Demokratie oder Diktatur
| docx | pdf | html ◆ article, German, origin: 21. 4. 1977
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  • Dopis příteli č. 11

  • Demokratie oder Diktatur?

    Lieber Freund,

    Du erinnerst an meine reservierten Aussagen über demokratische Prinzipien und fragst, welche Vorbehalte ich der Demokratie gegenüber hege und was ich an ihrer Stelle empfehlen würde. Deine Frage basiert aber auf einem Mißverständnis und Unverständnis. Die Demokratie hat einfach ihre Grenzen, außerhalb derer sie unangebracht ist, nicht mehr oder schlecht funktioniert. Die Demokratie ist eine bestimmte politische Methode; aber nicht jede Methode ist für alles geeignet. Universelle Methoden taugen in der Regel gar nichts und sind zu nichts zu gebrauchen. Trotzdem möchte ich einige Anmerkungen zu diesem Problem machen.

    Die Demokratie ist vor allem in mancher Hinsicht verletzlicher als andere politische Systeme. Wenn ihre Prinzipien im politischen Leben immer und ausnahmslos Geltung besäßen, dann wäre sie in der Regel nicht imstande, wenigstens ein paar Jahre zu überdauern. Wie jedes politische System hat auch die Demokratie ihre Mängel. Vor allem sind es praktische Mängel, die aus dem Zustand der Gesellschaft, den Eigenschaften der Menschen, der mangelnden Bildung oder dem fehlenden Mut erwachsen. Sehr oft sind es aber auch Mängel, die den gesellschaftlichen Strukturen eines bestimmten Typus und den bestimten geselschaftlichen Prozesen imanent sind, die die besten Prinzipien entwerten und sie zu bloßen Formalitäten werden lassen. Diese Mängel, auch wenn sie vielleicht gar nicht dem Wesen des demokratischen politischen Systems entstammen sollten, sondern andere Ursachen haben, werden selbstverständlich zum Gegenstand der Kritik seitens der Gegner der Demokratie. Diese können jedoch nicht nur von demokratischen Prinzipien ausgehen, so daß ihre Kritiken gegen eine konkrete Gestalt der Demokratie in dieser oder jener Form gerichtet sind, aber sie können mehr oder minder ausgesprochen antidemokratisch sein. Wenn das Recht der freien Meinungsäußerung auch der antidemokratischen Gesinnung eingeräumt und das Versammlungsrecht für die Antidemokraten ohne jegliche Einschränkung respektiert wird, dann untergräbt die Demokratie den Boden unter ihren eigenen Füßen, dann sägt sie den Ast ab, auf dem sie sitzt. Leider kann aber die Einschränkung der Rede-, der Presse-, der Versammlungsfreiheit manchmal damit begründet werden, daß es gilt, einen direkten Angriff auf das Wesen der Demokratie abzuwehren, obwohl das überhaupt nicht wahr ist. Das ist absolut vergleichbar damit, daß bei uns Leute kritisiert und sogar zu Haftstrafen verurteilt werden, weil sie „die Grundlagen der Gesellschaft bedrohen“, weil sie „den Sozialismus im Lande untergraben“, obwohl sie nur eine Erneuerung wollen. In den Vereinigten Staaten Nordamerikas wurden in den schlimmsten Zeiten des kalten Krieges infolge einer hysterischen Kampagne gegen die sogenannte antiamerikanische Gesinnung und das antiamerikanische Verhalten Tausende von Menschen aus ihren Funktionen entfernt und auf mannigfaltigste Art und Weise diffamiert und verfolgt. Obwohl die Gefahr des Mißbrauchs ständig droht, muß sich dennoch jede Demokratie ernsthaft gegen den Mißbrauch ihrer Strukturen durch antidemokratische Gruppen wehren, die tatsächlich bemüht sind, sie zu untergraben und zu liquidieren. Und um diese Gefahr möglichst gering zu halten, ist es notwendig, die Gesetze so prägnant und konkret wie nur möglich zu fassen, und nicht in allgemeinen Phrasen, die sich wie ein Gummi in alle denkbaren Richtungen dehnen lassen. Solche Gesetze können zwar einerseits maximal demokratisch klingen, aber sie können andererseits maximal antidemokratisch, diktatorisch bis terroristisch ausgelegt werden.

