Charta ’77 und der Zusammenhang zwischen Unterdrückung und Aufrüstung
| docx | pdf | html ◆ článek, německy, vznik: 15. 11. 1979
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  • Dopis příteli č. 54

  • Charta ’77 und der Zusammenhang zwischen Unterdrückung und Aufrüstung

    Lieber Freund,

    Du hast mich um einen Kommentar und eine Beurteilung des Gerichtsverfahrens gegen die sechs Mitglieder des „Komitees für die Verteidigung der zu Unrecht Verfolgten“ (VONS) gebeten, das am 22. und 23. 10. 1979 stattfand. In der Tat gibt es nichts, was zur Erläuterung oder Erhellung hinzuzufügen wäre. Die Art und Weise des Prozeßverlaufs spricht für sich selbst. Ein schlechtes Gewissen (vielleicht ist das nicht der richtige Terminus, eher die Gewißheit, daß hier eine falsche Sache vertreten wird) war bei allen, die irgendeine amtliche Funktion zu vertreten hatten, sichtbar. Es ist wahrscheinlich noch nie dagewesen, daß ein so bedeutungsvoller Prozeß, der überall in der Welt verfolgt wurde, so schlecht, ja direkt schlampig vorbereitet war. Ein kanadischer Rechtsanwalt, der das Einreisevisum erhalten hatte, weil er in der Begründung ausdrücklich angegeben hatte, diesem Prozeß beiwohnen zu wollen, und den sie dennoch nicht in den Gerichtssaal eingelassen haben, sagte, nachdem er sich mit der Anklageschrift vertraut gemacht hatte, daß er nicht einmal in Kanada die Verteidigung hätte übernehmen können, weil trotz der Weitschweifigkeit der Anklageschrift hier gar kein Fall, kein Vergehen vorliege; und daß nirgendwo auf der Welt, wo wenigstens die primitivsten Normen für die Prozeßführung gelten, irgendein Richter diesen Prozeß hätte annehmen dürfen. Es war, kurz gesagt, eine Provokation. Eine Provokation, ein Schlag ins Gesicht nicht nur für die einheimische Öffentlichkeit (die sich schon mehr als genug hat gefallen lassen müssen), sondern für die ganze zivilisierte Welt. Und diese Welt reagiert darauf mit Ablehnung, und es werden bestimmt noch weitere Reaktionen erfolgen.

    Am meisten sind wir jedoch über das Interesse der verschiedensten, von den eigenen Regierungen unabhängigen Bürgerinitiativen erfreut und befriedigt. Das ist das bedeutendste und aussichtsreichste Ergebnis, das die sinnlose Tat unserer Ämter hervorgebracht hat. Eine Tat, die die tschechischen und mährischen Verteidiger der Menschen- und Bürgerrechte treffen sollte. (Und wäre es nach den Absichten derer gegangen, die für die Razzia verantwortlich waren, dann hätten diese Verteidiger sicher auch zerstreut und möglichst liquidiert werden müssen). Die Zukunft Europas und der ganzen Welt liegt in der ständigen Stärkung und Erweiterung des Fundaments für die unabhängigen Bürgerinitiativen in allen Ländern, im Osten genauso wie im Westen. Die gemeinsamen Aktionen der Solidarität und der Zusammenarbeit aller Art gehören zu unseren wichtigsten Aufgaben. Von den Protestaktionen, welche logischerweise ganz am Anfang stehen, müssen wir möglichst früh zur positiven Arbeit übergehen, deren Ziel die Emanzipation der nationalen und übernationalen gesamtgesellschaftlichen Aktivitäten von den hypertrophen Ansprüchen der modernen Staaten sein muß. Und das ist nur unter den Voraussetzungen einer parallelen Entwicklung in diese Richtung in den beiden Machtblöcken wie auch in den neutralen Ländern realisierbar. (Leider läßt sich eine parallele Entwicklung in absehbarer Zeit auch in allen Ländern der Dritten Welt nicht erwarten. Trotzdem muß man für den Sieg dieses Gedankens auch dort eine möglichst große Zahl an politischen Köpfen gewinnen).

