Ethik und Politik
| docx | pdf | html ◆ článek, německy, vznik: 5. 1. 1978
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  • Dopis příteli č. 22

  • Ethik und Politik

    Lieber Freund,

    ich habe jetzt längere Zeit geschwiegen, weil ich, wie ich Dir schon einmal angedeutet habe, die Briefe in dieser Form endgültig beenden wollte. Vor allem zwei Gründe haben mich dazu veranlaßt. Einerseits hatte ich den Eindruck, als ob ich begonnen hätte, mich in allgemeineren Überlegungen zu wiederholen, und daß diese Gefahr mit weiteren Briefen wachsen könnte. Andererseits schien mir das Schreiben aktueller Kommentare und eine Beurteilung der Ereignisse immer problematischer zu werden, weil ich ständig überlegen mußte, wie weit ich das alles als private Person machen darf, also unabhängig von meiner Funktion als Sprecher der Charta ’77. Aber Du und Deine Freunde haben mich überzeugt, daß bereits die Form der Briefe eine Garantie dafür ist, daß niemand meine Ansichten und Formulierungen als „offiziell“ auffassen wird. Ihr habt mir sogar zu verstehen gegeben, daß ich eine solche Möglichkeit haben muß, meine persönlichen Standpunkte, unbelastet von allen möglichen Kompromissen, zu denen es notgedrungen bei der Vorbereitung der gemeinsamen und sozusagen „offiziellen“ Texte kommt, zum Ausdruck zu bringen. Ich habe noch den Einwand erhoben, daß damit keineswegs das offensichtlichste, vordergründige Problem gelöst sei; und Ihr habt mir vorgeschlagen, daß ich die Thematik, mit der ich mich befassen werde, völlig frei erweitern solle. Das hat mir gefallen; ich habe das so ausgedrückt, daß es im Inhalt der Briefe zu einer gewissen wen auch nicht alzu radikalen – Richtungsänderung komen wird, und zwar von der politischen Problematik zu breitangelegten anthropologischen Themen, z.B. zu moralischen resp. ethischen Fragen. Damit habt Ihr Euch einverstanden erklärt. Ich fühle mich jetzt freier und hoffe, daß mir durch dieses freie Gefühl auch das Schreiben besser gelingen wird.

    Natürlich wird der Übergang nicht so abrupt sein, wie man vielleicht erwarten könnte. Ich möchte am Anfang zeigen, warum ich meine, daß die Betonung der moralischen Seite des individuellen und gesellschaftlichen menschlichen Lebens nicht zu den Überresten vergangener Zeiten gehört, sondern daß sie auch heute ihre aktuelle Bedeutung hat. Und ich muß zugeben, daß es hier auch für mich selbst des öfteren etwas Neues zu entdecken gibt. Die Ethik war niemals mein Spezialfach und sie gehörte nicht einmal zu meinen Hauptinteressen. Obwohl ich bewußt an die wesentlichen christlichen Traditionen angeknüpft habe, war ich immer bemüht, sie von fremden oder zumindest uneigentlichen Ablagerungen zu befreien, an erster Stelle von der Religiosität (dadurch bin ich gerade in den christlichen Kreisen am meisten angeeckt), aber auch von der „Metaphysik“, oder genauer gesagt: von der gedanklichen Tradition, die im alten Griechenland begründet wurde, von falschem politischem Engagement, aber auch von der nicht weniger falschen apolitischen Haltung (die zumindest bei uns die größte Gefahr für die heutigen etablierten Kirchen darstellt), und last not least von den Ablagerungen fremder Moral im Christentum, namentlich der bourgeoisen Moral, die hauptsächlich in den reformierten Kirchen die Orientierung am Glauben sozusagen fast ersetzt hat. Aber in den letzten zehn Jahren wurde ich trotzdem gegen meinen Willen und gegen meine eher ontologisch philosophische Orientierung immer stärker zu den moralischen Themen hingeführt und nicht selten sogar direkt dazu gezwungen. Ich möchte nicht sagen, daß das die Folge irgendeiner inneren Logik meiner gedanklichen Entwicklung ist (einer meiner langjährigen Freunde hat vor geraumer Zeit zu mir gesagt, wie sehr ihn überrasche, daß ich mich philosophisch so gut wie nicht entwickele; ich kann nicht gut beurteilen, inwieweit er Recht hat), aber ich würde sagen, daß ich dazu durch die Wirklichkeit gezwungen bin, d.h. durch die geselschaftliche Wirklichkeit, in der ich lebe und in der ich notwendigerweise auch denke. Und ich stelle oft erst nachträglich fest, daß diese Verschiebung in meinem Denken nicht nur durch äußeren Einfluß herbeigeführt wurde, sondern daß sie auch ihre inneren, tieferen Wurzeln und Quellen hat, zu denen vorzudringen sich die philosophische Reflexion bemühen muß.

