- in: Ladislav Hejdánek, Wahrheit und Widerstand. Prager Briefe, přel. Milan Walter – Eva Bauer, München: P. Kirchheim, 1988, str. 135–139
Sozialismus und Demokratie
Lieber Freund,
Du hast mich beim Wort genommen und fragst, ob ich wirklich der Demokrat sei, für den ich selbst mich halte, wenn ich mich an der „Erneuerung und Wiedergeburt des sozialistischen Programms“ orientiere, wenn ich von der Einhaltung der „sozialistischen Gesetzlichkeit“ spreche und wenn mir angeblich gar nicht in den Sinn kommt, daß in unserer Gesellschaft und in unserem Staat auch solche Menschen existieren können, die nicht nur keine Marxisten-Leninisten, sondern auch keine Sozialisten sind. Welcher Unterschied besteht also zwischen unseren Kommunisten, die keinen anderen Sozialismus akzeptieren als ihren eigenen, und mir, der ich zwar im Sozialismus Meinungspluralismus prinzipiell zulasse, aber zugleich darauf bestehe, im Rahmen des Sozialismus bleiben zu müssen? Deine zentrale Frage lautet: „Wie kann ich meine Verbindung zwischen Sozialismus und Demokratie als das Fundament und die Voraussetzung für den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft begründen?“
Ich vermute, daß Du auf einen der grundlegendsten Aspekte der modernen Demokratie hingewiesen hast, und deshalb werde ich diesem Problem einen ganzen Brief widmen. Zunächst aber müssen wir das Thema negativ eingrenzen. Ich will von einem konkreten Beispiel ausgehen. Im Jahre 1972 wurde ich (ähnlich wie eine ganze Reihe anderer) vor Gericht gestellt und wegen einer strafbaren Handlung verurteilt, die ich angeblich aus „Feindschaft gegenüber der sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung“ begangen häte. Diese strafbare Handlung, für die ich verhaftet wurde – und die ich in Wirklichkeit nicht begangen habe -, ist in meinem Fall gleichfalls nur vermutet und mir niemals nachgewiesen worden. (Für das Folgende ist es nicht von besonderer Wichtigkeit, daß ich später amnestiert wurde und daß ich heute wieder als unbescholtener Bürger angesehen werden muß.) Konkret bedeutet das: Wenn zwei Menschen sich entscheiden, die gleiche Tat zu begehen, kann der eine verurteilt und der andere freigesprochen werden, je nachdem, ob ihr Motiv „die Feindschaft gegenüber der sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung“ war oder nicht. Karl Marx schrieb einst sehr detailliert über die Gesetze, die aufgrund einer Tendenz verfolgen, und über die Situation, in der ein Bürger, konkret: ein Schriftsteller „dem furchtbarsten Terrorismus, der Jurisdiktion des Verdachts, ausgeliefert ist“ (K. Marx, Werke Bd. 1, S. 14). Es lohnt sich, diesen Text genauer zu lesen; aber ich möchte hier nur einen Punkt von Marx' Kritik hervorheben, und zwar wenn er schreibt: „Das Gesinnungsgesetz ist kein Gesetz des Staates für die Staatsbürger, sondern das Gesetz einer Partei gegen eine andere Partei. Das Tendenzgesetz hebt die Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetz auf. Es ist ein Gesetz der Scheidung, nicht der Einigung, und alle Gesetze der Scheidung sind reaktionär. Es ist kein Gesetz, sondern ein Privilegium. Der eine darf tun, was der andere nicht tun darf, nicht weil diesem etwa eine objektive Eigenschaft fehlte, wie dem Kind zum Kontrahieren von Verträgen, nein, weil seine gute Meinung, seine Gesinnung verdächtig ist“ (K. Marx, Werke, Bd. 1, S. 14/15).
Hier haben wir also einen Aspekt, der die ganze Angelegenheit betrifft: Sozialismus als Tendenz, als Überzeugung bzw. Gesinnung, oder Meinung und Programm. Und in dieser Angelegenheit ist nur eine einzige demokratische Schlußfolgerung möglich: Jeder Bürger, auch in einem sozialistischen Staat, hat das volle Recht, anders zu denken als nur sozialistisch, und hat auch das Recht, seine gegebenenfalls ablehnende Haltung gegenüber dem Sozialismus und seine Kritik am Sozialismus frei zu äußern. Vor allem hat er das Recht auf ein eigenes Verständnis von Sozialismus, mag er sich mit dem so verstandenen Sozialismus identifizieren oder sich von ihm kritisch distanzieren. Es existiert kein Arbeiter und es darf auch keine Instanz in einem wirklich demokratischen Staat existieren, die darüber entscheiden würde, welche Auffassung vom Sozialismus die richtige und welche die falsche ist. Hier darf es nur Experten geben, die durch ihre Bildung, ihr Wissen und ihr strenges methodisches Denken den Respekt gewinnen, den ihnen weder eine offizielle Funktion noch ein machtpolitischer Schutz garantieren kann. Die Meinungsverschiedenheit darf an dieser Stelle nur in einer Diskussion durch die Anwendung von Argumenten überwunden werden. Machtpolitische oder administrative Reglementierung ist unzulässig, und falls sie dennoch praktiziert wird, ist sie unmoralisch und gesetzwidrig.