    Wir sind nicht allzu erfreut, wenn die Diskriminierung und Verfolgung der demokratisch denkenden und bürgerlich selbstbewußten Mitglieder der Gesellschaft bei uns und in den übrigen Ländern des sowjetischen Blocks zum bevorzugten Argument für die westlichen militanten Kreise wird. Aber unsere Gefühle haben kein großes Gewicht. Man muß tatsächlich damit rechnen, daß solche Repressionsakte seitens unserer Regierungen – wie es z.B. der gerade zu Ende gegangene politische Prozeß gegen diejenigen ist, die als Bürger tapfer die Rechte der gesetzwidrig verfolgten Mitmenschen verteidigen, die für die Gerechtigkeit und Gesetzlichkeit in diesem Lande kämpfen und die amtliche Willkür ins Rampenlicht stellen – sehr fatale Folgen auch und vor allem auf dem internationalen Forum nach sich ziehen werden. Die internationalen Dokumente, die zum Bestandteil unserer Rechtsordnung wurden, sowie das Abschlußdokument von Helsinki formulieren in aller Deutlichkeit die Beziehung zwischen der Verletzung der Menschen- und Bürgerrechte innerhalb der einzelnen Länder und ihre Verletzung zwischen den einzelnen Ländern und stellen fest, daß diese den Frieden bedrohen. Unseren Regierungen muß bewußt werden, daß diese Bedrohung, resp. die wiederholte Bedrohung des Friedens durch gesetzwidrige Repressionen auch auf der internationalen politischen Ebene ausgenutzt und mißbraucht wird. Diese Gesetzwidrigkeiten sind hinter allen möglichen Verkleidungen verborgen und richten sich gegen politisch verantwortliche Bürger, welche die Willkür der staatlichen und amtlichen Organe und Diskriminierungen aller Art kritisieren. Und ein Land, das seine Verpflichtungen seinen eigenen Bürgern gegenüber nicht erfüllt (obwohl es sich zu ihnen auf dem internationalen Forum bekannt hat), wird auch bei der Unterzeichnung der zwischenstaatlichen Verträge und Verpflichtungen nicht glaubwürdig wirken.

    Die Gemeinschaft der westeuropäischen Länder ist in diesen Wochen durch die Frage der Nachrüstung bezüglich der Mittelstreckenraketen gewaltig bewegt. Seitens des sowjetischen Blocks können wir täglich hören und lesen, wie die Zukunft Europas in schwärzesten Farben dargestellt wird, wenn es tatsächlich zur Abstimmung kommen sollte und die neuen Raketen produziert und stationiert werden. Die Kampagne ist enorm und grenzt stellenweise an Hysterie (und deutet auf die Absicht hin, eine Hysterie herbeizuführen). Ist die Situation wirklich so ernst? Und ist die Ursache für die Unruhe nur dieser Plan der Produktion und der Stationierung der neuen Raketen in den westeuropäischen Ländern?

    Jede der beiden Seiten betreibt ihre eigene Propaganda: die westlichen Länder weisen darauf hin, daß die Sowjetunion durch die Stationierung von Mittelstreckenraketen an ihren westlichen Grenzen eine einseitige Überlegenheit erzielt und ihre Waffen modernisiert habe. Die Sowjetunion bestreitet die eigene Überlegenheit und behauptet, daß die Kräfte ausgeglichen seien. Wir Nichtfachleute können schwer beurteilen, welche der beiden Seiten recht hat; aber vielleicht ist das gar nicht so wichtig. Wir können uns viel besser an eindeutigeren Tatsachen orientieren.