    Als Ende des Frühlings vergangenen Jahres (1976) der bekannte englische Dramatiker tschechischer Abstammung, Tom Stoppard, in Prag weilte, traf ich mich mit ihm eines Abends, ohne zu wissen, daß er am Vormittag auch mit einem bekannten tschechischen Historiker, Marxisten und Kommunisten (damals jedoch schon aus der Partei ausgeschlossen) gesprochen hatte. Dieser hatte ihm auf seine Art (von der er selbst überzeugt ist, daß sie zu den Wurzeln des Problems führt) erklärt, daß die Charta ’77 eine politische Opposition darstelle, mag sie das in ihren Dokumenten und in ihrer Erklärung noch so hartnäckig leugnen. Es sei angeblich nur eine Illusion, wenn jemand von der Charta ’77 als von einer moralischen Opposition spräche. – Das alles wußte ich am Anfang nicht; Tom Stoppard hat es mir erst am Ende unseres Gespräches erzählt, erst als ich ihm bereits meinen eigenen Standpunkt dargelegt hatte. Ich erklärte ihm, daß die Deklaration der Charta ’77 für mich und für eine Reihe meiner Freunde ein Experiment gewesen sei, etwas, was ein wichtiger Test sein sollte (übrigens habe ich darüber schon im ersten Brief geschrieben, den ich Dir Anfang des letzten Jahres zugeschickt habe). Ein solcher Test sei notwendig gewesen, um zu erfahren, ob unsere Regierung, die Nationalversammlung und der Präsident ihr Einverständnis mit den internationalen Pakten über die Menschenrechte usw. wirklich ernst und ehrlich meinen oder nicht, ob sie ihre Verpflichtungen, die aus den internationalen Vereinbarungen und der Unterzeichnung des Abschlußdokuments der Helsinki-Konferenz hervorgehen, einhalten und ernstnehmen wollten oder nicht. Der englische Dramatiker fragte mich, ob ich – wenn auch nur theoretisch – voraussetzen könne, daß die Regierung eine Situation überleben könnte, in der die Forderungen der Charta ’77 erfüllt würden. Ich antwortete ihm, daß die Chartisten keine speziellen Forderungen ausgesprochen hätten, sondern daß sie sich nur auf die Verpflichtungen beriefen, die die Regierung selbst freiwillig auf sich genommen habe und auf deren tatsächlicher Einhaltung (wie auch auf der Einhaltung der Gesetze überhaupt) sie bestünden. Ich hätte nicht vor, zu beurteilen, ob die Regierung fähig sei, diese Verpflichtungen einzuhalten oder nicht; das sei nicht meine Sache. Wenn die Regierung nicht in der Lage sei, ihre Verpflichtungen und Gesetze in der Praxis einzuhalten, solle sie solche Gesetze einfach nicht verkünden. Deshalb hätten wir uns darüber Klarheit verschaffen müssen. Falls es unsere politischen Repräsentanten wirklich ernst meinten, dürften wir ihnen unsere Unterstützung nicht versagen und müßten ihre lobenswerte Bemühung mit allen Kräften unterstützen. Falls sich jedoch zeigen sollte, daß alles bloß ein taktisches Manöver gewesen sei, und daß die politische Führung nicht einmal für einen Augenblick daran gedacht habe, ihre Handlungen durch ein „Stück Papier“ einschränken zu lassen, dann könnten wir dazu natürlich nicht schweigen, sondern müßten bereits heute zeigen, welches geringe Gewicht unsere eigenen Gesetze und die angenommenen internationalen Vereinbarungen für unsere Regierung hätten. Das Hauptziel der Charta ’77 sei deshalb, ein grelles Licht auf die Situation unserer Gesellschaft, in der wir leben, zu werfen. Unsere Aktivität sei streng rechtmäßig; uns gehe es auch nicht um eine politische Aktion im technischen Sinne, die gegen die Regierung gerichtet sei. Wir wollten die Regierung nicht in ein ungünstiges Licht stellen; wir wollten bloß, daß sie sich im vollen Licht und in ihrer wahren Gestalt zeige. Auf unsere Initiative werde sie irgendwie reagieren müssen. In diesen Reaktionen werde sie sich selbst darstellen. Uns gehe es nicht um eine Opposition, und schon gar nicht um eine politische Opposition, sondern um eine ganz bestimmte Position. Und unsere Position sei auch wiederum nicht vornehmlich politisch, sondern eben moralisch. Uns gehe es nicht um eine politische Aktion, sondern um eine moralische Aktion. Wir wollten nicht wie Lügner leben, und wir wollten auch nicht dadurch lügen, daß wir schwiegen.

