bezeugt sich primär in der Lebenspraxis; das Denken gehört jedoch untrennbar zu dieser menschlicher Lebenspraxis, denn es gibt auch eine Denkpraxis mit ihren Erfahrungen und Traditionen. Deswegen können wir von einer Reflexion des Glaubens sprechen, unter der wie die eigentümliche Fähigkeit des Glaubens verstehen, sich auf sich selbst zu konzentrieren unter vorübergehender Abneigung oder Zurückhaltung von der äußeren praktischen Tätigkeit, um sich seiner selbst durch das Verständnis seiner eigenen Lage im Rahmen eines allgemeinen Weltverständnisses zu bemächtigen. Dazu ist es aber ganz unentbehrlich, sich verschiedener Denkmittel zu bedienen, die natürlich gar nicht abtrennbar oder unabhängig sind nicht nur von der bestimmten privaten menschlichen Situation, sondern besonders von dem konkreten Raum und der konkreten Zeit der geschichtlichen und gesellschaftlichen Existenz des gläubigen Menschen. Der Glaube muß deshalb immer gewisse Vorstellungen, Gedanken und Begriffe benutzen, die ihrem Wesen und ihrer Struktur nach charakteristisch sind für die gegebene Epoche und für den gegebenen geistigen Raum. Aber was ist der Glaube selbst?
Der Glaube ist ein Angegriffensein des Menschen, jedoch nicht von Außen, sondern von Innen. Er ist ein Angesprochenwerden des Menschen, durch das der Mensch zugleich in Bewegung gesetzt wird. Der Glaube ist ein Ereignis, das mit dem Menschen vor sich geht, kein Zustand, in dem der Mensch ruht. Im Glauben ist der Mensch aktiv, aber seine Aktivität entspringt keinen gegebenen Quellen, sondern ist in der ungegenständlichen Wirklichkeit einer Aufforderung verankert, die ihre Formulation, ihren Ausdruck noch sucht. Das Wesen dieser Aufforderung besteht in dem unverfügbaren Geöffnetsein des Weges zur Zukunft. Glauben heißt also eine Zukunft haben; besser gesagt, der Glaube lebt von der Zukunft her, so daß er etwas Neues erwartet und zugleich verwirklicht. Der Glaube ist somit inmitten einer tiefen Wendung der ganzen Lebensorientierung des Menschen in der Welt tätig: er ist nicht mehr auf gegebene Vorbilder oder Archetypen bezogen, er läßt also die wirkliche, konkrete Welt nicht mehr hinter dem Rücken in Chaos und Nichtigkeit verfallen und wendet sich nicht mehr einer „göttlichen“, außerweltlich gegebenen Wirklichkeit zu, sondern gerade umgekehrt tritt er in die Mitte dieser von Gott gegebenen Welt hinein, nicht aber um sie nachzuahmen oder sich ihr anzupassen, sondern um sie umzugestalten, zu verbessern, und zwar nicht nach einer vorgegebenen Vorschrift, sondern im Geiste der frohen Botschaft Jesu. Die Orientierung des Glaubens ist tatsächlich nichts anderes als eine Lebensrichtung nach der Metanoia, also eben im Geiste Jesu Christi. Jesus ist für unseren Glauben also kein „Gegenstand“, er ist auch kein Vorbild, kein Archetyp zur strengen Nachahmung. Nachfolge Christi heißt nicht seine historische Gegebenheit nachzuahmen, sondern im eigenen, lebendigen Glauben an seinen Glauben und an den Geist seiner Werke und Worte anzuknüpfen. Damit ist auch, obwohl sehr kurz und gewissermaßen vereinfacht, der Sinn der erneuten theologischen Wendung zum Problem des historischen Jesus angedeutet. Die Unterscheidung zwischen dem eigentlichen Glauben und der Reflexion des Glaubens ermöglicht uns gerade hier die Grundstruktur der Nachfolge besser zu enthüllen. Es handelt sich darum, sich sozusagen das „Modell“ des Glaubens Jesu anzueignen und so im eigenen Glauben an seinen Glauben anzuknüpfen. Jedes Anknüpfen an Jesu Glaubensreflexion kann nur insoweit legitim sein, solange es sich nicht auf die Begriffe, Denkstrukturen oder was für andere gegebene Mittel solcher Reflexion bezieht, sondern auf die freie, aktive Bewegung des Glaubens selbst in der Reflexion, in den Denkstrukturen und durch sie vorwärts. Dasselbe gilt jedoch auch von allen anderen Vergegenständlichungen des Glaubens, also nicht nur von den durch Reflexion erreichten, sondern auch von den in der Lebenspraxis, im täglichen Leben durchgeführten Wirkungen des Glaubens. Das „Modell“ des Glaubens besteht darin, daß alle einmal erzielten Ergebnisse der Glaubenspraxis durch den lebendigen Glauben selbst immer vom neuen gesprengt und überschritten, „transzendiert“ werden. In diesem Sinne handelt es sich also um kein geschlossenes, gegenständliches Modell, welches ein Vorbild zur Nachahmung bildet, sondern vielmehr um einen „Schlüssel“, der alle Vorbilder und alle festgegebenen, abgeschlossenen Regeln öffnet, relativiert oder gar sprengt und der sich durch eine innere Macht auszeichnet, die konkrete Situation als nichts Endgültiges, sondern nur Provisorisches und in die Zukunft Aufgetanes zu zeigen, um einen Schlüssel, der den Weg vorwärts, in die Zukunft aufzumachen versteht. In dieser Tradition wird nichts Sachliches, Gegenständliches überliefert, also weder gesetzlich genormte Handlungen, noch strenge dogmatische Formulierungen. Und eben daraus müssen wir gewisse Folgerungen ziehen, die ich zum Schluß wenigstens in Kürze anzudeuten versuche.