Wenn aber der Staat, der Staatsapparat und die Staatsorgane nicht befugt sind, die Diskussionen und die Meinungsstreitigkeiten über die unterschiedlichen Auffassungen vom Sozialismus machtpolitisch zu beeinflussen, dann bedeutet das, daß ich als einzelner Bürger oder vielleicht als Mitglied bestimmter Vereinigungen oder Organisationen solche Auffassungen vom Sozialismus aufs schärfste kritisieren darf, wenn sie unüberlegt, inkonsequent, verdreht, deformiert usw. sind (unabhängig davon, ob sie für oder gegen den Sozialismus gerichtet sind). Eine der grundlegenden Arten der Unlogik und Deformation sehe ich in solchen Auffassungen, die die demokratischen und sozialistischen Prinzipien voneinander trennen. Der Sozialismus in seiner Hauptintention ist als die Erweiterung der demokratischen Grundsätze auf das soziale und ökonomische Gebiet entstanden. Die Geschichte hat nämlich gezeigt, daß die demokratischen Grundsätze und Prinzipien ihre Gültigkeit nur auf dem Papier behalten, sofern sie auf die rein politische Sphäre beschränkt sind. Die neuzeitlichen Demokraten haben öfters Hoffnungen enttäuscht, die die breitesten Volksschichten auf sie gesetzt haben, einfach deshalb, weil sie ihre eigenen Grundsätze nicht konsequent genug realisiert haben. Was nützt es zu verkünden, daß alle Menschen frei geboren und in ihrer Würde und ihrem Recht untereinander gleich sind, wenn ein Kind in die bedrückende Situation einer kinderreichen Familie hineingeboren wird, wenn diese Familie zudem sozusagen in einer „Spelunke“ wohnt, wo der Vater mehr als ein halbes Jahr arbeitslos und zudem krank ist, wo die Mutter keine Kräfte mehr hat und wo das einzige Einkommen von den zwei ältesten, noch nicht erwachsenen Kindern nach Hause gebracht wird? Der Umstand, daß alle Menschen mit Verstand versehen sind, führt hier den Verstand selbst zur Verzweiflung. Das Gewissen wird – ähnlich wie die Brüderlichkeit – zu etwas außerordentlich Fraglichem. Die Formulierung, daß jeder alle Rechte und alle Freiheiten habe, ohne jegliche Unterscheidung z.B. nach den Vermögensverhältnissen, wird zum herausfordernden Sarkasmus. Und das Recht aufs Leben schrumpft; ein Bissen rettet dann das Leben wenigstens für eine Weile. Wenn die demokratischen Grundsätze gelten sollen, dann muß man sie unbedingt und kompromißlos – so erweitern, daß sie nicht bloße Worte bleiben. Unser Beispiel könnte zu der Schlußfolgerung verleiten, daß sie hauptsächlich in Bezug auf die materielle Sicherung des Lebens eines jeden Bürgers erweitert werden sollen, aber das wäre ein Irrtum. Der Mensch benötigt den anderen Menschen mehr als ein Stück Brot. Er benötigt viel dringender das Wofür, d.h. den Lebenssinn, als die Mittel zum Leben, als das Wie. Aber in jedem Falle benötigt er auch das Brot und die sonstigen Mittel sehr dringend. Und wenn ihm solche zum Leben notwendigen Mittel fehlen, dann nützen ihm auch alle deklarierten Freiheiten und alle verbrieften Rechte überhaupt nichts. Der Sozialismus ist durch sein Wesen nichts mehr und nichts weniger als ein derartiger Vollzug der Gedanken, eine derartige Applikation und Erweiterung der demokratischen Grundsätze und Prinzipien auf die soziale und ökonomische Sphäre.
Die Geschichte hat jedoch gezeigt, daß man das überwältigende Programm der sozialen und ökonomischen Erneuerung der Gesellschaft zur Unterdrückung und Suspendierung der politischen und kulturellen Freiheiten und Rechte mißbrauchen kann (egal ob bewußt mit bösen Absichten oder unbewußt mit guten Vorsätzen; beides endet meistens gleich). Menschen, die Hunger haben, sind eher geneigt, die Sorgen um Presse- oder Meinungsund Redefreiheit beiseite zu lassen. Menschen, die ihre Miete nicht bezahlen können, kümmern sich gewöhnlich nicht darum, ob sie in fremde Länder reisen können oder nicht. Menschen, die ihr ganzes Leben für ein paar lumpige Heller geschuftet haben, schätzen zunächst und an erster Stelle, daß sie sich satt essen können und daß sie ein Dach über dem Kopf haben. Und wenn sie ihr Häuschen modernisieren oder sogar ein neues bauen können, wenn sie sich ein Auto leisten und sich „städtisch“ kleiden können – auf dem Dorfe ist es heutzutage so -, dann haben sie häufig nicht viel Verständnis für die Probleme der Schriftsteller, Journalisten, Politiker, Wissenschaftler usw., die ihre Arbeit nicht so ausüben können, wie sie es am besten könnten und wie sie gern möchten, oder die ihren Beruf überhaupt nicht ausüben dürfen. Solche Menschen berührt es manchmal einfach nicht, daß aus den Bibliotheken Bücher und Zeitschriften entfernt werden, die irgend jemand „da oben“ für schädlich hält.