    Tom Stoppard hat darüber in der Zeitschrift „New York Review of Books“ geschrieben. Seinen Bericht haben einige meiner ausländischen Freunde gelesen, die mich dann in der Tschechoslowakei besuchten und mir eine ganze Reihe von Fragen stellten. Sie wollten, daß ich meinen Standpunkt näher erläutere und präzisiere; sie wollten, daß ich mein Mögliches, aber auch Unmögliches tue. Sie wollten von mir z.B., daß ich eine Betonung der moralischen Seite des Sachverhaltes politisch begründe. Zunächst erschien mir gerade dies absolut unmöglich, ja absurd: Wenn ich politische Argumente für den Respekt gegenüber der moralischen Komponente des Sachverhaltes suche, gestehe ich doch ein, daß die politische Seite grundlegender und daß die Moral nur eine Art ideologische Aura des politischen Kampfes ist. Aber das ist offensichtlicher Unsinn; die Moral kann sich niemals so schnell den Peripetien des politischen Kampfes anpassen – allein vom rein technischen Gesichtspunkt aus, vor allem, weil der Charakter jeder Berufung auf moralische Prinzipien und Grundsätze gerade entgegengesetzt strukturiert ist: In der Distanz zur augenblicklichen Situation und ihrer verwirrenden Kompliziertheit suchen wir eine Stütze in der Erfahrung und den allgemein geltenden Regeln. Aber dann fielen mir zugleich zwei Sachen ein; ich fand eine Lösung, die mir erlaubte, die Betonung der moralischen Entscheidung und der moralischen Integration des menschlichen Lebens überhaupt, politisch zu begründen – und zugleich wurde mir bewußt, daß ich irgendwie vergessen habe, zwischen dem moralisierenden und dem wirklichen moralischen Zugang zur Situation zu unterscheiden. Heute werde ich mich nun auf den ersten Punkt beschränken, aber auf den zweiten Punkt werde ich in den nächsten Briefen öfter zurückkommen.

    Nach der Vollendung des ersten Jahres des Bestehens der Charta ’77 als einer Bewegung der bürgerlichen Initiative müssen wir vor allem zwei Aspekte vor Augen haben, nämlich ihren Stellenwert und ihre Bedeutung in unserer Gesellschaft. Auf der einen Seite wurde sichtbar, daß bei uns nur eine sehr begrenzte Gruppe bzw. Schicht von Menschen existiert, die unsere Aktivitäten mit Haß und einem tiefen Angstgefühl verfolgen. Ich glaube, daß nur diese Menschen unsere wirklichen Gegner und Feinde sind. Ihre Antipathie und ihre Angst gründen in den Ressentiments, von denen sie sich nach vielerlei Schocks, beginnend mit den ungarischen und polnischen Ereignissen der 50er Jahre nach Stalins Tod und mit dem „Prager Frühling“ von 1968 endend, nicht freimachen konnten. Sie sind in keiner festen Formation ideell vereinigt, und sie haben auch kein positives und konstruktives Programm; sie sind nur total konservativ und haben vor jeglicher Veränderung panische Angst. Diese Menschen sind gesellschaftlich unnütz, ohne jegliches Fachwissen und ohne jede Bildung, bestenfalls halbgebildet, aber mit einem ziemlich großen Anteil an Macht und am Nationaleinkommen. Jede gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche u.a. Komplikation bedeutet für sie sofort das politische Aus gerade wegen ihres „Unvorbereitetseins“ und ihrer Unfähigkeit und stellt für sie eine existenzielle Bedrohung dar. Um dem entgegenzuwirken, kennen sie nur eine Methode: Gewalt und Terror. Es sind jene, die permanent versuchen, ihr eigenes Gefühl der Bedrohung auf andere zu übertragen, sie in eine riskante, weil nach innen und auch nach außen provozierende, unangemessene Anwedung der machtpolitischen Mittel hineinzuziehen. Ihr einziges Ziel ist die Erhaltung des Status quo. Sie bleiben jedoch vornehmlich in der Anonymität verborgen und treten bis auf ein paar Ausnahmen nicht vor die Öffentlichkeit. Sie haben nicht genügend Macht, Intelligenz und Mut, um selbst zu entscheiden; sie benötigen Verbündete. Und zu denen zählen einerseits verbürokratisierte Mitarbeiter des Staatsapparats und andererseits erheblich jüngere Technokraten. Dies ist jedoch eine Schicht, die für die Charta ’77 keine Sympathie hegt, aber die auch keinen Grund hat, hysterisch und emotional ablehnend auf sie zu reagieren, um so mehr, als sich nach einem Jahr der Existenz der Bürgerbewegung die Zurückhaltung und fast schon ängstliche Einhaltung der Legalität im Vorgehen der Unterzeichner der Charta ’77 überzeugend gezeigt hat.

