Meontologische Probleme der Struktur des in wahrem Sinne „Seienden“ [1990]
Aus mehreren Gründen soll das Problem einer Meontologie im folgenden Beitrag nicht gelöst, sondern lediglich erörtert werden. Es handelt sich meines Erachtens um eine geschichtliche Aufgabe, ja sogar um eine Herausforderung für die Philosophen der kommenden Generationen. Man spricht schon lange über eine Krisis des abendländischen Denkens, über das Ende der Metaphysik oder gar der Philosophie überhaupt. Solche Erwägungen bleiben leider meistens im Rahmen allgemeiner ideengeschichtlicher Einsichten oder manchmal nur Einfühlungen und werden begrifflich wenig ausgearbeitet. Es ist zwar gut verständlich, weil es sich in der Krisis eigentlich um eine Krisis der traditionellen und das heißt der griechischen Begrifflichkeit handelt. Natürlich sind die Möglichkeiten jeder solchen Analysis der bisherigen Begrifflichkeit begrenzt, die dabei auf gerade dieselbe Begrifflichkeit angewiesen ist. Und gerade deswegen ist es notwendig, lieber mit Phänomenen als mit begrifflichen Konstruktionen und allgemeinen Konzeptionen anzufangen.
Ohne im voraus und voreilig den Unterschied begrifflich festzulegen, sind wir imstande, ein wahr Seiendes von einem unechten Seienden zu unterscheiden: jedes in wahrem Sinne Seiende ist eine Einheit, d. h. es ist an sich, und zwar von seinem Innen her integriert, wogegen ein unecht Seiendes ist lediglich ein Aggregat, ein Haufen, eine Vielfältigkeit, die nur scheint, eine Einheit zu sein. Schon bei Heraklit finden wir diesen Gedanken ausgesprochen, nämlich wenn wir Fragm. B 124 recht verstehen: auch die schönste Welt (der schönste Kosmos) wäre nur ein Haufen zufällig durcheinandergeworfener Dinge – ohne LOGOS, fügen wir zu, oder auch: ohne FYSIS. LOGOS und FYSIS pflegen sich jedoch zu verbergen. Unsere Frage nun ist die folgende: was alles verbirgt sich aus einem in wahrem Sinne Seienden? Um auf diese Frage wesentlich antworten zu können, müssen wir erst noch einen Schritt weiter machen. Ein wahr Seiendes ist ein Ganzes nicht nur im Sinne einer Seiendheitsstruktur, sondern vor allem im Sinne einer Zeitstruktur. Unser Philosoph, Emanuel Rádl, hat in seinem letzten Büchlein, kurz vor seinem Tode (1942), geschrieben, daß die Lebewesen eigentlich nicht zu sehen sind. Wie soll man es verstehen? Wenn wir einen Eichenbaum oder einen Hund sehen, sehen wir eigentlich nicht das Lebewesen im Ganzen, sondern nur einen Teil dessen, nur einen seiner momentaner Anscheine, nur eine seiner augenblicklicher Gestalten. Wir können nicht sehen, wie solch ein Lebewesen geboren ist und aufgewachsen ist. Wir können nicht die ganze Lebensgeschichte jenes Lebewesens einfach sehen, weil die Geschichte nicht „da“ ist, sondern nur eines seiner Momente. Das Lebewesen als wahres Seiendes ist ein Ereignis. Jedes Ereignis zeigt uns je seine augenblickliche Gestalt, aber in demselben Augenblick verbirgt uns alle anderen augenblicklichen Gestalten, und zwar sowohl die schon vergangenen, als auch die bisher noch nicht gekommenen, also die zukünftigen.
