- in: Doris Liebermann – Jürgen Fuchs – Vlasta Wallat (vyd.), Dissidenten, Präsidenten und Gemüsehändler. Tschechische und ostdeutsche Dissidenten 1968–1998, Essen: Klartext, 1998, str. 141–154
Podiumsdiskussion [1998]
Wahrheit und Widerstand, in: Dissidenten, Präsidenten und Gamüsehändler, Hg. Doris Liebermann-Jürgen Fuchs-Vlasta Wallat, Klartext, Essen 1998, S. 141–154
in: Dissidenten, Präsidenten und Gamüsehändler, Hg. Doris Liebermann-Jürgen Fuchs-Vlasta Wallat, Klartext, Essen 1998, S. 252–273
S. 258–59
Ladislav Hejdánek: Eine philosophische Reflexion der Situation am Ende des 20. Jahrhunderts muss ein wenig in Distanz stehen gegenüber der bisherigen europäischen Tradition, die sich schon seit der alten Griechen durchsetzte, nämlich sich vor allem um das Seiende als Seiendes zu kümmern. Den Historikern überlassen wir das schon Geschehene und deswegen nicht mehr Seiende. Was für uns Nicht-Historiker entscheidend ist, ist die Zukunft. Gerade jedoch weil wir an der Zukunft interessiert sind und sein müssen, brauchen wir eine gute Kenntnis der Vergangenheit, denn die Geschichte ist voller Fehler und Irrtümer, voller Dinge, die nicht hätten geschehen sollen, wie es einer unserer Historiker, der auch hier anwesend ist, gesagt hat. Zu einem gewissen Maβ hat er recht, jedoch ohne alle diese Fehler und Irrtümer, die als solche erkannt worden sind, wäre es /259/ viel mehr wahrscheinlich, dass wir das alles von neuem tun müssten. Ich kenne es beispielsweise aus der Philosophiegeschichte. Nur gute Kenntnis und gute Orientierung in der Vergangenheit verschiedener philosophischer Konzeptionen kann uns davor bewahren, womöglich nur neue groβe Fehler zu machen. Sowas gilt jedoch auch und ganz besonders für unser gemeinsames, gesellschaftliches und politisches Zusammenleben. Wir dürfen – und sehr oft müssen wir – uns mit der Vergangenheit recht sorgfältig auseinandersetzen. Unser Ziele ist es jedoch nicht, immer nur zum Vergangenen zurückzuschauen oder gar, es nachzuahmen und neu zu beleben, sondern nur das Beste auszuwählen und sonst alles Schlimme, Dumme und Unnützige in das „Nicht-mehr-Seinde“ und damit zum Abfall der Geschichte fallen zu lassen. Gerade in diesem Sinnen kann ich als Mitglied der protestantischen Minderheit, die in unserem Lande übriggeblieben ist, und später als aktiver Chartist sowohl an Beziehungen zu unseren ostdeutschen nichtopportunistischen Brüdern und Schwestern in der Kirche zu denken, als auch an deutsche Aktivisten der Menschenrechtsbewegungen. Wir verstanden einander und sahen klar, dass Zusammenarbeit eine bessere Perspektive darstellt als Konflikt und Kampf.
S. 264
Ladislav Hejdánek: Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass die Suche nach den Hauptschuldigen sehr häufig kontraproduktiv sein kann, wenn man die Vergangenheit wirklich klären will. Enthüllung konkreter krimineller Schulden ist ein Rechtsund ein politisches Problem, und ich bin überzeugt, daβ wir gerade deswegen auf beiden Seiten bestimmte Ämmter und Behörden haben, die sich darum kümmern sollen. Es gibt jedoch Tendenzen, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von wichtigeren Dingen abzulenken, indem man alle aufruft, an dieser Enthüllung mitzuwirken. Damit degeneriert oft die echte Schuldfrage zum Ersatzproblem, weil die Schuldigen immer unter den anderen gesucht werden. Die Schuld ist letzten Endes eine Frage eines sensitiven Gewissens, und deswegen kann und darf sie nicht einfach vergegenständlicht werden. Alle wirklichen Hauptfragen betreffen unsere Zukunft, nicht vordergründig das, was schon weg ist, was zur Vergangenheit gesunken ist. Nur was aus der Vergangenheit für die Zukunft wichtig ist, soll gebraucht werden, alles andere gehört höchstens in die Museen. Gut und sachgemäβ zu wählen gehört zu unserer aktuellen Verantwortung. Gerade aus dieser Verantwortung sind unsere Protestbewegungen entstanden, mindetens bei vielenm von uns auf beiden Seiten. Unser Problem damals war nicht nur und auch nicht in erster Reihe, die Schudigen zu nennen, sondern etwas für unsere eigene menschliche Integrität zu tun. Wir muβten es tun, um unsere eigene Mitverantwortung für das Schlimme zu vermindern und abzugrenzen. Wir haben dafür jedoch niemals genug getan; wir waren und sind immer auch mitschuldig. Nur aus dieser Position dürfen wir legitim darüber sprechen, daβ die breiten Schichten kollaboriert haben, und erwarten, daβ sie es auch zugeben. Sonst bleibt die Enthüllung und Bestrafung krimineller Taten bloβ ein Ritual ohne wirkliche moralische Wirkung.
S. 266
Ladislav Hejdánek: Ich höre langsam auf, noch weiter geduldig zuzuhören, wie wir als „alte Veteranen“ gesehen werden. Ich bin hier ja Wahrhscheinlich der Älteste, ohne Zweifel, aber es fällt mir gar nich ein, mich als Veteran zu fühlen. Schlicht und einfach wenn uns unsere Gesellschft ins Museum abschiebn will, dann liegt es an uns, dagegen Widerstand zu leisten. Oft hat man darüber gesprochen, daβ Charta 77 in ihrem Programm ziemlich arm war. Es handelte sich eigentlich um keine Organisation, keine Bewegung – die Charta konnte und kann sich nicht bewegen, sie ist nut eine Position in zwei Punkten: Orientierung an Menschenrechten und Legalität. Gerade deswegen konnte und kann sie noch heute und hoffentlich auch in der Zukunft eine Basis für ganz unterschiedlich orientierte Bürger, ja sogar Politiker, sein, so wie es möglich war in dem ersten Jahrzehnt ihrer Existenz. Und noch was: eine naturrechtliche Interpretation der Menschenrechte ist philosophisch falsch und unakzeptierbar. Wir haben jedoch noch keine andere breit akzeptierbare Deutung zur Verfügung. So bleibt vor uns auch eine theoretische Aufgabe: den Gedanken der Menschenrechte neu und besser zu denken. Auch das hat inmitten unserer anderen Aktivitäten schon vor zwanzig Jahren begonnen, und auch hier müssen wir weitergehen.