    Demgegenüber empfindet die Mehrheit der Gesellschaft der Charta ’77 gegenüber mehr oder weniger Sympathie. Freilich ist das nur eine platonische und gänzlich oberflächliche Zuneigung. Denn diese Mehrheit ist sehr mißtrauisch. Sie will in keine „unnötigen“ Schwierigkeiten verwickelt werden. Zudem betrachten sie die Charta ’77 als eine „Donquichotterie“ und demnach als eine „unvernünftige“ Angelegenheit. Nur Menschen mit stärkeren Resten an Gewissen oder solche, die etwas schreckhafter sind, haben von Zeit zu Zeit das Bedürfnis, sich etwas expressiver abzureagieren. Es existiert jedoch auch ein ziemlich umfangreiches Hinterland, ohne das die Charta ’77 nur sehr schwer (insbesondere in der nächsten Zukunft) bestehen könte, und für das die Charta ’77 so etwas wie der sichtbare Teil eines Eisberges ist. Die Charta ’77 von diesem Hinterland zu trennen, wäre nur durch die Erfüllung ihrer Forderungen möglich. Das bedeutet: nur durch eine wirkliche Normalisierung der Situation im Lande, durch die Beendigung jeglicher Art der Diskriminierung, durch die Wiederherstellung der strengen Legalität und durch die rechtliche und praktische Verwirklichung der beiden internationalen Pakte über Menschenrechte auf allen Ebenen. Die Kräfteverteilung im Lande (wenn wir vom Interventionsdruck, der freilich auch kompliziert und nicht eindeutig ist, absehen), die gesellschaftliche, die ökonomische und sogar die politische Situation lassen eine solche Lösung nicht nur als möglich erscheinen, sondern – und davon bin ich überzeugt beide werden sie früher oder später direkt erzwingen (selbstverständlich, je später, desto größer werden die Verluste und wahrscheinlich auch die Verschiebungen in der sozialen Struktur sein, wie es denn gewöhnlich eben ist). Inzwischen geht langsam die Zeit zu Ende, in der eine wirkliche und vernünftige Normalisierung mit Hilfe der gewählten politischen Maßnahmen hätte erzielt werden können. Die einzige Kraft, die diesen Weg gehen könnte, sind heute wahrscheinlich die Technokraten. Sie sind zwar zahlenmäßig und fachspezifisch stärker als die schon genannte Schicht der verbürokratisierten und im Grunde nur parasitär lebenden Konservativen, aber vorläufig wagen sie es nicht, auch nur die notwendigsten z.B. wirtschaftlichen Schritte zu unternehmen, einmal aus Furcht vor einer wütenden Kritik seitens der Konservativen und zum anderen aus Angst vor der Möglichkeit, daß bei jedweder politischen Veränderung die Situation ihren Händen entgleiten könnte. Durch ihr Zögern vergrößern sie jedoch die Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses, ja sogar die Wahrscheinlichkeit, daß es zu ihm noch vor dem Versuch einer positiven Lösung kommt. Die Charta ’77 kann in diesen Angelegenheiten nichts unternehmen. Sie kann vor allem keine eigene Lösung, keine Alternative anbieten. Deshalb ist sie keine politische Opposition und kann auch keine werden. Die Charta ’77 ist ein Mahnruf, die vielleicht letzte Warnung und Aufforderung zur Vernunft. Dies bedeutet, daß die Katastrophe vor der Tür steht. Allerdings wußten schon die alten Griechen, daß die Götter denjenigen, den sie vernichten wollten, geblendet haben.

