- in: Ladislav Hejdánek, Wahrheit und Widerstand. Prager Briefe, přel. Milan Walter – Eva Bauer, München: P. Kirchheim, 1988, str. 159–166
Philosophie und Demokratie
Lieber Freund,
nachdem ich Deinen letzten Brief zu Ende gelesen hatte, war ich über eine Sache sehr erfreut. In diesen Tagen, wo es scheint, daß der Druck der Staatssicherheit wächst, und wo all unsere Aufmerksamkeit auf aktuelle Sorgen gelenkt wird, kommst Du mit einer grundsätzlichen, allgemeinen, ja fast schon abstrakten Frage: Was kann die Philosophie zur Demokratie und ihren Problemen sagen? Du möchtest wissen, ob ein Philosoph, der über Demokratie spricht oder schreibt, oder der sich für ein demokratisches System sogar politisch engagiert, auch weiterhin Philosoph bleibt, d.h. ob er als Philosoph handelt, oder ob er unabhängig von seiner Philosophie nur als Bürger handelt. Deine Frage wurde durch ein Diktum von mir provoziert, daß nämlich „das ideale politische System zweifellos der aufgeklärte Absolutismus wäre“ (ich möchte hier nicht gleich zu Anfang ausführlich erklären, welche „Wenn“ und „Aber“ dann folgten).
Ich fürchte, ich muß dieses provozierende Diktum nur wiederholen. In der demokratischen Welt wählen die Menschen ihre Vertreter aus ihren eigenen Reihen und betrauen sie mit Funktionen, die für die Verwaltung der Gesellschaft nötig sind. Mit der Auswahl geeigneter Menschen sind jedoch große Probleme verbunden. Es gibt keine idealen Menschen; der eine ist energisch, aber es mangelt ihm an Weitblick; der andere ist sehr gebildet, aber er läßt im entscheidenden Augenblick Entschlossenheit vermissen; mancher hat große Erfahrungen und kann sich gut in einer Situation orientieren, aber dafür zeigt er wenig Taktgefühl im Umgang mit den Menschen; ein anderer ist für schnelle Aktionen und verfolgt mit äußerster Ungeduld, wie langsam die Menschen begreifen, was notwendig ist, wogegen ein anderer wiederum mit Entsetzen zusieht, wie sich solche Menschen in ein Abenteuer stürzen, dessen Ende sie nicht absehen können. Die Menschen haben sehr unterschiedliche Charaktere und Temperamente, aber sie haben auch unterschiedliche Meinungen, die von verschiedenen Traditionen ausgehen, und meistens verfügen sie nicht über die nötige Distanz, um unvoreingenommen die anderen, anders orientierten, beobachten zu können. Die Diskussion ist sehr schwierig, sie dauert lange, und die Abstimmung garantiert nicht immer, daß auch der beste Mensch oder die beste Meinung gewinnen. Mit welchem Recht können ungenügend gebildete Menschen, denen es zudem an der nötigen Erfahrung fehlt, über Sachen entscheiden, die sie nur aus ihrer eigenen Sicht beurteilen können? Wäre es nicht besser, die Entscheidungen und die Macht einem Menschen anzuvertrauen, der sich von Kindheit an als außerordentlich begabt erwiesen hat, dessen Interesse gerade für die gesellschaftlichen und politischen Angelegenheiten geweckt wurde und der den besten Pädagogen und erfahrensten Experten anvertraut wurde? Sollte der künftige Herrscher nicht als einer der Besten aus den Besten ausgewählt und auf seine Regierungszeit schon von frühester Kindheit an vorbereitet werden? Solch ein Herrscher würde dann seine Ratgeber und Berater selbst auswählen (und mit Sicherheit würde er nur die besten aussuchen), er wäre weise, zugleich aber entschlossen usw. usw. Kurzum, ein idealer Herrscher, ein wirklicher Vater des ganzen Volkes.