    Außerdem existieren Bereiche und Ebenen des gesellschaftlichen Lebens, für die sich die demokratischen Prinzipien überhaupt nicht eignen oder bestenfalls nur auf ihre formalen oder verfahrensmäßigen Angelegenheiten anwendbar sind. So entscheidet z.B. in der Diskusion um die Vererbungsproblematik oder über ästhetische Werte literarischer oder anderer künstlerischer Werke oder über technische Vorzüge und Mängel einer Projektplanung nicht die Anzahl der Stimmen für und wider, sondern allein die Kompetenz. Selbstverständlich ist ein Roman zunächst für eine breite Leserschaft bestimmt, und dabei kann es vorkommen, daß ihr das Buch nicht gefällt, daß sie es nicht kauft und daß das Buch im Lager der Buchhandlungen liegen bleibt, auch wenn die Fachkritik das Werk ausgezeichnet beurteilt. Auf der anderen Seite kann ein Buch einen Riesenerfolg haben und zum Bestseller werden, ohne künstlerisch etwas Besonderes zu sein. Kurzum, der Erfolg oder Mißerfolg eines Buches auf dem Buchmarkt sagt nicht nur etwas über dessen Qualität, sondern auch etwas über die Qualität der Leser aus. Die Leser sind also nicht das einzige und schon gar nicht das wichtigste Tribunal oder der Hauptschiedsrichter über den Wert eines Kunstwerkes. In den technischen und wissenschaftlichen Fragen und Streitpunkten gilt (oder sollte zumindest gelten) das Argument mehr als die Anzahl der Befürworter oder Gegner einer bestimmten Lösung. Manchmal kann ein einziger Mensch gegen alle die Wahrheit vertreten, und die Mehrheit kann sich fürchterlich irren. Deshalb darf auch die Grundlage der Demokratie und der demokratischen Gesinnung nicht in den Grundsätzen der Abstimmung und der mehrheitlichen Entscheidung gesehen werden, und man darf in diesen äußeren Regeln nichts Absolutes und für alle Fälle Verbindliches sehen. Leider ist es im politischen Leben nicht leicht zu entscheiden, worüber die Bürger durch Abstimmung urteilen sollen und was durch kompetente Fachleute geklärt werden muß. Außerdem fürchten sich zahlreiche Regimes, die Bürger über konkrete Probleme abstimmen und sie somit selbst entscheiden zu lassen, weshalb viele Menschen meinen, daß es zum Wesen der Demokratie gehöre, über alles auf der Grundlage der öffentlichen Meinung zu entscheiden. Solche Vorstellungen entstehen einfach aus Opposition zum gegebenen Zustand. Aber auch dort, wo sehr oft abgestimmt wird, ist noch lange nichts gewonnen. (In der Schweiz z.B. wird etwa jede zweite Woche oder gar öfter über alles mögliche abgestimmt, über örtliche, kantonale und gesamtstaatliche Angelegenheiten. Es ist zu fragen, ob das die beste Lösung ist, wenn z.B. sehr wichtige und grundsätzliche Projekte von der Bevölkerung nur deshalb abgelehnt werden, weil die Zustimmung zugleich eine Erhöhung der Steuern bedeuten würde, zu deren Zahlung sich die Wähler mit der Zustimmung gleichzeitig verbindlich verpflichten.) Dabei hängt sehr viel davon ab, wie die Alternativen formuliert werden. Meistens sind dabei nicht sachliche Gesichtspunkte entscheidend, sondern es handelt sich um eine Manipulation der öffentlichen Meinung, um demagogische Formulierungen. Deshalb geht es nicht nur um die Abstimmung, sondern auch um eine Diskussion (um eine freie politische Diskussion), die vor der Abstimmung geführt wird. Die Zeit für die Diskussion muß ausreichend bemessen sein, um allen Standpunkten und allen Gründen die gleiche Äußerungsmöglichkeit zu bieten. Davon können sich unsere jungen Leute heute überhaupt kein Bild mehr machen, weil sie eine normal funktionierende politische Demokratie noch nicht erlebt haben. (Sie haben aber auch keine gesellschaftliche Demokratie erlebt, weil die Demokratie nicht nur eine Angelegenheit von äußeren Formen und Strukturen des politischen Lebens ist, sondern sie ist ein bestimmter Stil, Angelegenheiten der gesellschaftlichen Verwaltung und des Lebens überhaupt zu erledigen.) Das alles ist sehr deutlich an der Situation der Charta ’77 zu sehen.