    Hierzu tritt noch ein letzter Umstand, den ich heute erwähnen möchte. Der heutige Status quo ist unhaltbar (und das nicht nur in unserem Lande, wie man verstärkt überall wahrnehmen kann). Trotzdem belastet der politische Aspekt dieser unhaltbaren Situation – wenigstens bisher – die Mehrheit der Gesellschaft noch nicht unerträglich. Wirklich schwer Betroffene gibt es nicht allzuviele und zusammen mit den direkt Betroffenen (also nur den zufällig Geschädigten und ungerecht Behandelten) sind es vielleicht nur einige Zehntausend. Die übrigen sind nur unzufrieden. Das ist jedoch die Folge des Umstandes, daß der wirkliche Zustand der Gesellschaft auf der einen Seite offiziell verheimlicht wird und auf der anderen Seite faktisch selbst den höchsten Staatsorganen verborgen bleibt. Die allgemeine Unzufriedenheit kann sich aber aus der oberflächlichen Mißlaune schnell und durchgreifend vermittels einiger unpopulärer Schritte verändern, auch wenn sich diese „unpopulären“ Schritte bei genauer und vernünftiger Überlegung als absolut notwendig erweisen sollten. Früher oder später wird es zu diesen unpopulären Maßnahmen kommen müssen; und dies wird eine gewisse Krise bewirken. In Krisensituationen muß sich jede Regierung auf das Verständnis und die Loyalität der Bürger verlassen können. Voraussetzung dafür wird hier jedoch ihre eigene Glaubwürdigkeit sein, die das Vertrauen seitens der Bürger ermöglichen kann. Und man wird an all das, was den Bürgern resp. ihrer Mehrheit gemeinsam ist, anknüpfen müssen. Politische Argumente werden nicht mehr ausreichen, weil viele Menschen auf solche politischen Argumente nicht mehr hören und ihnen auch nicht mehr glauben werden. Die Regierung wird in erster Linie die moralische Unterstützung der Bürger benötigen, weil sie ihnen für die erste Zeit nichts anzubieten haben wird. Eine moralische Unterstützung und das Vertrauen der Bürger kann sie jedoch nur dadurch erlangen, daß sie nichts verheimlichen und nur die Wahrheit sagen wird. Aber gerade das könnte politisch sehr fraglich sein; aus diesen Gründen erscheint auch die Initiative der Charta 7 als sehr fraglich. Aber ist das nicht nur ein Beweis für falsches politisches Denken?

    Der absoluten Mehrheit der Bürger steht etwas ganz anderes viel näher als die Tatsache, daß die führenden Künstler, Wissenschaftler, Denker, Politiker usw. jeder Möglichkeit gemäß ihrer Ausbildung, ihren Fähigkeiten, ihrem Talent und Gewissen zu arbeiten und zu schaffen, völlig oder teilweise beraubt sind. Sie wissen, daß das ein Unrecht ist, aber sie fühlen dabei nicht ihre eigene Bedrohung. (Darin werden sie durch die eigenen Gefühle getäuscht, was jedoch nicht ihre eigene Schuld ist. Die Schuld liegt in erster Linie bei der Intelligenz, die allzuoft versagt und ihren Kredit in der Gesellschaft, den sie noch um die Jahrhundertwende genoß, eingebüßt hat.) Demgegenüber fühlen sich alle „unwohl“, wenn sie ein verlogenes Leben in verlogenen Verhältnissen führen müssen. Egal, ob die Menschen darauf verbittert, resignierend, kritisch oder zynisch reagieren, alle wissen irgendwie, daß das Leben in Lüge menschlich unwürdig und auf Dauer unerträglich ist. Und wir alle leben heute inmitten von unsinnigen Lügen, zu denen jeder Bürger, jeder Mensch seit seiner Kindheit genötigt und gezwungen wird, an die aber lange schon keiner mehr glaubt, die fast niemand ernst nimmt und derer sich dennoch jeder am Arbeitsplatz, in der Schule, in der Öffentlichkeit und in verschiedensten Organisationen bedient, ohne darin viel mehr als nur eine Art „Katzbuckeln“ oder eine rituelle Handlung zu sehen. Wenn jemand diese Sachen ernst nimmt und sich um Wahrhaftigkeit bemüht, wird er oft dem Spott der anderen ausgeliefert, die das persönliche „Hervortreten“ für absoluten Unsinn halten und sich lieber im „Gebüsch“ verstecken. Es ist bei uns dazu gekommen, daß die Wahrheit, die die alten Griechen als „Alétheia“, d.h. „Unverhülltheit“ oder „Unverdecktheit“ bezeichneten, versteckt wird, und daß im Gegenteil das Verhüllen und das Verschleiern zum offensten und offensichtlichsten Merkmal unseres öffentlichen und notwendigerweise auch privaten Lebens wird. Es gibt Menschen, denen das alles sehr entgegenkommt, das gebe ich zu, aber ich bin mir sicher, daß es sich nur um eine kleine Minderheit handelt.