Ohne weiteres können wir zugeben, daß das alles seit langem gut genug bekannt ist. Die Frage besteht jedoch, ob es auch recht gut verstanden worden ist. Wir wissen doch, wie tief nicht nur das alte griechische, sondern wirklich das ganze europäische, aber besonders abendländische Denken durch die Denkensart von Parmenides und seiner Schule tief beeinflußt worden ist. Die für unser Thema außerordentlich wichtige Idee von Parmenides kann im Fragment B 7 und 8 aufgefunden werden, eventuell auch im Fragment B 2 und 3. Hieraus ergibt sich, daß das Seiende immer seiend ist und nimmer nichtseiend; daß das, was ist, nie gewesen ist und nie sein wird, denn es ist auf einmal jetzt ganz, zusammenhängend, Eins. Kein Nichtseiendes gehört zu einem Seienden, kein Seiendes gehört zu einem Nicht‑seiendem. Es gibt nur ein Seiendes oder ein Nichtseiendes, nichts inzwischen und nichts außerdem. Und gerade dagegen sehen wir und verstehen wir, daß jedes Seiende als ein von innen her sich zu einem Ganzen entwickelndes Ereignis angesehen und verstanden werden soll und muß, und das heißt, daß jedes Seiende vielmehr nichtseiend ist als seiend. Das Seiende ist zwar nur in seinen Seiendheiten jedem anderen Seienden (und das heißt auch uns) aktuell zugänglich, aber in jedem Moment seines sich entfaltenden Ereignisses stellt die gerade aktuelle Seiendheit nur eine Ausnahme in der ganzen Serie aller anderer inaktueller Seiendheiten vor, d. h. der noch nicht oder der nichtmehr aktuellen Seiendheiten. In jedem Augenblick des sich ereignenden Seienden muß jedoch die aktuelle Seiendheit desselben von seinem aktuellen Sein unterschieden werden, weil sonst das Seiende als Ganzes auf eine bloße Serie nebeneinander gereihter Seiendheiten reduziert wäre. Die einzige Lösung dieses Problems besteht darin, daß wir das Ereignis nichtmehr als ein nacheinander einzelner Seiendheiten verstehen werden, sondern als eine ununterbrochene Veränderung des sich ereignenden Seienden im Ganzen. Das heißt also, daß sich in jedem Augenblick alles verändert, sowohl das bisherige Vergangene, als auch das immer noch nicht gekommene. Und so kommen wir zu einer möglichen Auffassung einer Struktur, und zwar einer sich verändernder Struktur eines Nicht‑seienden, und zwar sowohl eines nichtmehr Seienden, als auch eines noch nicht Seienden. Sowas überragt schon ohne weiteres jeden Horizont bisheriger ontologischer Fragestellung.
Was versteht man eigentlich unter Ontologie? Wir können sehr gut eine aristotelische Formulation benutzen aus dem Anfang des Buches Gamma ([prázdné místo; pozn. red.] – IV) seiner Metaphysik (1, 1003a, 21–22): „Es gilt eine Wissenschaft, welche das Seiende als Seiendes untersucht und das demselben an sich Zukommende.“ Was ist also dieses dem Seienden als Seiendem an sich Zukommende? Es hat sich gezeigt, daß das Seiende als Seiendes nicht das Seiende als Ganzes erschöpft, so daß es sich erst klären muß, ob wir wirklich unter dem „dem Seienden als Seienden an sich Zukommenden“ auch das Seiende als Nicht‑seiendes zu verstehen bereit sind, oder sogar das gewisse Nicht-seiende (jenem Seienden als Seiendem an sich spezifisch Zukommendes) als Seiendes. Auf jeden fall muß das bisherige Verständnis der Ontologie erweitert werden, sodaß wir das dem Seienden als Seienden Zukommende so interpretieren, daß dazu auch das Seiende als Nicht‑seiendes und das Nicht‑seiende als Seiendes wesentlich gehören wird. Dann fragt es sich mit äußerstem Ernst, ob es nicht besser passend wäre, neben der Ontologie im alten Sinne über eine Meontologie zu sprechen, um ganz klarzumachen und zum Worte zu bringen, was sich im Rahmen dieser philosophischen Disziplin – und das heißt im Rahmen der ganzen Philosophie – eigentlich ereignet hat.
So haben wir jedoch nur den ersten Schritt gemacht zur Thematisierung des Nicht‑seienden und also des Nicht‑seins. Es ist allerdings nichts, was sonst und in anderen Formen nie getan worden sei. Schon bei den Atomisten finden wir die Ansicht, daß das Seiende nicht mehr „ist“ als das Nicht‑seiende (Fragm. A 8) und daß Etwas nicht mehr „ist“ als Nichts (Fragm. B 156). Die ganze bisherige Tradition hat sich immer wieder auch der aristotelischen Kategorien der Möglichkeit und der Wirklichkeit benutzt, freilich in verschiedensten Umarbeitungen und Reinterpretationen. Usw. Allen diesen Versuchen ist jedoch eines gemeinsam: das, was eigentlich nichtseiend ist, wurde als eine Form des Seienden betrachtet und begriffen, und dazu das Seiende auf das Wesen (essentia) reduziert, also das Beharrende, die Substanz. Damit zeigte sich jedoch jeder Weg zu einer unterschiedlichen, neuen Auffassung geschlossen. Es zeigte sich, daß das ganze Problem mit einer gewissen Abart der Denkweise zusammenhängt. Die Auffassung des Seienden in der abendländischen Tradition wurde von den alten Griechen als eine besondere Art begrifflichen Denkens geprägt. Diese Art kann als „gegenständliches Denken“ benannt werden. Die Gegenständlichkeit des Denkens besteht darin, daß jede Wirklichkeit so gedacht wird, als ob es sich um einen Gegenstand handele. Ein Gegenstand ist, was uns gegenüber steht. Eine Wirklichkeit, die als Gegenstand gedacht wird, wird als eine uns gegenüberstehende Wirklichkeit begriffen. Nicht jede Wirklichkeit jedoch steht uns gegenüber. Wenn also eine solche Wirklichkeit trotzdem als gegenständlich begriffen wird, wird sie falsch begriffen, d. h. sie wird zu unrecht vergegenständlicht. Im allgemeinen kann man unter dem Namen „gegenständliches Denken“ solches Denken verstehen, das nur gegenständliche Wirklichkeit als wirklich anerkennt, und was nicht gegenständlich begriffen werden kann, das gilt für ein solches Denken einfach als nicht wirklich.