Aber die Geschichte hat ebenfalls gezeigt, daß eine solche Gleichgültigkeit sich nicht auszahlt. Nach den politischen Freiheiten kommen unumgänglich auch die übrigen Freiheiten an die Reihe. Sobald einmal die unfolgsamen Journalisten ausgeschaltet sind, beginnt man der Bevölkerung verschiedenste Tatsachen zu verheimlichen und andere vorzutäuschen, die der Wirklichkeit überhaupt nicht entsprechen. Sobald die unbestechlichen Literaturkritiker und andere suspendiert sind, kann der Buchmarkt mit wertlosem Zeug überschwemmt werden; nur genehme Maler werden ihre Arbeiten in Ausstellungen zeigen können; in die Zeitungen kommen nur ausgewählte Beiträge (sogar in die Fachzeitschriften der Biologie kommen nur solche Beiträge, die die Genetik als eine bourgeoise Pseudowissenschaft rituell verurteilen usw.). Aber nicht nur das. Wenn ein Angestellter aus Gründen entlassen wird, die gar nicht existieren, zeigt es sich, daß sich die Gewerkschaftsorganisation in ihrer Aktivität nur auf die Anweisung der Ferienschecks und die Organisation von Festversammlungen und -sitzungen oder Unterhaltungsveranstaltungen beschränkt, daß sie es sich aber nicht mehr erlauben kann, für ihr Mitglied einzutreten. Kurzum, zum Schluß sind wieder alle betroffen, meinetwegen nur so, daß sie gezwungen sind, die Folgen einer laienhaften Führung des Betriebs, der Branche oder gar der ganzen Volkswirtschaft auf ihren Schultern zu tragen, da die Volkswirtschaft einen erheblichen Teil ihrer Effektivität infolge der Kriterienverschiebung, nach denen die leitenden und führenden Kader ausgewählt werden, verloren hat. Die Wiedergutmachung ist dann äußerst schwierig und in der Regel nur unvollkommen und vorübergehend, falls sie nur im Rahmen einer propagandistischen Kampagne durchgeführt wird und keine dauerhafte, immer wiederkehrende Erneuerung darstellt. Obwohl Marx (Engels auch) zu den radikalen Demokraten gehörte, leidet der marxistische Sozialismus bereits seit den zwanziger Jahren unter antidemokratischen Deformationen. Und bis heute ist es niemandem gelungen, ihn davon durch eine Reform oder einen Erneuerungsversuch zu befreien. Aber genauso sind wiederum die sogenannten westlichen demokratischen Staaten nicht fähig, das Problem der Arbeitslosigkeit grundsätzlich zu lösen, auch wenn sie von der sozialen Seite her bereits sehr viel geleistet haben (anfänglich vor allem, um der kommunistischen Gefahr zu begegnen, aber heute ist die soziale Absicherung der Bürger ein wichtiger Bestandteil ihrer Politik). Und so stellt sich heute die Frage etwa so: Beweisen eher die westlichen Demokratien ihre Lebensfähigkeit durch die Erweiterung der demokratischen Prinzipien auf den sozialen und wirtschaftlichen Bereich, oder beweist eher der sogenannte Realsozialismus seine Lebensfähigkeit dadurch, daß er die politischen und kulturellen Freiheiten konsequent zur Geltung bringt (und natürlich, daß er seine ökonomische Effektivität wesentlich erhöht)? Egal wie es ausgeht, sicher ist, daß das weltgeschichtliche Bedeutung haben wird, weil über die Zukunft der Welt, wie über die Zukunft der Demokratie und des Sozialismus weder in den USA noch in der UDSSR (selbstverständlich auch nicht in Europa) entschieden wird, sondern in den größten Ländern der dritten Welt: in den lateinamerikanischen politischen Giganten wie Argentinien und Brasilien, aber auch in Asien, in China, Indien und dem bis heute noch sehr zersplitterten Afrika. Bis jetzt sind die demokratisch-politischen Strukturen auf einem allmählichen, aber unübersehbaren Vormarsch. Vorwärts bewegt sich unzweifelhaft auch das Bewußtsein von der Notwendigkeit, die demokratischen Prinzipien auch auf den sozialen und ökonomischen Bereich zu erweitern. Aber der Sieg der sozial und sozialistisch orientierten Demokratie in der Dritten Welt wird für das nächste Jahrzehnt das entscheidende Ereignis sein, für das man nur eines tun kann: ein gut funktionierendes und zugkräftiges Vorbild zu schaffen.
Dein
Ladislav Hejdánek
Prag, den 3.3.1977