    Wenn eine Gruppe von Menschen (unabhängig davon, wie groß sie ist) mit Kritik hervortritt und darlegt, daß bei uns die eigenen Gesetze verletzt werden, und daß die offiziellen Ämter in einer Reihe von Fällen und in breitem Maße durch ihre Maßnahmen und Entscheidungen die Menschenund Bürgerrechte verletzen, so kann das wahr oder unwahr sein. Wenn es sich dabei um eine Gruppe von Querulanten handelt, so braucht die Regierung keine Notiz davon zu nehmen, weil dies auch in der Gesellschaft niemanden aufregen wird. Die Situation ist aber anders, wenn die Gefahr besteht, daß dies in der Gesellschaft kleineres oder größeres Interesse hervorrufen könnte. Die Regierung, die in dieser Situation versuchen wird, die Gruppe zum Schweigen zu bringen und den tatsächlichen Inhalt der Kritik möglichst zu verheimlichen oder den Kritikern etwas anderes in die Schuhe zu schieben, als das, was sie vorgebracht haben, ohne ihnen zu ermöglichen, sich gegen die Insinuation zu verteidigen, beweist in erster Linie, daß sie große Angst vor jeder Kritik hat. Wenn der Innenminister erklärt (wenn auch nicht öffentlich), daß die absolute Mehrheit der Bürger die Gefahren der Kritik nicht erkenne, bedeutet das entweder, daß er die absolute Mehrheit der Bürger für Dummköpfe hält – oder aber er gibt damit zu, daß die Bürger diese Gefährdung nicht als solche anerkennen und einfach deshalb nicht ernst nehmen, weil sie die Kritik nicht als Gefahr empfinden, und daß sie im Gegenteil nur für denjenigen zur Gefahr wird, dessen Situation gänzlich von der Mehrheit der einfachen Bürger abweicht. In jedem Falle gibt er damit zu, daß zwischen der Minorität, die die Gefahr erkennt, und der absoluten Mehrheit der Bevölkerung eine Scheidewand, ja ein Abgrund klafft. Warum bedient sich aber die „bewußtmachende“ Aktion der Insinuationen, der Denunziationen, der Fehlinterpretationen und der Diffamierung? Warum zeigt sie nicht durch Verbreitung, Aufklärung und Analyse des Textes allen Bürgern die Gefährlichkeit der Charta ’77? Warum wendet sie polizeiliche Einschüchterungsmethoden an, Drohungen, existenzbedrohende Maßnahmen, wie z.B. den Verlust des Arbeitsplatzes usw.? Diese Minderheit, der die Gefahr der Charta ’77 vollkommen bewußt ist, könnte jedoch auch eine hellsichtige Gruppe sein, die die Gefahr dort sieht, wo andere blind und taub sind und sorglos dem Verderben entgegenschreiten. Aber warum dann so viele Lügen und Verleumdungen, warum soviel Agitation und überstürzte Aktionen, warum die ganze hysterische Kampagne? Entweder ist die Entfremdung zwischen der „weitsichtigen“ Minderheit und der „blinden“ Mehrheit mit den normalen Kommunikationsmitteln nicht mehr überwindbar, oder die eigentliche Gefahr ist hier nicht die Charta ’77, sondern die Wahrheit, die durch die Charta ’77 zum Ausdruck gebracht wurde. Gegen die Wahrheit ist aber nur eine einzige Art von Kampf möglich, nämlich die Lüge. Die Lüge muß sich bemühen, als Wahrheit zu erscheinen, sonst würde ihr keiner glauben. Deshalb muß sich die Lüge vor einem normalen Vergleich hüten, bei dem jeder beide Versionen einfach miteinander vergleichen könnte, um selbst zu entscheiden, was Wahrheit und was Lüge ist. Deshalb darf die Wahrheit nicht auf die Straße, nicht ans Licht, nicht in die Zeitungen und Zeitschriften, sie darf sich nirgends blicken lassen. Die Menschen – und nicht irgendwelche Menschen, sondern die führenden Kulturschaffenden sollen die „Verräter“, die „Usurpatoren“ und „Schiffbrüchigen“ ablehnen, ohne jedoch den Text zu kennen, den diese Menschen unterschrieben haben. Es ist höchst beleidigend, daß führende Kulturschaffende zu den Dummköpfen gezählt werden, die ihre Urteilsfähigkeit durch den Kontakt mit dem Text der Charta ’77 verlieren könnten. Deshalb müssen sie mit ihrer Unterschrift dokumentieren, daß sie dagegen sind – aber nur Eingeweihte dürfen wissen, wogegen sie eigentlich sein sollen. Die Charta ’77 wird jedoch mit Hilfe von Abschriften verbreitet. Die Verheimlichung des Textes allein reicht also nicht aus. Deshalb ist es auch notwendig, zu Einschüchterungen und Versprechungen Zuflucht zu nehmen; zu der alten Methode von Zuckerbrot und Peitsche. Verdienst du anständiges Geld? – Dan halte deinen Mund und unterschreibe dies hier, oder es ist Schluß mit dem Geld. Hast du eine Arbeitsstelle, die dir gefällt? Dann gib auf sie acht und unterschreibe dies hier – sonst kannst du dich von deiner Arbeitsstelle verabschieden. Hast du bislang immer schweigen müssen? Durftest du einige Jahre nichts publizieren? Durften deine Lieder nicht gespielt werden? Durfte dein Name überhaupt nicht ausgesprochen werden? – Unterschreibe, und wir geben dir wieder Gelegenheit dazu! Wenn du unterschreibst, dann werden wir sogleich im Rundfunk und vielleicht auch im Fernsehen etwas aus deinem Werk vorstellen; aber die Auswahl treffen wir selbst. Und die Kulturschaffenden, kulturbewußter und intelligenter als die wirklichen „Usurpatoren“, unterschreiben und müssen zudem öffentlich vortäuschen, daß sie wirklich so „doof“ sind, wie man in diesem Falle sein müßte. Auf den niedrigeren Ebenen ist die Einschüchterung noch unverschämter, obwohl es nicht leicht ist, sich dies alles vorzustellen. Dank dieser Handhabung kann sich der Minister, wie er selbst zugibt, kaum vor einer Unterschriftenlawine retten. Es ist ein Kampf um die Quantität. Die „Abstimmung“ muß öffentlich, d.h. leicht kontrollierbar sein. Trotzdem finden sich auch solche Menschen, die nicht unterschreiben. Das wird ihnen aber allmählich heimgezahlt. Wolltest du eine Auslandsreise machen? – Darfst du nicht, auch wenn das eine im voraus geplante Dienstreise sein sollte! Vertrittst du den Abteilungsleiter? – Demnächst wird ein anderer den Abteilungsleiter vertreten! Warst du in irgendeiner Komision? – Demnächst wirst du es nicht mehr sein! Warst du ein respektierter Fachmann in deinem Bereich? – Wir führen eine kleine Reorganisation durch und setzen dich an einer anderen Stelle ein, wo du ein wenig aus dem Blickfeld bist, wo dir deine fachliche Qualifikation nur wenig hilfreich sein wird – und dein Lohn wird gekürzt! Oder du bekommst keine Lohnerhöhung, obwohl sie allen anderen, auch Jüngeren, zugestanden wird. Du bekommst keine Leistungsprämie usw. usw. Solltest du kündigen, weil wir dir als einem Hochschulabsolventen die Stelle eines Lagergehilfen angeboten haben, so ist das deine Angelegenheit. Aber woanders wirst du auch nicht genommen, auch wenn sie dringend jemanden benötigen sollten. Das begründen sie mit dem Mangel an ausreichenden Personalmitteln (obwohl sie inseriert haben!). Bei uns existiert nämlich keine politische Diskriminierung! – Der Kampf um die Quantität! Was hat das alles aber mit den tatsächlichen Verletzungen der Gesetze und der bürgerlichen Freiheiten und Rechte zu tun? Freilich läßt sich dadurch nichts beweisen, aber es wird doch sichtbar, daß die Menschen- und Bürgerrechte sowie auch unsere Gesetze verletzt werden. Gegenwärtig ist es überhaupt nicht mehr nötig, alte Vorfälle ans Licht zu ziehen – es gibt unzählige neue.

