Die historischen und politischen Bedingungen der Charta ’77 und ihre Folgen
| docx | pdf | html ◆ článek, německy, vznik: 6. 4. 1978
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  • Dopis příteli č. 28

  • Die historischen und politischen Bedingungen der Charta ’77 und ihre Folgen

    Lieber Freund,

    in der letzten Zeit entstand, wie Du schreibst, in den Kreisen der Unterzeichner und der Anhänger der Charta ’77 eine gewise Nervosität, die durch die Tatsache hervorgerufen wurde, daß dem polemischen offenen Brief von Jan Tesař weitere Texte anderer Chartisten und auch eine breitere, schriftlich nicht erfaßte Diskussion folgten. Viele verstehen diese Entwicklung als Beweis für die wachsenden Widersprüche in der Charta ’77 und als ein Symptom des Zerfalls (eines zumindest beginnenden) und der Krise dieser Gemeinschaft. Ich habe meinen Teil schon dazu gesagt. Ich sehe darin lediglich ein Ungewohntsein und auch ein zu oberflächliches Verständnis von „Einigkeit“. Ich denke nicht, daß es irgendeinen Sinn hätte, jetzt beweisen zu wollen, daß die Widersprüche nicht „so groß“ seien und daß die Charta ’77 es noch sehr weit bis zum Zerfall habe. Das muß sich in der Zukunft zeigen – und ich bin zutiefst überzeugt, daß es das tun wird, und daß die Nervosität sich als unberechtigt und überflüssig erweist.

    Ich habe jedoch den Eindruck, daß ein Teil dieser Nervosität ihren Ursprung noch in etwas anderem hat. Die Charta ’77 ist in unserer Geselschaft (und überhaupt in der ganzen modernen Gesellschaft, so wie sie sich in unserem Jahrhundert bzw. in seiner zweiten Hälfte entwickelt) etwas sehr Besonderes, Ungewohntes, Neues. Wer den spezifischen Charakter der Charta ’77 nicht sieht oder nicht anerkent, kan oft in ihrer Beurteilung in Verlegenheit geraten und in seinen überspannten Hoffnungen mehrfach entäuscht werden. Und – fals er auch für die Zukunft durch den „realpolitischen“ Blick auf die gegenwärtige politische Situation geblendet bleibt – er kann sich sogar von der Charta ’77 letztlich trennen und ihr den Rücken kehren. Ich glaube, daß wir uns um eine gründliche Reflexion der bisherigen Aktivitäten der Charta ’77 und der aus ihr folgenden Erfahrungen bemühen müssen (nicht nur einmal, sondern mehrmals und immer wieder), weil wir wirklich auf neuen Wegen sind, wo jeder Schritt vorwärts ein großes und wesentliches Risiko bedeutet – kein vorwiegend politisches oder existenzbedrohendes, sondern generell auch ein menschliches, existenzielles und auch epochales Risiko. Mit den nächsten Zeilen beabsichtige ich, einen kleinen Beitrag zu dieser Aufgabe niederzuschreiben. Die Verlegenheit bei der Beurteilung der bisherigen Aktivitäten und die daraus entstehende Nervosität, ob wir uns nicht auf dem falschen Weg befänden, können nur unter der Voraussetzung einer schärferen Beobachtung der Situation, in der wir uns gesellschaftlich und allgemein menschlich befinden, und auch unter einer schärferen Betrachtung des neuen Weges, den gerade die Charta ’77 für uns und für überhaupt alle erschlossen hat, überwunden werden.