    Am Ende des zweiten Weltkrieges waren die Vereinigten Staaten ohne jeden Zweifel technisch wie militärisch der Sowjetunion überlegen (mit einer Ausnahme: bei den Raketen hatte die Sowjetunion einen Vorsprung). Die Sowjetunion tat alles Mögliche, um die amerikanische Überlegenheit auszugleichen. Sie produzierte eigene atomare und thermonukleare Waffen, modernisierte die übrige militärische Ausrüstung, und vor allem setzte sie die Entwicklung der Raketen sehr intensiv fort (die sie auch für die Satelliten häufig anwendete und weiter anwendet). Der Westen reagierte sehr nervös darauf, aber das war verständlich, da er Zeuge der ständigen Erweiterung und Stabilisierung der sowjetischen Machtsphäre war. Die Sowjetunion hat als die einzige Siegermacht ihr Territorium durch den Krieg wesentlich erweitert. Daneben hat sie riesige Teile Mittel- und Osteuropas und des Balkans in die Sphäre ihres Machtbereiches und ihrer Kontrolle eingeschlossen. Heute hat sie in allen diesen Ländern (mit Ausnahme von Rumänien) ihre Armeen stationiert. Im Jahre 1968 verursachte die Intervention in der Tschechoslowakei in den westeuropäischen Ländern einen politischen Schock. Seit dieser Zeit kehren die Überlegungen der westeuropäischen militärischen Fachleute immer wieder zu der Frage zurück, ob Westeuropa imstande wäre, einem eventuellen sowjetischen Angriff überhaupt standzuhalten. In der gegenwärtigen Zeit muß auch der Laie einsehen, daß es das allein, ohne amerikanische Hilfe, nicht könnte. In letzter Zeit werden in erhöhtem Maße Befürchtungen geäußert, daß das Schicksal Westeuropas unter bestimmten Umständen an den Rand des amerikanischen Interesses gedrängt werden könnte; deshalb ist es verständlich, daß vor allem die Militärs ihre eigenen Länder besser gesichert haben möchten.

    Von großer Bedeutung sind jedoch noch weitere Aspekte der ganzen Angelegenheit. Der Präsident der Vereinigten Staaten ist ernsthaft und ehrlich darum bemüht, daß der Kongreß das SALT-II-Abkommen ratifiziert, wobei er dieses Abkommen nicht leicht durchsetzen kann. Einer der Gründe, warum er die westeuropäische Verteidigungsfähigkeit durch neue Raketen stärken möchte, ist, den Kongreß dazu zu bewegen, das Abkommen nicht abzulehnen. Die sowjetische Machtdemonstration im Jahre 1968 in der Tschechoslowakei, die Anwesenheit der sowjetischen bewaffneten Kräfte auf Kuba und anderswo, die kubanischen militärischen Operationen in Afrika, die vietnamesische Aktion in Kambodscha usw. sind sicherlich keine Beiträge zur Verminderung der amerikanischen und westeuropäischen Befürchtungen bezüglich der sowjetischen „Bedrohung“. Wenn dann noch eine Steigerung der Repression innerhalb der sozialistischen Länder hinzukommt, muß das notwendigerweise sowohl in der westeuropäischen als auch in der amerikanischen Öffentlichkeit eine Unlust hervorrufen, irgendwelche Abrüstungsverträge abzuschließen, weil die Regierungspolitik in den Ländern des sowjetischen Blocks nicht ausreichend kontrollierbar ist, und auch durch die wenig informierte und politisch machtlose Bevölkerung nicht kontrolliert werden kann. Hinzu kommt noch die Tatsache, daß durch die neue Rüstungsrunde sich die kapitalistischen Länder zum Teil (und natürlich nur vorübergehend) einiger ihrer wirtschaftlichen Schwierigkeiten entledigen.

    Ich bin davon überzeugt, daß die Sowjetunion sich keine neue Rüstungsrunde wünscht, weil sie ihre wirtschaftlichen Probleme nur unter der Voraussetzung der Verminderung der riesigen Last, die eine solche Rüstung darstellt, überwinden könnte. Im Westen existieren Befürchtungen, daß die Sowjetunion ihre innenpolitischen Schwierigkeiten nicht lösen können wird, sondern sie nur durch die machtpolitische und vielleicht direkt durch eine militärische Expansion überdecken könnte. Ich denke nicht, daß solche Befürchtungen berechtigt sind, weil die inneren Widersprüche in der Sowjetunion im Falle einer großen Spannung und sicherlich im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung erst richtig und mit voller Kraft aufbrechen würden. Die Sowjetunion möchte eher ein strategisches und taktisches Gleichgewicht der militärischen Kräfte aufrechterhalten, weil sie sich vor einer fremden Aggression fürchtet; sie möchte die Übermacht erreichen, um wenigstens machtpolitischen Druck erzeugen zu können. Trotzdem ist jedem Beobachter die immer neue Demonstration ihrer Stärke sowie der Unwille, sich der politischen Denkweise der Weltöffentlichkeit anzupassen, sehr verdächtig. Das Mißtrauen auf der einen Seite vergrößert notwendig das Mißtrauen auf der anderen Seite; und das führt zu immer kostspieligeren Versuchen, die Überlegenheit gegenüber der anderen Seite zu erreichen.