In der bisherigen europäischen Geschichte gab es einen hervorragenden Gegenstand, nämlich den höchsten Gegenstand, das höchste Seiende, den christlichen Gott. Zwar gab es in der altjüdischen Denkgeschichte einen ziemlich langen und äußerst leidenschaftlichen Streit gegen jede menschliche Vergegenständlichung Gottes, des einzigen wahren Herrn des Himmels und der Erde, aber dieses wichtige Vermächtnis ist als Konsequenz der christlichen Rezeption des griechischen Denkens, d. h. der griechischen Begrifflichkeit, fast vollkommen verlorengegangen. Und da kam es zu einer merkwürdigen Entwicklung: zuerst wurde der Gott selbstverständlich als wirklich gedacht, und deswegen als Gegenstand, als Seiendes, als Summum Ens begriffen. Neuerdings werden die Leute immer mehr im Klaren darüber, daß es einen gegenständlichen Gott nicht gibt und nicht geben kann, und also hält man Gott nichtmehr als wirklich. Gerade das gehört zu den Wesenszügen des sg. europäischen Nihilismus oder auch zu dem modernistischen Verlust einer ganzen Dimension des menschlichen Lebens und der Welt. Nur ein neues, nichtmehr immer alles objektivierendes Denken kann hier einen neuen Anfang und einen neuen Denkweg vorbereiten.
Es gehört zu den interessantesten Punkten des abendländischen Denkens, wie sich ein Thema vollkommen gegen den Sinn der Sprache bzw. eines gewissen Wortes durchgesetzt hat, nämlich das Thema des Subjektes im modernen Sinne gegen den ursprünglichen Sinn des Wortes „subjectum“ als einer Übersetzung des griechischen HYPOKEIMENON. Im modernen Sinne ist das Subjekt der Gegenpol jedes Objektes, er ist ex definitione ein Non‑objekt, ein Nicht‑gegenstand. Aber was soll damit ein gegenständliches Denken tun? Entweder wird das Subjekt doch als Objekt begriffen, oder wird es auf andere Gegenständlichkeiten überführt – oder es wird aus der Welt herausgejagt oder gar durchaus bestritten. Es hängt wieder nur von einem neuen, nicht‑gegenständlichen, d. h. nicht vergegenständlichenden Denken ab, wie und ob überhaupt das Subjekt legitim zu einem philosophischen Thema konstituiert wird. Als nur ein kleines Anzeichen in diesem Sinne möchte ich dazu noch ein Paar Worte hinzufügen.