    In jeder Gesellschaft treten mit einem bestimmten zivilisatorischen und kulturellen Niveau Organisationen und Institutionen von zweierlei grundsätzlich unterschiedenen Typen in Erscheinung. Wir können sie nach dem Charakter ihrer Ziele einteilen: Die Ziele der einen sind endlich, die Ziele der anderen sind im Gegensatz dazu unendlich. Demnach haben die Organisationen und die Institutionen des ersten Typus einen pragmatischen Charakter, wogegen die anderen prinzipiell sind. Beide Typen sind in verschiedenen Zusammenhängen und in verschiedenen Richtungen funktionell und notwendig. Es hat sich jedoch gezeigt, daß Kombinationen, bzw. Kreuzungen beider Typen eine ernsthafte Gefahr für die Gesellschaft darstellen. Das Beispiel einer Organisation mit pragmatischem Charakter ist meinetwegen eine politische Partei. Sie basiert auf den Interessen einer bestimmten Gruppe oder Schicht der Bevölkerung und ihr Ziel ist es, diese Interessen zu befriedigen. Das Beispiel einer Organisation oder Institution mit prinzipiellem Charakter ist eine religiöse Gemeinschaft (beispielsweise eine Kirche). Die Ziele der religiösen Gemeinschaft lassen sich nicht ohne weiteres sachlich erfassen und beschreiben, weil sie nicht auf etwas Konkretem, Gegenständlichem basieren, das durch bestimmte Vorgehensweise erreichbar wäre, sondern sie werden nur durch bestimmte Aktivitäten und Handlungen erreicht. (Die alten griechischen Denker sprachen in diesem Sinne von Handlungen, die ihr Ziel in sich selbst haben. Diese Auffassung ist jedoch nicht gut, weil sie die Natur der Sache verdeckt.) Die Vergangenheit hat gelehrt, wie verheerend die Folgen einer politischen Partei sind, die sich Züge einer religiösen Gemeinschaft zu eigen macht, oder umgekehrt einer religiösen Gemeinschaft, die sich politische (machtpolitische) Ziele setzt. In beiden Fällen kommt es nämlich zur Entstehung von etwas wirklich Hybridem („Hybris“ bedeutet im Griechischen „Hochmut, Stolz, Zügellosigkeit, Gewaltätigkeit, Verbrechen, Praserei, Quälerei, Schändung, Wilkür“ nach Prachs Wörterbuch). Um die Abwegigkeit und die Entartung einer solchen synkretistischen Mesalliance genauer zeigen zu können, müssen wir noch eine weitere kurze anthropologische Anmerkung einfügen.

    Der Mensch orientiert sich in der Welt und in seinem Leben auf zweifache Art, d.h. auf einer Doppelebene. Zunächst muß er sich in seiner unmittelbaren und dann in seiner alltäglichen Umgebung orientieren. Auf dieser Ebene bleibt er im Grunde in seiner „privaten Welt“ eingeschlossen, in einer „Welt“, die von der Art und Weise seiner Zueignung, Aneignung und Anpassung abhängig ist, sowie davon, wie er selbst sich an sie adaptiert, wie er sich an sie angelehnt und angeschmiedet hat. Die Grundlage dieses Orientierungstypus ist im Grunde animalische Orientiertheit. Weil aber diese angeeignete Welt, d.h. die „Umwelt“ des Menschen viel komplizierter ist als die Umwelt jedes beliebigen anderen Lebewesens, ohne daß der Mensch wesentlich mehr an feineren Instinkten zur Disposition hätte (er hat im Gegenteil weniger und nur in rudimentärer Form, weil sie geschwächt und „grob“ sind), muß er die Instinkte durch eine andere, neue Form der Aktions- und Systementwürfe ersetzen, deren Basis das Wort wird.

    Die Anwesenheit oder eher die aktive Teilnahme des Menschen in seiner entsprechend „zugeeigneten Welt“, also in der Umwelt, wird in einem immer größerem Maße vermittelt und sogar auf diesem Wege durch seine Teilnahme, oder besser: durch sein Verweilen in der Welt des Wortes, in der Welt der Sprache bestimmt. Zwischen der Umwelt und der Welt der Sprache entsteht eine dauerhafte Spannung, weil die Umwelt, egal wie umfangreich sie ist, immer endlich und begrenzt bleibt, wogegen die Welt der Sprache eine offene und deshalb unendliche (obwohl nicht unbegrenzte) Welt ist.