So sah das bereits Platon, der durch die chaotischen Zustände in seinem Gemeinwesen sehr enttäuscht war. Er hat über seine Vorstellung sein bestes Werk geschrieben, aber als er den Versuch unternahm, es auch zu realisieren, hat er eine gewaltige Schlappe hinnehmen müssen. Warum? Das ganze Problem liegt nämlich darin, wo und wie einen Menschen aufzutreiben, der sich zu einem solchen idealen Herrscher eignet. Die Erziehung von frühester Kindheit an kann leider für nichts garantieren. Aristoteles hat Alexander den Großen erzogen, einen später sicherlich ziemlich aufgeklärten Herrscher. Aber auch hier kam es zu einer großen Enttäuschung; vor allem die Mitbürger von Aristoteles wollten dies irgendwie nicht verstehen. Aufgeklärt oder nicht, Alexander war als Eroberer gekommen und hatte den Athenern die Freiheit geraubt. Und als Aristoteles mit ihm verkehrte (und nicht nur das), haben sie diesen für einen Kollaborateur gehalten. Und dann, Alexander hat wiederholt schwere politische Fehler begangen. Insbesondere hat er es versäumt, das Reich für die Zukunft zu sichern; als er starb, zerfiel das Reich. Aristoteles ist es nicht viel besser ergangen als Platon. Der Fehler liegt vielleicht im Menschen selbst. Ein absoluter Herrscher könnte vielleicht nur noch Gott selbst oder ein Halbgott sein; aber solche stehen leider nicht zur Disposition. Und ein Ersatzgott oder Halbgott, der sich aus einem Menschen bildet, ist etwas Schreckliches.
Zudem können wir aus der Geschichte deutlich erkennen, daß auch den besten Menschen die Macht korrumpiert. Sicherlich ist es gut, junge Menschen von frühester Kindheit an so zu erziehen, daß sie später in verantwortlichen Funktionen weise und energisch entscheiden, aber die Macht darf ihnen niemals für allzu lange Zeit anvertraut werden. Das allein spricht schon dafür, daß sehr viele junge Menschen vorbereitet werden sollten; bei manchen wird die Erziehung versagen, andere entscheiden sich, im Leben einen anderen Weg einzuschlagen, und weitere werden aus anderen Gründen ausscheiden. Vom absoluten Herrscher wird sich die Hoffnung auf die herrschende Klasse, auf die herrschende Schicht verschieben, aus der die Herrscher und Funktionäre ausgesucht werden. Konservative Gesellschaften haben immer eine solche Schicht ausgebildet und geschützt; diese „Kader-Spitzengruppe“ wurde nur in den Perioden der Plastizität, in revolutionären Zeiten, in den Augenblicken der gesellschaftlichen Veränderungen und Bewegungen ausgewechselt. Da begann gewöhnlich ein großer Zustrom „neuer Leute“ in die Politik. Manchmal waren es hervorragende Menschen, aber jedesmal brachte es auch eine Flut von Abenteurern, Karrieristen, ungebildeten charakterlosen „Nullen“. Wenn solche Menschen an die Macht kamen, bedeutete das immer eine Katastrophe. Während die demokratische Gesinnung und die demokratischen Programme damit gerechnet haben, daß die Menschen im Grunde gut und vernünftig sind und daß sie Argumenten zugänglich sind, haben die historischen Erfahrungen diesen Optimismus widerlegt und oft genug bewiesen, daß der Mensch sich schlimmer als ein Tier benehmen kann, und daß es besonders gefährlich sein kann, wenn solchen Menschen die Macht anvertraut wird. Für einen Wechsel der Menschen in machtpolitischen Funktionen spricht jedoch auch etwas, was die Anhänger des aufgeklärten Absolutismus grob unterschätzt haben. Es geht darum, daß die Gesellschaft immer in verschiedene Schichten und Lager, Interessengruppen und Parteien gegliedert ist. Kein einziger Mensch, ob im höchsten Maße unparteiisch oder weise oder mit durchdringendem Blick für die Realität begabt, kann jemals zur Zufriedenheit aller entscheiden. Die