Die Reflexion des Glaubens war bisher für Jahrhunderte und sogar Jahrtausende mit der Tradition des griechischen metaphysischen Denkens verbunden. Nach dem Zusammenbruch dieser Tradition stehen wir vor einer wirklich ungeheuren Aufgabe, unseren Glauben neu, das heißt mit neuen Denkmitteln, zu reflektieren. Ich bin überzeugt, daß es zu den Hauptaufgaben der theoretischen, intellektuellen Arbeit der Christen gehört (die natürlich dem Ganzen des christlichen Lebens nicht vorhergeht, sondern der christlichen Lebenspraxis erst folgt, jedoch immer außerordentlich wichtig ist), zu versuchen, eine neue Reflexion des Glaubens zu verwirklichen, d. h. zu einer neuen Interpretation der christlichen Botschaft zu gelangen. Es handelt sich heute um eine solche Reflexion, die gedanklich ganz modern, für den gegenwärtigen Menschen sinnvoll, also im Bonhoefferschen Sinne nicht‑religiös, nicht‑metaphysisch, sondern zivil und weltlich wäre, die etwas für den modernen Menschen bedeuten könnte, die ihn ansprechen und auch überzeugen könnte. Eine solche Perspektive ist nicht nur für unseren Glauben unentbehrlich, sondern hat auch ihren guten und sehr wichtigen ökumenischen Sinn. Man kann doch nicht damit rechnen, daß man in der Zukunft zu irgendeiner eklektischen Synthese verschiedener christlicher (katholischer, orthodoxer, protestantischer) Traditionen gelangen muß oder kann. Vielmehr muß man an einer neuen, gemeinsamen Reflexion des wirklichen, lebendigen Glaubens zusammenarbeiten. Und weil die gegenwärtige geistige Lage auch durch einen Zusammenbruch der bisherigen philosophischen Tradition gekennzeichnet ist, wird diese christliche Perspektive einer neuen Reflexion des Glaubens zugleich zu einer universalen Perspektive eines neuen Denkens, die nicht nur für das kirchlich-christliche Leben gelten, sondern eine neue Einheit in das menschliche Denken und damit auch in das ganze Leben in allen Gebieten sowohl der Praxis, als auch der Theorie bringen könnte. Denn da, wo die Reflexion ein gewisses Niveau erreicht, ist für sie nichts anderes möglich als zur gemeinsamen Reflexion der ganzen Menschheit und jedes einzelnen Menschen zu werden. Das ist dann die sogenannte „Koreflexion“, wie sie Teilhard de Chardin nennt.
Und so komme ich zum Schluß. Die einzig mögliche christliche und kirchliche Tradition kann nur darin bestehen, daß man nicht auf historische Tatsachen, also vergangene Gegebenheiten derart anknüpft, daß man sie nur aufbewahrt und wiederholt, sondern daß man im eigenen Glauben an den lebendigen, und das heißt immer voranschreitenden und in die Zukunft gerichteten, Glauben Jesu Christi und seiner Zeugen anknüpft und damit auch selbst vorwärts schreitet. Diese Perspektive wird dann ganz notwendig von einer nur kirchlichen zu einer universalen und somit zu einer Perspektive für die ganze Welt. Also gibt es für den Christenmenschen nur eine vereinigende, konvergierende Tradition, keine divergierende und trennende. Denn es gehört eben zu Gottes Willen, daß alle Eins seien, „ut omnes unum sint“.
1 Vorgetragen in Berlin am 5. Juni 1965.