    Der Mensch, der sich dieser Offenheit der sprachlichen Welt verschließt, weil er in der abgeschlossenen, begrenzten, endlichen Umwelt leben will, versucht den Charakter der Sprache so zu verändern, daß sie dem Charakter der abgeschlossenen Umwelt entspricht, in die er sich geflüchtet hat. Diese Abgeschlossenheit der „Sprache“ verwandelt dann in Wirklichkeit die Sprache in eine Un-Sprache, nämlich in ein bloßes Kommunikationsmittel irgendeines Kollektivs, das durch seine Funktion in der Gesellschaft durch gemeinsame Interessen und ein konkretes (endliches) politisches Ziel usw. profesionel bestimt wird – kurzum in eine Art Rotwelsch für Interessierte und Eingeweihte. Die Analyse des sprachlichen Ausdrucks dieses Menschentypus erlaubt es, sehr genau sowohl die erwähnte Abgeschlossenheit der Umwelt zu erkennen, in der er sich lebenslang orientiert, wie auch die Wertminderung des Verweilens dieses Menschens in der wirklichen Menschenwelt, aus der er nur zweitrangige und abgeleitete Wirklichkeiten rezipiert und sich vor allem Produkte, Güter und Positionen aneignet. Der Niedergang, der Verfall, die parasitäre Form und die allseitige Deduzierung des Lebens und des Denkens dieses Menschen, der sich von seiner Umwelt abschottet und versucht, alle Zugänge zur Welt des Wortes, zur offenen Welt der Menschen zu schließen, also zu der Welt, in der das Interesse der Welt über die Welt der Interessen, die Wahrheit über die Verwendbarkeit und das Recht über die Macht herrschen – all das erlaubt uns, von einem „kitschigen“ Menschen zu sprechen (z.B. im Sine von Herman Broch). Wen wir den wirklichen Wert als ein Kriterium und nicht als ein Artefakt begreifen, dann ist für den „kitschigen“ Menschen charakteristisch, daß er in seinem Leben Werte nur als eine bloße Kulisse, als eine Dekoration einordnen kann.

    Soll der Mensch jedoch ein ausgefülltes, uneingeschränkt sinnvolles Leben leben, dan muß er sich – das ist die zweite Ebene – gerade in der Welt (im Gegensatz zur bloßen Umwelt) orientieren, d.h. er muß sich der Welt öffnen und in ihre Offenheit eintreten. Das Durchbrechen der Umwelt, aus der der Mensch in die offene Welt hinaustreten muß, bedeutet zudem eine notwendige Relativierung der bisherigen Prioritäten, Kriterien, Gewohnheiten und praktischen Grundsätze. Für unser Problem bedeutet das die Relativierung aller Endziele und aller darauf ausgerichteten Aktivitäten. Dabei geht es überhaupt nicht um die Unterdrückung materieller Notwendigkeiten, sondern um die Bestimmung ihres Platzes im menschlichen Leben. Die Gruppeninteressen können problematisiert werden, wenn sich ihre geringe oder gar fehlende Berechtigung zeigt; aber auch die berechtigten Interessen haben nicht die letzte, absolute Wichtigkeit, sondern nur ihren bestimmten Platz auf der Prioritätenskala. Der Mensch ist primär auf die Werte orientiert, die nicht relativ, nur von anderen abgeleitet sind, sondern die letztlich seine gesamte Wert-Orientierung garantieren. Aus der Natur der Dinge müssen es Werte sein, die er selbst nicht beherrscht, die er selbst nicht bestimmt und die sich seiner Manipulation entziehen. Es sind Werte (und Kriterien), die er nicht einfach zur Hand hat, sondern die er sich immer wieder und mit großer Anstrengung erarbeiten muß. Es sind Werte, die ihm nicht zur Disposition stehen, sondern denen er sich selbst zur Disposition stellen muß. Durch das Respektieren dieser Werte richtet der Mensch sein Leben auf Ziele aus, die er niemals definitiv erreicht, sondern denen er sich entweder nähert oder von denen er sich entfernt. Es sind „unendliche“ Ziele, d.h. niemals endende Aufgaben, Ziele, die das menschliche Leben eher prinzipiell als zweckmäßig bestimmen, die also eher zu den Ursprüngen und den Quellen des sinnvollen Lebens gehören als zu den Ergebnissen, die der Mensch erreicht und bei denen er endet.

    Dieser doppelten Ebene oder diesem Niveau der Orientierung des menschlichen Lebens entsprechen auch die erwähnten zwei Typen zivilisatorischer und kultureller Institutionen und Organisationen. Dort, wo es um eine zweckmäßige Gruppierung von Menschen geht, soll das auch nach außen sichtbar werden, ohne dabei vorzutäuschen, daß es sich um mehr handelt. Demgegenüber sollen sie dort, wo sich die Menschen gruppieren, um sich gegenseitig in ihrer Lebensorientierung auf ein „Ziel“ hin behilflich zu sein, das eine Norm und eine Regel für ihr Verhalten ist, ihre Orientierung nicht mit der Erreichung der konkreten Absichten, Zwecke und begrenzten Ziele in Verbindung bringen. In beiden Fällen der Kombination jener zwei Ebenen kommt es zum Schaden, zum Verfall und zur Entartung infolge der Vortäuschung einer Orientierung auf die endlosen Ziele, während es sich eigentlich um begrenzte Interessen und endliche Ziele handelt.