Grundillusion der Verfechter des aufgeklärten Absolutismus ist die Voraussetzung, daß es möglich sei, ein politisches Programm zu erarbeiten, das faktisch allen entgegenkommt, obwohl subjektiv vielleicht nicht alle davon überzeugt sind; also die Voraussetzung, daß nur Unwissenheit und Mangel an Bewußtsein innergesellschaftliche Konflikte und Zusammenstöße verursachen, während der Idealzustand möglich wäre, wo jeder das bekommt, was ihm zusteht, und wo sich jeder dessen voll bewußt ist. Die Vorstellung, daß jede Gesellschaft in ihren Fundamenten letztendlich eine Einheit sei und daß alle Verschiedenheiten nur Mißverständnis oder Folgen des bösen Willens oder wenigstens des Mangels an gutem Willen seien, ist nicht nur völlig unrealistisch, sondern in ihren Konsequenzen gefährlich und manchmal direkt verheerend. Nicht einmal ein göttliches Wesen auf dem Herrscherthron hätte den Weg finden können, wie eine Gesellschaft anders als mit Gewalt, also nur von außen, zu einen wäre.
Das ist jedoch für den Philosophen eine enorm wichtige Grundlage seiner Reflexion. Die politische Sphäre, d.h. die Sphäre der Herrschaft, der Macht und der machtpolitischen Entscheidungen, ist für den Philosophen und die Philosophie nicht die eigentliche Ebene ihres Wirkens, weil das eigentliche Element der Philosophie das Denken, die Reflexion ist – und freilich auch die gedankliche Kontrolle ihrer Durchsetzung im Leben, in der Praxis. Ein Philosoph, der herrscht – was auch Platons Ideal war -, bleibt entweder ein Philosoph und wird bemüht sein, seine philosophisch-politischen Grundsätze in der Praxis zu verwirklichen, oder er hört auf, ein Philosoph zu sein, und handelt in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der politischen Praxis. Im ersten Fall wird er zum Utopisten, im zweiten verwandelt er seine Philosophie in eine Ideologie (oder er legt sie im Grunde zynisch in irgendeiner „Garderobe“ ab wie ein Kleiderstück, das momentan nicht zu gebrauchen ist). Es gibt aber noch eine andere Beziehung des Philosophen zur Politik, bzw. eine praktisch-politische Haltung oder eher eine Aktivität des Philosophen, in der der Philosoph Philosoph bleibt und sich weder in einen Utopisten noch in einen Zyniker verwandelt. Diese mögliche, ja einzig mögliche und wünschenswerte Beziehung des Philosophen zur Politik ist die Reflexion der politischen Praxis, d.h. eine gewisse Distanz zu jeder direkten Herrschaft, aber zugleich eine aktive, engagierte kritische Beurteilung der praktischen Politik des Einzelnen oder der Gruppe, die die Macht besitzt oder an ihr partizipiert. Eine solche Philosophie zeigt dann die Wesensmerkmale der konkreten Politik, die dem gewöhnlichen Blick entgehen, sie enthüllt ihre inneren Widersprüchlichkeiten, ihre ungesicherten Fundamente, ihre Labilität und ihre wirklichen, nicht bloß deklarierten Perspektiven. Natürlich geraten ein solcher Philosoph und eine solche Philosophie immer in Situationen, in denen die herrschende Macht sie nicht mehr wohlwollend beurteilen wird, in denen ihre Aktivität mit großem Unbehagen, Unwillen und Befürchtungen verfolgt wird, oder aber die vielfältigsten Arten von Repression gegen sie angewandt werden. Das Ziel einer solchen politisch engagierten, aber an der Macht nicht partizipierenden und die Macht ablehnenden Philosophie wird eine Regierung sein, die ihren kritischen Reflexionen gegenüber tolerant ist, und das nicht aus bloßer Schwäche, sondern auf Grund von Respekt und der Bereitschaft, sachlichen Argumenten zuzuhören. Diese Regierung wird jedoch stark genug sein, eine wirkliche Regierung und gerechte Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten darzustellen.