    Bei der Beurteilung der Wahrscheinlichkeit eines möglichen Angriffs auf Westeuropa muß man auch den chinesischen Faktor in Betracht ziehen. Jeder Konflikt, der die Sowjetunion in eine auch nur zugespitzte Spannung (und noch mehr in einen heißen Konflikt) mit Westeuropa bringen sollte (wobei Europa schon jetzt als ein fester Block gesehen werden muß), würde notwendigerweise nicht nur sofort durch die amerikanischen Interessen, sondern auch durch die chinesischen Ansprüche kompliziert werden. Das ist zumindest für mich einer der schwerwiegendsten Gründe, warum ich eine wie auch immer geartete Aggression oder Intervention gegen die westeuropäischen Länder seitens der Sowjetunion für unwahrscheinlich halte. In diesem Sinne verstehe ich sogar die unseligen Ereignisse Ende August 1968 bei uns. Das Hauptmotiv war die Befürchtung und die Angst davor, daß der Sowjetblock geschwächt werden könnte, wenn eines der Satellitenländer sich allzu selbständig zeigen oder gar um ein neues Modell des Sozialismus bemühen würde. Ähnlich verstehe ich auch die heutigen Reaktionen auf den Plan der Stationierung der Mittelstreckenraketen in den westeuropäischen Ländern, die durch die Angst verursacht werden, daß dadurch notwendigerweise die politische Spannung in einem Gebiet steigen wird, für das sich die Sowjetunion aufrichtig „Frieden und Sicherheit“ wünscht.

    Ohne Zweifel erscheint mir die Situation ganz anders als den westeuropäischen Ländern und den Vereinigten Staaten. Und das überrascht nicht. Die Motive sind letztlich nicht entscheidend, entscheidend sind die Tatsachen; und die sprechen gegen die Sowjetunion. Für die westeuropäischen Politiker mußte jede militärische Intervention der Sowjetunion in den Ländern, die sie in die Sphäre ihres ausschließlichen Machtbereiches einbezogen hatte als eine Warnung und Aufforderung zugleich erscheinen. In einem sehr außergewöhnlichen Maße war das 1968 der Fall, als unser Land eine „internationale Hilfe“ erfuhr. Die sowjetische Führung war offensichtlich davon überzeugt, daß das „Abbröckeln“ der Tschechoslowakei aus der unmittelbaren sowjetischen Einflußsphäre (wie das im Kreml zwar unrichtig, aber dafür eindeutig interpretiert wurde), die Beruhigung auf der gesamten europäischen Szene gebremst oder gar unmöglich gemacht hätte, um die sich die Sowjetunion aus durchaus realen Gründen ehrlich bemühte. Aber heute zeigt sich, daß die Anwendung von Mitteln, wie der massiven militärischen Intervention mit ihrer ganz überflüssigen Machtdemonstration, ein gleiches, wenn nicht größeres Hindernis und eine größere Bremse ist. Die Sowjetführung ist davon überzeugt, daß sie keine Gelegenheit versäumen darf, gegen die sogenannten Dissidenten mit harten Repressionen vorzugehen; aber ihr wird nicht bewußt, daß gerade diese Repressionen sie der Glaubwürdigkeit, nicht nur bei den demokratischen Politikern, sondern auch in der ganzen demokratischen Weltöffentlichkeit berauben. In diesem Sinne kann ich meine unerschütterliche Überzeugung äußern, daß die Sowjetunion dem Frieden und der Sicherheit nicht nur in Europa viel näher wäre, wenn es im Jahre 1968 nicht zu der Intervention in der Tschechoslowakei gekommen wäre oder wenn es jetzt nicht zu diesem absurden Prozeß gegen die Verteidiger der Menschen- und Bürgerrechte in der Tschechoslowakei käme – und wenn es nicht da und dort immer wieder zu ähnlichen Übergriffen käme.