    Aber auch wenn unsere Ämter und unsere Massenmedien die Wahrheit über die Charta ’77 enthüllen könnten und dürften, auch wenn es ihnen gelingen sollte, die große Mehrheit der Bürger von der Verlogenheit und Schädlichkeit der Charta ’77 zu überzeugen, und wen sie dabei keine ungesetzlichen Mittel anwenden müßten und angewandt hätten und somit die Lügenhaftigkeit der Charta7 dokumentiert häten, wen sie also politisch (und nicht nur gewaltmäßig und durch Androhung) die Oberhand gewännen, so würde dies niemals ausreichen. Und dies ist ein weiteres Beispiel, das auf die Grenzen der Demokratie hinweist. Wenn z.B. ein hervorragender Naturwissenschaftler von seinem Arbeitsplatz vertrieben wird, weil er aus der Partei ausgeschlossen wurde oder weil er die Charta ’77 unterschrieben hat oder aus einem anderen politischen Grund, verstößt dies nicht nur gegen die Unverletzbarkeit der Menschen- und Bürgerrechte, sondern auch gegen die geltenden Gesetze; denn diese Entlassung schadet der ganzen Gesellschaft, d.h. allen Bürgern. Und auch wenn vielleicht diese Bürger in ihrer Mehrheit damit einverstanden sind (diese Situation herrscht auf gar keinen Fall in unserem Lande vor), so besitzen sie noch lange nicht das letzte Recht, darüber zu entscheiden, u.a. schon deshalb nicht, weil das auch der jüngeren Generation der „Bürger“ und der „künftigen Bürger“ schadet, d.h. denen, die noch nicht erwachsen sind und an der Abstimmung nicht teilnehmen können, nicht weil sie es nicht begreifen könnten, sondern weil sie daran noch kein Interesse haben. Noch mehr schadet es der künftigen Generation, denen, die erst noch geboren werden. Noch mehr als in den Naturwissenschaften gilt Ähnliches in den Künsten, der Publizistik, der Literaturkritik, der Philosophie … Der Schaden ist nie wieder gutzumachen. Professor Jan Patočka hat eine Reihe von Texten geschrieben, die bei uns nicht erscheinen durften. Gut, sie werden aufbewahrt, um nach Jahren zu erscheinen. Aber er hätte noch mehr Texte schreiben können; die bleiben nicht nur uns versagt, sondern auch allen kommenden Generationen, die über die heutige politische Situation dann nichts oder nur negative Dinge wissen werden. Was für ein Schaden und was für ein Verlust, wenn ein hervorragender Schauspieler keine angemessene Rolle bekommt, er seine Kunst überhaupt nicht unter Beweis stellen, nicht mehren und nicht erhalten darf! Wer hat das Recht, den Auftritt eines hervorragenden Sängers oder einer Sängerin zu verhindern, so daß sie jahrzehntelang nicht öffentlich auftreten können?