Die Philosophie hat von ihrer Natur aus immer tiefe anthropologische Merkmale, auch wenn die Anthropologie nicht die letzte Basis der philosophischen Aktivität und der philosophischen Wertung ist. Eines der Ziele, die die Philosophie als für den Menschen gerade menschlich unentbehrlich zeigt, ist die Lebensintegrität eines jeden Individuums. Auch der Politiker muß (oder sollte) ein Wesen des komplexen menschlichen Lebens sein. Die Philosophie kann nicht zulassen, daß wir uns bei einem Politiker damit, daß er schwere menschliche Mängel hat, nur deshalb aussöhnen, weil er ein „fähiger Politiker“ ist. Eine derartige Schizophrenie ist immer ein störendes und letztlich zerstörerisches Element jedes menschlichen Lebens, außerordentliche Schäden aber kann sie besonders dort anrichten, wo die Folgen durch ein Verstärkungssystem, zu dem machtpolitische Strukturen und ein machtpolitischer Apparat gehören, riesenhaft vergrößert werden. Die Forderung, daß in führende Positionen im Machtapparat und in der Regierung nur ganze, allseitig glaubwürdige und respektable Leute kommen, kann niemals vom Standpunkt der Philosophie abgeschwächt werden. Im gewissen Sinne ist es gerade diese Forderung, die zu der in der Geschichte immer wiederkehrenden Vorstellung führt, daß „das ideale politische System zweifellos der aufgeklärte Absolutismus wäre“. Bei der ersten Annäherung an diese Vorstellung genügt es das hinzuzufügen, was ich immer dazu sage und was ich auch in jenem Falle, den Du zitierst, ergänzt habe: „Wir wissen aber nicht, wie es wirkungsvoll zu gewährleisten wäre, daß jeder absolute Herrscher auch wirklich aufgeklärt sei“. Bei genauerer Analyse dieser tradierten Vorstellung stellen wir fest, daß das nicht die einzige Schwierigkeit bei der Einführung des erwähnten Ideales in die politische Praxis ist.
Ich habe schon gezeigt, daß die Gesellschaft niemals eine so vollständig integrierte Einheit ist, daß ein innerlich integriertes Individuum (selbst wenn es noch so intelligent, gebildet und aufgeklärt ist) sie zur allseitigen Zufriedenheit verwalten und beherrschen könnte. Dagegen läßt sich jedoch der Einwand erheben, daß auch kein anderes System existiert, das es besser machen könnte, weil die Gesellschaft in Wirklichkeit geteilt ist, und was der einen Schicht oder Gruppe entgegenkommt, nicht den Erwartungen der anderen entspricht. Zweitens habe ich auf eine alte Erfahrung hingewiesen, daß Herrschaft und Machtposition jeden Menschen im Laufe der Zeit demoralisieren. Darüberhinaus geht es nicht nur um eine unzureichende Widerstandsfähigkeit jedes menschlichen Wesens gegenüber den Verlockungen der Macht, sondern vor allem darum, daß die Macht – an und für sich – immer die Tendenz hat, sich von allen menschlichen Vorhaben und Plänen zu emanzipieren und sich schließlich zu verselbständigen, und sich dann in dieser neuen Selbständigkeit gegen die Interessen des Menschen und der Gesellschaft zu stellen (und eine ganze Reihe von Menschen in ihre objektive und subjektive Abhängigkeit mitzureißen), daß sie also die Tendenz hat, sich dem Menschen zu entfremden und den Menschen sich selbst zu entfremden. Dafür gibt es keine bessere Medizin, als die regelmäßige Ablösung der Menschen in Machtfunktionen (und seien es die besten und am umsichtigsten ausgewählten) und eine gut funktionierende gesellschaftliche Kontrolle. Das alles weist auf die Unerläßlichkeit der breitesten Beteiligung der Bürger an den Wahlen und an der Kontrolle jeder mit der Regierung vorübergehend beauftragten Einzelperson (bzw. Gruppen von Einzelpersonen) hin. Aber auch bei diesen Erkenntnissen dürfen wir bei der Analyse der Erfahrungen aus der politischen Praxis nicht stehen bleiben.