    Es ist bekannt, daß eine ganze Reihe von amerikanischen Senatoren und Kongreßabgeordneten die Ablehnung des SALT-II-Abkommens direkt mit der Verfolgung der Mitglieder des „Komitees für die Verteidigung der zu Unrecht Verfolgten“ (und überhaupt der tschechoslowakischen Verteidiger der Menschen- und Bürgerrechte) in Zusammenhang gebracht hatte. Ich gebe zu, daß das in einigen Fällen nur ein Vorwand sein könnte; aber ich frage mich, warum unsere Regierungen so leicht und unüberlegt der anderen Seite solche Vorwände liefern. Wenn es in den letzten drei Jahren zu ziemlich wesentlichen Veränderungen des weltpolitischen Klimas gekommen ist, so hat die Politik der Sowjetunion und des ganzen sowjetischen Blocks einen großen Anteil daran. Bei Carters Regierungsantritt lag der Gedanke an eine neue Rüstungsrunde der amerikanischen Öffentlichkeit äußerst fern, und die Vorstellung eines umfassenden Nachrüstungs- und Umrüstungsprogramms war innenpolitisch einfach undenkbar. Auch der Widerstand gegen bewaffnete Interventionen, hervorgerufen durch den Frust und den Katzenjammer des vietnamesischen Debakels, war noch sehr lebendig. Wir haben doch noch gut in Erinnerung, wie die amerikanischen Militärkreise im Jahre 1976 mit der – ansonsten sehr unwahrscheinlichen – Möglichkeit einer inneren Demokratisierung oder zumindest einer Teilliberalisierung des Sowjetblocks rechneten (die „Befürchtungen“ sind allerdings älteren Datums, sie waren z.B. zur Zeit des „Prager Frühlings“ deutlich). Carters Betonung der Menschenrechte konnte damals in diesen Kreisen nur dann Genugtuung hervorrufen, wenn sie als Test aufgefaßt wurde, ob eine solche Möglichkeit sich vielleicht doch abzeichnen könnte und ob sie vor allem als eine gewisse Art von Provokation neue Repressionen innerhalb des Sowjetblocks hervorrufen würde. Heute sind die Vertreter der harten Linie in den kapitalistischen Ländern wirklich zufriedengestellt. Die Sowjetunion (und der ganze Ostblock) hat ihre Chance nicht erkannt, höchstwahrscheinlich deshalb, weil ihr Menschen mit einem wirklich staatsmännischen Denken fehlen. Den führenden Partei- und Regierungskreisen in den sozialistischen Ländern jagte der Gedanke Angst ein, daß sie jetzt den dritten Korb von Helsinki ernst nehmen sollten, und das um so mehr, als die Bürgerinitiativen auftraten und sich auf die beiden internationalen Pakte und das Abkommen von Helsinki zu berufen begannen. Die folgenden Reaktionen der Machtapparate verursachten einen empfindlichen Verlust an politischem Prestige (einen Verlust des politischen Prestiges der einzelnen sozialistischen Länder und des Ostblocks insgesamt). Bis jetzt wurde in dieser Hinsicht vielleicht der Gipfel im Prozeß gegen die – bisher – sechs Mitglieder des VONS-Komitees erreicht, der eine riesige Welle von Ablehnung und Protesten in der ganzen Welt hervorgerufen hat. Es war ein politischer Prozeß und deshalb ist er auch politisch zu beurteilen. Und die politische Beurteilung kann hier nur einhellig lauten: Es war ein komplettes Debakel.

    Die Staatsorgane haben hier nun in anderer Form ihren schicksalhaften Fehler aus den ersten Wochen des Jahres 1977 wiederholt. Damals haben sie kostenlos und umfangreich Reklame für die Charta ’77 vor allem bei uns zu Hause gemacht, heute haben sie für die Charta ’77 und das VONS-Komitee in der ganzen Welt eine noch größere Reklame gemacht. Ihre Aktionen haben ihnen selbst und ihrem Regime sehr geschadet, ohne daß sie dabei für sich irgendetwas Positives hätten gewinnen können. Demgegenüber haben wir zweifellos Opfer bringen müssen, dafür aber sehr sinnvolle und wirksame. Wir dürfen nicht meinen, daß wir etwas wirklich Wertvolles ohne Kampf und ohne Einsatz unseres Lebens erreichen können. Ich bedaure, das alles als derjenige sagen zu müssen, der in Freiheit geblieben ist; aber ich sage das im Vertrauen darauf, daß meine Freunde, die verurteilt wurden und heute in der Haft auf ihren Berufungsprozeß warten, es mir nicht übelnehmen, wenn sie ruhmreich wieder in unsere Reihen zurückkehren, in die Reihen von Menschen, die bereit sind, einen Teil ihrer schweren Bürde auch auf die eigene Schulter zu nehmen.