    Der Fehler liegt nicht in der Orientierung auf die endlichen Ziele, sondern im Vortäuschen dessen, was nicht existiert, in der Erhöhung der endlichen Ziele zu endlosen und in der Verlogenheit des individuellen und gesellschaftlichen Lebens, die dann die notwendige Konsequenz ist. Hermann Broch spricht in diesem Zusammenhang von Imitationssystemen. In der israelitischen Tradition und im Christentum, das an sie knüpft, spricht man von falschen Göttern, von Baalen, von Götzen und vom Götzendienst. Diese Aussagen über das entartete Leben, das von Lügen durchdrungen ist und immer weitere Lügen, weitere Gewalttaten und Unmenschlichkeiten aller Art produziert, haben ihre tiefere Wahrhaftigkeit, weil sie auf den religiösen und konfessionellen Charakter, der sie auszeichnet, aufmerksam machen. Eine zweckmäßige und pragmatische Handlung kleidet sich in das Gewand der Hoheit und Erhabenheit, das ihr jedoch nicht zusteht, sie drängt sich als allgemein verbindlich auf, obwohl sie eine Sache der Überlegung und der Kalkulation ist, und sie wird zum Kult, zum Ritual und zur Religiosität. Es gehört zum Wesen einer solchen illegitimen Verschiebung, daß es innerlich korrumpiert und letztendlich gerade das liquidiert, was ursprünglich zu einer heiligen Sache erhöht werden sollte: Der Kult der Vernunft ist der Gipfel der Narrheit, die Religion der Ästhetik watet in den Fluten des Kitsches, die politische Religion führt zu unmenschlichen Exzessen, welche die Gemeinde zerstören, der philosophische Kult endet in der Ideologie als dem falschen Bewußtsein, usw.

    Das Imitationssystem, wie schon Brochs Terminus andeutet, imitiert etwas Hohes, etwas Wertvolles und Kostbares, aber es bleibt bei der bloßen äußeren Nachahmung, da es das Wesentliche nicht nur verliert, sondern sich ihm direkt widersetzt und es gar ausschließt. Die Imitation wird zur inneren Notwendigkeit und sie benötigt ein Imitationssystem gerade deshalb, weil sie durch ihr Wesen und durch ihre spezielle Ebene etwas vollkommen anderes ist, aber wenn sie einmal begonnen hat vorzutäuschen, daß sie mehr ist, muß sie diese Lüge fortsetzen bis zum absurdesten Ende. Die Lüge und die Verlogenheit führen durch ihren besonderen Charakter zu jener Vortäuschung, weil die Lüge nur so lange eine Lüge bleibt, wie sie erfolgreich vortäuschen kann, daß sie keine Lüge ist. Und damit sie das vortäuschen kann, muß sie sich bemühen, die Wahrheit möglichst genau nachzuahmen. Die Lüge, die der Wahrheit nicht ähnelt, ist eine schlechte und erfolglose Lüge. Deshalb ist es notwendig, die erfolgreiche und große, die weltbeherrschende Lüge mit der äußersten Anstrengung und dem größten Kraftaufwand zu entlarven und zu überwinden; das ist sicherlich nicht einfach. Jedes wirkliche Antisystem wird inmitten des eigentlichen Systems, dem es sich widersetzt und das es bedroht, geboren; es wird als eine äußere Nachahmung geboren. Und gerade wegen seiner äußeren Ähnlichkeit mit dem System kann das Antisystem nicht durch bloßes Anlegen von äußeren Maßstäben entlarvt werden. Die Entscheidung zwischen den Werten des Systems und des Antisystems verlangt keineswegs den technischen Zugang eines Spezialisten, sondern das tiefste persönliche Engagement, das angespannte Gewissen und den ganzen Menschen.

    Das alles hat eine eminente Wichtigkeit auch für die politischen Dimensionen des individuellen und des gesellschaftlichen Lebens (obwohl sich jene Wichtigkeit bei weitem nicht nur auf dieses Gebiet beschränkt). Seit den uralten Zeiten, als der Mythos schon die Fähigkeit verloren hatte, das menschliche Leben als Ganzes zu beherrschen und seine innere Integrität auf der Grundlage der mythischen Lebenshaltung (der Orientierung auf Archetypen und die Vergangenheit überhaupt) zu garantieren, und als es notgedrungen zu der Absonderung und Herauskristallisierung der profanen Sphäre einerseits und der sakralen Sphäre andererseits, des Lebens selbst, wie auch der Räume und der Zeiten, d.h. der ganzen Welt, gekommen war; seitdem datiert ein tiefes Bedürfnis und eine innere Notwendigkeit, die sachliche, pragmatische Seite der menschlichen Aktivitäten ernst zu nehmen. Dabei darf man jedoch nicht vergessen, daß das nur die eine Seite des Lebens ist, und keinesfalls die wichtigste (obwohl es bei der Beurteilung der Wichtigkeit immer notwendig bleibt zu klären, von welchem Blickwinkel aus wir eigentlich urteilen).