    In der Lüge zu leben, ist nicht genug, besonders wenn die Lüge aufgehört hat, sich selbst zu kultivieren und längst ihre betörende Macht verloren hat und in Armseligkeit verfallen ist. Auf der Lüge läßt sich nämlich kein ganzheitliches, harmonisches menschliches Leben aufbauen; die Lüge führt zur Spaltung. Wir alle werden gezwungen, auf gewissen Weise schizophren zu leben. Das ist kein soziales und politisches Elend, das ist ein moralisches Elend. In dieser Sache geht es uns allen gleich. Deshalb habe ich den Eindruck, daß über die Lösung dieses Problems der Weg zur gegenseitigen Verständigung und neuer Einigkeit führt. Bei aller Meinungsverschiedenheit über die mögliche politische Lösung der Krise, in der wir stecken, kann unser gegenseitiges Verständnis und unser gegenseitiger Respekt nur auf dem festen Willen zur Wahrheit und auf dem Widerstand gegen die Lüge beruhen. Jede politische Lösung ist immer nur eine einstweilige, relative und kompromißbehaftete Lösung. Daneben müssen wir aber irgendeinen gemeinsamen Orientierungspunkt, irgendein Kriterium, irgendeine Norm für unsere politische Entscheidung haben. Politisch kann sich unsere Situation nur schrittweise bessern; aber in jedem Augenblick muß die Wahrheit darüber, wie die wirkliche Situation ist, und worin wahrhaftig der politische Kompromiß besteht, auf den sich die einen oder die anderen eingelassen haben, geäußert werden dürfen.

    Auch wenn sich die Situation für uns günstig entwickeln sollte, können wir nicht erwarten, daß alle Probleme und Schwierigkeiten sich von selbst und sofort lösen werden. Sich als Radikale aufzuführen, hilft uns nicht, weil es wirkungslos und unpraktisch ist. Der größte Fehler wäre freilich, wenn wir uns mit Halbheiten zufrieden gäben. Wir müssen sehr geduldig sein, aber wir müssen in jedem Augenblick wissen, was wir morgen und übermorgen tun wollen. Die integrale Form unseres Lebens bedeutet, daß unsere Vergangenheit, unsere Gegenwart und unsere Zukunft zueinander gehören und daß sie nur in ihrer Ganzheit einen Sinn haben werden. Das alles läßt sich natürlich nicht ohne ein moralisches Fundament und eine moralische Verankerung erreichen. Der kategorische Imperativ eines wirklich sittlichen, wirklich moralischen Lebens ist die gedankliche und gelebte Wahrhaftigkeit. Das bedeutet einerseits Aufrichtigkeit, andererseits bedingungslose Offenheit für die Wahrheit.

    Ich habe Dir versprochen, daß ich Dir jenen kurzen Text zuschicke, den ich anläßlich der Gelegenheit des ersten Jahrestages der Tätigkeit der Charta 7 in aller Eile vorbereitet und vorgetragen habe. Aber ich bin noch nicht dazu gekommen, den Text ins Tschechische zu übertragen. Ich schicke ihn im nächsten Brief mit. Bleib gesund im neuen Jahr!

    Dein

    Ladislav Hejdánek

    Prag, den 5.1.1978