    Damit möchte ich eine enorm wichtige Angelegenheit betonen: Die politischen Entscheidungen haben nicht nur für die Entscheidungsträger und Wähler (sofern sie wählen dürfen) bleibende Konsequenzen, nicht nur für die lebenden Generationen, sondern auch – in anderem Maße – für die Zukunft. Über die Zukunft läßt sich niemals eindeutig und definitiv entscheiden. Es wird die Zukunft sein, die unsere heutigen Entscheidungen beurteilen – und wahrscheinlich sehr streng verurteilen – wird. Und nicht nur unsere Entscheidungen, sondern auch unser Schweigen, unsere Unentschlossenheit, unsere Befürchtungen und unsere Angst. Wer sich für die Wahrheit entscheidet, muß darauf gefaßt sein, von Macht und Lüge attackiert zu werden; aber derjenige, der sich für die Wahrheit entschieden hat, weiß, daß er der Zukunft trotz der so schweren Gegenwart den Vorrang gibt. Der Mensch ist das Geschöpf mit der ausgedehntesten Gegenwart. Ein Geschöpf, das in seine Gegenwart eine riesige Vergangenheit integriert, und das sich in seiner Gegenwart zugleich einer weiten Zukunft öffnet. Der Mensch ist ein Geschöpf, das imstande ist, die eigene nächste Zukunft für die Zukunft der anderen zu opfern, für diejenigen also, die heute noch nichts sagen und die sich noch nicht verteidigen können.

    Dein

    Ladislav Hejdánek

    Prag, den 21.4.1977