    Die Gemeinde, „Polis“, ist eine Gemeinschaft von Menschen, die den Willen haben, mit vereinten Kräften die sachliche und praktische Seite ihres Zusammenlebens vernünftig zu verwalten und zu organisieren, die aber davon wissen, daß sie nicht ohne eine tiefere moralische, geistige – und einst auch eine religiöse – Grundlage der gesellschaftlichen und politischen Existenz der Gemeinde auskommen. Der moderne Staat als das überdimensionierte Produkt der Transformation der alten „Gemeinde“ und als ein nur teilweise legitimer Erbe bestreitet die Wichtigkeit des „moralisch-politischen Bewußtseins“ nicht, aber er ist bemüht, aus dem, was man früher unter der Grundlage verstanden hat, eines seiner Instrumente zu machen. Das führt unweigerlich dazu, daß er jeder anständigen Politik jene moralische und geistige Grundlage nimmt, der Glaubwürdigkeit beraubt und von einer Grundlage zu einer Art Dach verwandelt, zu einem Überbau, einer Ideologie. Und gerade dieser illegitimen und aus ernsthaften Gründen unzulässigen Tendenz des modernen Staates muß man sich widersetzen und dem Staat als dem Repräsentanten und dem Konzentrat der gesellschaftlichen und politischen Macht feste Grenzen auferlegen.

    An dieser Stelle erhebt sich die schicksalhafte, weltgeschichtliche Schlüsselfrage: Auf welche Art und Weise kann man das durchführen und gewährleisten? Was können wir überhaupt gegen eine bereits konzentrierte Macht ausrichten? Gegen den Machtapparat des modernen Staates sich zu stellen, ist sogar in solchen Gesellschaften nicht einfach, wo noch die sogenannte Gewaltenteilung gilt und funktioniert, wo also schon traditionell die Integration und die Konzentration der Macht verhindert oder zumindest durch den Charakter der politischen Struktur, die fest in der Verfassung verankert ist, äußerst erschwert ist.

    In einem totalitären Staat sieht das dann gänzlich hoffnungslos aus; die konzentrierte Macht ist zu stark. Und dann sind hier noch erhebliche Schwierigkeiten: Die Macht kann an der Tendenz, willkürlich die Grenzen zu überschreiten, wiederum nur durch eine Macht gehindert werden. Aber wenn wir gegen eine Macht eine andere Macht stellen, so ist auch die zweite Macht wieder nur eine Macht – und als solche hat sie ebenfalls die Tendenz zur Wucherung, zur Konzentration und zum Überschreiten der Grenzen. Die Hoffnung in einer solchen Situation besteht nur darin, daß beim Rivalisieren zweier Mächte sich beide gegenseitig schwächen und dadurch kleinere oder größere Nischen entstehen, in denen einigermaßen normal zu leben möglich ist. Dieser Weg ist jedoch nur für eine Minderheit und für unauffällige, durch nichts auf sich aufmerksam machende Menschen offen. In ähnlichen Überlegungen könnten wir noch weiter fortfahren und sie noch viel weiter führen. Aber als Beispiel reichen sie vollkommen aus; aus ihnen wird klar, wie klein unsere Chance ist, in der gegenwärtigen Welt eines der größten Probleme des Gesellschaftslebens zu lösen.

    Eine grundlegende Sache haben wir jedoch vergessen: Was ist das eigentlich: die konzentrierte Macht? Wie entsteht sie? Wie kann sie sich erhalten? Ist sie wirklich von denen unabhängig, die sie beherrscht und die sie zwingt, das zu tun, was sie nicht wollen?

