970126-2
Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß die Suche der Hauptschuldigen sehr häufig kontraprudktiv sein kann, wenn man die Vergangenheit wirklich klären will. Enthüllung konkreter krimineller Schulden ist ein Rechts- und ein politisches Problem, und ich bin überzeugt, daß wir gerade deswegen auf beiden Seiten gewisse Ämter und Behörden haben, die dafür kümmern sollen. Es gibt jedoch Tendenzen, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von wichtigeren Dingen abzulenken, indem man alle aufruft, an dieser Enthüllung mitzuwirken. Damit degeneriert oft die echte Schuldfrage zum bloßen Ersatzproblem, weil die Schuldigen immer unter den Anderen gesucht werden. Die Schuld ist letzten Endes Frage eines sensitiven Gewissens, und deswegen kann und darf sie nicht einfach vergegenständlicht werden. Alle wirkliche Hauptfragen betreffen unsere Zukunft, nicht vorerst das, was schon weg ist, was zur Vergangenheit gesunken ist. Nur was aus der Vergangenheit für die Zukunft wichtig ist, soll gebraucht werden, alles Andere gehört höchstens in die Museen. Gut und sachgemäß zu wählen gehört zu unserer aktuellen Verantwortung.
Gerade aus dieser Verantwortung sind unsere Protestbewegungen entstanden, mindestens bei vielen von uns auf beiden Seiten. Unser Problem damals war nicht nur und auch nicht in erster Reihe die Schuldigen zu nennen, sondern etwas für unsere eigene menschliche Integrität zu tun. Wir mußten es tun, um unsere eigene Mitveratwortung für das Schlimme zu vermindern und abzugrenzen. Wir haben dafür jedoch niemals genug getan; wir waren und sind immer auch mitschuldig. Nur aus dieser Position dürfen wir legitim darüber sprechen, daß die breiten Schichten kollaboriert haben, und erwarten, daß es auch sie zugeben. Sonst bleibt die Enthüllung und Bestrafung krimineller Taten bloß ein Ritual ohne wirkliche moralische Wirkung.
(korektura pro Berlin)
(Praha, 970126-2.)