Für das Leben der Gesellschaft als eines integrierten Ganzen hat das Bewußtsein, nämlich das Zusammengehörigkeitsbewußtsein der Menschen verschiedener Anschauungen und verschiedener Interessen, eine eminente Wichtigkeit. Dieses Bewußtsein muß und darf nicht eine bloße Illusion sein, die im Grunde nur den Interessen der herrschenden Schicht dient, wie dies im allgemeinen interpretiert wird, sondern es kann auch ein sehr sachliches, realistisches, realpolitisches Bewußtsein sein. Das Bewußtsein des Menschen ist in erster Linie mit seiner Aktivität, mit seiner wirklichen Praxis verbunden. Deshalb unterscheidet sich das Bewußtsein der gesellschaftlichen Zusammengehörigkeit bei demjenigen, für den eine Regierung nur gerade schlecht oder recht sorgt, ganz wesentlich von dem Bewußtsein eines Menschen, der das Recht und die Möglichkeit hat, über die eigene Regierung auch mitzuentscheiden und Einfluß auf sie auszuüben. Für die Integrität einer bestimmten Gesellschaft ist es bei weitem nicht so wichtig, wenn einige der Interessen, Meinungen oder Programme einiger ihrer Gruppen oder Schichten auseinandergehen, wie wenn diese einzelnen Gruppen und Schichten auf ihre Regierung einen Einfluß ausüben können, der ihrer zahlenmäßigen Stärke, Qualifikation und Berechtigung ihrer Interessen und Forderungen usw. angemessen ist oder nicht. Die Gesellschaft wird nicht dadurch zum politischen Ganzen, daß die vom Kern abweichenden oder sonstigen Tendenzen liquidiert oder blockiert werden, sondern dadurch, daß sie die Perspektive einer wirklichen gesellschaftlichen Geltendmachung bekommen, daß sie also von der Seite anderer Gruppen oder Schichten in die Entscheidungsprozesse integriert werden und daß es ihnen so ermöglicht wird, sich einerseits eigenständig zu entwickeln, und andererseits Einfluß zu nehmen auf die Entwicklung aller anderen, auf die Entwicklung der Gesellschaft als eines Ganzen. Dies ist jedoch weder selbstverständlich noch einfach realisierbar. Dazu müssen sich alle gesellschaftlichen Gruppen und Schichten eine gewisse Offenheit den andersdenkenden und anders interessierten Bestandteilen der Gesellschaft gegenüber aneignen, aber auch die Offenheit dem gegenüber, was allen Gruppen und Schichten der Gesellschaft gemeinsam ist, was in der ganzen politischen Pluralität für sie als gemeinsame und demzufolge als einigende „Basis“ gilt, wobei wir diese Basis keineswegs nur in der gemeinsamen Vergangenheit, sondern auch in der gemeinsamen Zukunft suchen müssen. Der Wille zur Einheit und Integrität, so wie darüber gewöhnlich geredet wird, ist eigentlich nur die Offenheit allen denen gegenüber, die anders denken und die sich anders orientieren, und die Bereitschaft, mit ihnen auf Dauer als Partnern zu rechnen. Der Weg zu dieser künftigen Integrität ist aber nicht ohne Kompromisse möglich.