    Vielleicht wird uns schon eine oberflächliche Analyse zeigen, daß die Grundlage der gesellschaftlichen und politischen Macht nicht ihre materielle Ausstattung und ihre Zwangsmittel sind, sondern die Menschen, die noch gerade eben bereit sind, sie zu respektieren und sich ihren Ansprüchen unterzuordnen, aber natürlich auch die Menschen, die sich ihrer Gewaltmittel bedienen. Nur Bürger mit geschwächtem moralischen und geistigen Hintergrund, nur verweichlichte und korrumpierte Bürger, nur furchtsame Menschen und solche, für die es nichts gibt, was ihr persönliches Opfer und ihre Entbehrung rechtfertigen würde, können zu bereitwilligen Objekten und Instrumenten der totalen Macht werden, die vor nichts haltmacht und auch in solchen Bereichen interveniert, die sie nichts angehen (nichts angehen sollten) und wo ihre Anwesenheit und ihr Eingreifen absolut illegitim und illegal ist.

    Die Perspektive der Verbesserung können wir also ziemlich klar in zweifacher Weise sehen: Jede Situation ausnützen, wo die Macht geschwächt ist (wobei die Bürger sehr selten eine solche Situation herbeirufen oder bewirken können); diese erste Perspektive demobilisiert jedoch zu sehr die breiten Schichten, vor allem, wenn es notwendig ist, zu lange zu warten. Demgegenüber ist es möglich, sofort und unter allen Umständen mit einer allgemeinen Aufklärung zu beginnen und das Niveau des gesunden, geistigen und infolgedessen auch politischen Lebens der einzelnen Bürger und auch der Bürgergruppen und der Bürgerschichten zu heben.

    Aus den aufgezählten Gründen ist es weder eine reine Taktik noch der Versuch, nur aus der Not eine Tugend zu machen, wenn die Charta ’77 den Weg der Bildung einer politischen Opposition und einer Orientierung auf eine politische Machtbeteiligung für sich abgelehnt hat. Wer nur mit den Kriterien machtpolitischer Erwägungen und des Kalküls ausgestattet ist, der besitzt keine Voraussetzungen, das eigentliche Wesen und die zentrale Mision der Bürgerinitiative „Charta 7“ zu verstehen. In den ersten Wochen ihrer Existenz wurden zweifellos von vielen Menschen machtpolitische Hoffnung in ihre zukünftige Wirkung gesetzt, die die Charta ’77 jedoch nicht erfüllen konnte, auch wenn die hysterische offizielle Reaktion mit ihren übertriebenen Befürchtungen solche Hoffnungen nur genährt hat.

    Vielleicht kann es deshalb manchem so erscheinen, als ob die Charta ’77 ihren entscheidenden Moment schon hinter sich habe und daß sie jetzt nur noch dahinvegetiere; oder gar, daß sie von Anfang an falsch orientiert gewesen sei und deshalb enttäuschen mußte. Dies könnte wiederum einige zu der Anstrengung verleiten, innere und äußere Veränderungen bei ihr zu bewirken, damit sie sich eine Position erzwingen könne, die dann auch die gegenwärtigen politischen Repräsentanten würden respektieren müssen. Ohne Rücksicht auf die Fehler in der gesamten politischen Einschätzung und Erwägung, die solche Ansichten verraten, ist jenen die völlige Unterschätzung der Wirklichkeit gemeinsam, die aus der Geschichte hinreichend bekannt ist, nämlich, daß alle wesentlichen gesellschaftlichen Veränderungen, Übergänge und Umstürze immer gedanklich, geistig und moralisch, und sogar strukturell sowie materiell (obwohl im kleineren Ausmaß) lange gründlich vorbereitet waren, bevor sie in Wirklichkeit realisiert wurden. Sofern dem nicht so war, konnten nicht einmal trotz der größten Opfer nennenswerte Ergebnisse erreicht werden, und die Gesellschaft fiel meistens in den alten Trott zurück (gleichviel, ob sich die Situation etwas lockerte oder im Gegenteil in ein noch schärferes Restaurationsregime mündete).

    Die Charta ’77 ist gerade in der Form, die sie hat, wichtig. Es ist charakteristisch, daß mit ihr keine andere Plattform entstanden ist, die „politischer“ wäre, d.h. mehr machtpolitisch orientiert. Und was noch viel bedeutender ist: Die Charta ’77 wird auch in einer anderen politischen Struktur als in der, in der sie entstanden ist, funktionsfähig bleiben, und ihr Wirken ist auch in den gegenwärtigen Gesellschaften, die einen anderen Charakter haben als die unsere, sinvol. Dies verspricht der Charta ’77 noch eine lange Zukunft, die auch die schärfsten Diskussionen und Polemiken nicht bedrohen können, welche sie im Gegenteil eher klären und reinigen werden.

    Dein

    Ladislav Hejdánek

    Prag, den 6.4.1978