Wir haben schon gesehen, daß ein Lebewesen als wahr Seiendes im Ganzen nie „da“ ist, sondern immer nur ein Moment desselben. Tätig kann ein solches wahres Seiendes jedoch nur je im Moment seines Da‑seins, d. h. im Moment einer seiner aktuellen Seiendheiten sein. Nur in einem solchen Moment kann auch das Seiende ein anderes Seiendes begegnen und auch auf es direkt reagieren. Nun gibt es ein Problem. Das eigene Lebensgeschehen eines Lebewesens könnte prinzipiell von seiner „Lebensmelodie“ (Petersen) im voraus bestimmt werden. Eine Begegnung mit einem anderen Lebewesen gehört jedoch in dieser Hinsicht zu kontingenten Momenten jenes Lebensgeschehens. Man hat natürlich verschiedene Mechanismen und Automatismen ausgedacht aufgrund der Wirkmalen und Merkmalen usw., aber damit wurde das Hauptproblem in der Wirklichkeit nur verschoben und verdeckt. Es bleibt ganz ungelöst, wie eigentlich eine Veränderung im Plan der Lebensmelodie entstehen kann, die nicht nur eine Störung ist, sondern ein Fortschritt, d. h. ein Schritt nicht nur vorwärts, sondern auch auf höhere Stufe. Das gilt nicht nur für die Phylogenesis, sondern auch für die Ontogenesis. Und es gilt auch für Formation jeder neuen Erfahrung usw. Es scheint mir, daß wir uns der Konsequenzen nicht entziehen können, die Whitehead in seinem Buch Wissenschaft und die moderne Welt formuliert hat, nämlich daß sich ein Elektron innerhalb eines lebendigen Organismus anders verhält als außerhalb. Whitehead spricht über einen Plan des Körpers; in der Wirklichkeit handelt es sich nicht um den Körper, sondern um das Lebensgeschehen des sich ereignenden Ganzen des lebendigen Wesens. Wie ist es also möglich, daß ein Elektron auf den Plan, auf die Lebensmelodie irgendwie reagiert? Wie kann sich ein Elektron in einen ihn weit überragenden Plan einreihen? Und was ist eigentlich ein solcher Plan, wenn er überhaupt etwas Wirkliches „ist“? Sind wir eigentlich nicht schon bei einem solchen Elektron vor dasselbe Problem gestellt wie auf den höheren Stufen?
Jedenfalls muß klar sein, daß auf der menschlichen Ebene wir ein sich in die Zukunft hinauslehnendes Subjekt brauchen, wenn wir über eine Verantwortlichkeit und eine konkrete Verantwortung überhaupt sprechen wollen. Es hängt natürlich mit der Zeitperspektive: nehmen wir an, daß das wirkliche (innerlich integrierte) Geschehen sich in der Zukunft vorbereitet, dann aus der Zukunft in die aktuelle Gegenwart ankommt, um endlich sich in die Vergangenheit einzureihen, dann muß jedes verantwortliche Subjekt sich tief genug in die Zukunft hinauslehnen, um imstande zu sein, etwas überhaupt zu entscheiden und dann diese Entscheidung zu verantworten. Und wenn wir so was annehmen, dann müssen Konsequenzen gezogen werden: als sich in die Zukunft hinauslehnendes kann das Subjekt nicht zum Da‑sein gehören, weil es „da“ ist ausschließlich in seinem Anderssein, d. h. in seiner Aktion.
So haben wir schon eine ganze Sorte von Wirklichkeiten im Auge, die ganz gewiß nicht zu den gegenständlichen Wirklichkeiten gezählt werden dürfen, die jedoch strukturiert sind und nicht „Nichts“ darstellen, obwohl sie auch nichts Seiendes „sind“. Und daneben können wir noch weitere aussehen. Wo ein Subjekt ist, gibt es auch eine Situation. Die Struktur der Situation kann niemals lediglich auf Gegenständlichkeiten überführt werden. Und das nicht nur, weil die Situation sich immer um ein Subjekt strukturiert, sondern auch darum, weil zu jeder Situation ein Geschehen gehört, und das heißt eine Zukunft. Aus der Zukunft kommen verschiedenste Herausforderungen, wahre und auch unwahre. Daß es auch unwahre, unechte Herausforderungen „gibt“, hängt damit zusammen, daß jede Herausforderung eigentlich vollkommen nicht gegenständlich ist und daß sie gehört werden muß, verstanden und besser oder schlimmer beantwortet. In allen diesen menschlichen Aktivitäten können offensichtlich Fehler sein, aber auch Verhörungen, Fantasieprodukten und Illusionen. In allen solchen Fällen braucht man mehr oder weniger Zeit, um es im Lichte der Wahrheit, des nicht-gegenständlichen Wahren zu sehen und zu hören.
Als Letztes möchte ich etwas ganz eigenartiges erwähnen. Leibniz fragt sich, warum vielmehr etwas ist als nichts. Ich glaube, daß auf diese Frage eine gute meontologische Antwort möglich ist. Das Nichts darf nicht metaphysisch verabsolutiert werden. Das Nichts hat auch gewisse Eigenschaften. Es könnte auch anders sein. Aber unser Nichts, das Nichts, mit welchem wir in unserer Welt oder im Zusammenhang mit unserer Welt zu tun haben, ist labil, nicht stabil. Der Satz „ex nihilo nihil“ ist nicht gültig. Das Nichts treibt nach Etwas – und vice versa.