Hier scheidet sich der Weg des Politikers radikal vom Weg des Denkers und des Philosophen. In der Philosophie ist kein meritorischer Kompromiß zulässig; die Zulassung von philosophischen Kompromissen bedeutet das Abgleiten in den Eklektizismus und die Unphilosophie. Die Philosophie erträgt Kompromisse nur am Rande und nur dann, wenn sie nicht direkt die eigentlichen Bereiche ihrer Arbeit berühren. Die Philosophie darf die Kompromisse nur dort zulassen, wo sie selbst aufhört, Philosophie zu sein, also hinter den Grenzen ihrer Berufung, ihrer Legitimität und ihrer Kompetenz. Diese Grenzen lassen sich jedoch nicht leicht ausmachen und abgrenzen. Zum Wesen der Philosophie gehört, daß sie sich auf das Ganze bezieht, d.h. letztlich auf alles, aber immer im Kontext des Ganzen. Sie kann also einen Kompromiß nur in einer Angelegenheit ertragen oder zulassen, die sie im gegebenen Augenblick nicht auf das Ganze beziehen muß, also in einer Situation, in der die Kompromißlösung nicht als etwas Definitives, Totales, Perspektivisches oder sogar gänzlich Programmatisches ausgegeben wird, sondern wo sie etwas Zeitweiliges, Provisorisches, Teilweises, kurzum eben nur ein Kompromiß bleibt. Ein Philosoph, der mit politischer Arbeit anfängt (darunter verstehe ich an dieser Stelle die technische Politik), muß für diese Zeit anspruchsvolle philosophische Kriterien ablegen und muß vorübergehend das Spiel der politischen Kräfte beobachten, und es so beeinflussen, daß er das Beabsichtigte, d.h. das politische Resultat, das Kompromißresultat erreicht. Für diese Zeit muß er notwendigerweise sein philosophisches Bewußtsein für seine politische Mission suspendieren. Das bedeutet begreiflicherweise überhaupt nicht, daß er als Philosoph unpolitisch wäre (oder gar, daß er unpolitisch sein sollte). Das politische Engagement der Philosophie beruht darauf, daß sie die Politik und die politische Arbeit nicht aus dem Rahmen der menschlichen Aktivitäten herausnehmen kann, die sie ihrer philosophischen Reflexion unterwirft. Die Philosophie bezieht sich notwendigerweise auf das Ganze, und in diesem Ganzen haben das politische Leben und die politische Arbeit ihren festen und unverwechselbaren Platz. Aber wie die Philosophie die Wissenschaft ihrer Reflexion und ihrer Beurteilung unterwirft, ohne dabei selbst Wissenschaft werden oder die Wissenschaft ersetzen zu müssen, muß und kann sie den Charakter der politischen Situation und der einzelnen politischen Taten und Programme beleuchten, ohne diese selbst vertreten zu wollen oder ihre Aufgabe auf sich nehmen zu müssen.
Die Politik und die politische Arbeit sind ein unerläßlicher Bestandteil im Leben des Einzelnen und der Gesellschaft. Die Philosophie kann nicht anders, als darauf aufmerksam machen, daß das programmhafte Desinteresse an Politik eine Störung, eine Verarmung und eine Reduzierung des individuellen und gesellschaftlichen Lebens bedeutet. Zugleich kann aber die Philosophie nicht schweigen, wenn die politischen Programme und die politische Gesinnung aus ihren legitimen Dimensionen herauszutreten beginnen und das ganze Leben mit allen seinen Gebieten zu durchdringen und zu erfassen drohen. In der gegenwärtigen Zeit ist die anspruchsvolle Erwartung der Politik und der Politiker in Relation zu ihrer wirklichen Bedeutung für das Leben des Einzelnen und der ganzen Gesellschaft absolut unangemessen. Die Philosophie kann deshalb nicht ohne Spannung zur Politik sein, und sie muß zwangsläufig in Konflikte mit Politikern und politischen Richtungen geraten, die anstreben, das ganze gesellschaftliche Leben aus der Position der Macht zu beherrschen. Die Philosophie muß sich wünschen, daß die Legimität der Macht wirksam eingeschränkt wird.
Dein Ladislav Hejdánek
Prag, den 31.8.1978