    Wir haben eben erfahren (bislang nur bruchstückhaft und ungenau), daß in den Reihen der europäischen Sozialisten ein Plan geboren wurde, eine Kommission oder so etwas wie ein „Tribunal“ zu gründen, das alle für die Beurteilung des Gerichtsverfahrens und seiner Ergebnisse wichtigen Fakten untersuchen soll. Ich weiß nicht, wie weit dieser Gedanke verbreitet ist und ob er genügend energische und organisatorisch fähige Anhänger haben wird. Ich würde das aber sehr begrüßen, vor allem wenn die Initiative wirklich eine sozialistische wäre (eventuell in Zusammenarbeit mit den europäischen Kommunisten). Den Repräsentanten unserer Regime müßte bewußt werden, daß sie ihre Sympathie und ihr Vertrauen auch in den sozialistischen und kommunistischen Kreisen verlieren. Ihnen muß bewußt werden, daß es nutzlos ist, vorzutäuschen, die Verteidiger der Menschenrechte seien Söldner irgendwelcher Spionage- und Sabotagezentralen, und daß sie bezahlte Verräter am eigenen Volk u.ä. seien.

    Der Fall kommt natürlich noch vor eine Berufungsinstanz, d.h. vor das Oberste Gericht. Wie die Situation aussieht, wird das wahrscheinlich nicht mehr in diesem Jahr stattfinden, sondern erst im Januar nächsten Jahres; und es läßt sich nicht ausschließen, daß es zur Verhandlung direkt vor oder sogar zwischen den Feiertagen kommt. In unseren Medien fiel weder über den Prozeß gegen die restlichen vier Angeklagten aus der „Prager Zehnergruppe“ noch über den Prozeß gegen Albert Cêrný aus Brünn, soweit ich informiert bin, ein einziges Wort. Es ist zu erwarten, daß es zu den Prozessen nicht vor der Urteilsverkündung im Berufungsverfahren gegen die ersten sechs Angeklagten kommt. Es ist schwer abzuschätzen, wie der Verlauf und wie die Urteile aller dieser Verfahren ausfallen werden. Mit Rücksicht darauf, daß das Strafmaß im Falle der ersten sechs Angeklagten offensichtlich im letzten Augenblick und entgegen dem Antrag des Staatsanwaltes fast um die Hälfte gesenkt wurde, können wir jetzt mit einer weiteren Herabsetzung der Strafbemessung nicht rechnen. Der Druck der Weltöffentlichkeit ist jedoch so stark, daß minimale Minderungen in einigen Fällen nicht auszuschließen sind. Einen Freispruch halte ich jedoch für höchst unwahrscheinlich, obwohl ich ihn als die vernünftigste und aus der Sicht des Regimes als die politisch perspektivenreichste Entscheidung betrachten würde. Die Regimes unseres Typs verhalten sich jedoch sehr selten vernünftig. Ich nehme an, daß die Menschen, die darüber tatsächlich zu entscheiden haben, eher die Möglichkeit einer Amnestie im nächsten Jahr erwägen (gewissermaßen nach dem Vorbild der DDR in diesem Jahr). Ohne diese Amnestie kann ich mir die Lage unserer Delegation in Madrid (im November des nächsten Jahres) nicht vorstellen.

    Meine Beurteilung möchte ich mit einer kleinen, ganz privaten Anmerkung schließen. Sollte ein Experte mit der Aufgabe betreut werden, ein Verfahren zu erarbeiten, wie der Staatsapparat bei der Verwendung von ziemlich einfachen Mitteln sich selbst im höchsten Maße unmöglich machen könne, so könnte dieser Fachmann (sofern er wirklich eine Qualifikation dafür vorzuweisen hätte) durchaus das Verfahren wählen, dessen Zeugen wir waren und auch weiterhin bleiben. Ich habe das schon einmal angedeutet, aber diese Vorstellung zwingt sich mir immer wieder auf. Immer wieder überkommt mich die Vision, daß irgendwo im Hintergrund von allem ein schlauer Herr sitzt, der sich auf einem hohen Niveau Schwejkiaden ausdenkt und von seiner Tätigkeit Belege für den Fall vorbereitet, daß … Das wäre sehr tschechisch; aber es wäre nicht schön.

    Dein

    Ladislav Hejdánek

    Prag, den 15.11.79