- in: Ladislav Hejdánek, Wahrheit und Widerstand. Prager Briefe, přel. Milan Walter – Eva Bauer, München: P. Kirchheim, 1988, str. 175–182
Pragmatismus und Idealismus
Lieber Freund,
in Deinem letzten Brief formulierst Du die Frage, ob in der Politik irgendwelche Grundsätze gelten, an die man sich halten müsse, was auch immer geschehen mag, oder aber, ob sie eher einen reichen Vorrat an mannigfaltigen „Grundsätzen“ und „Prinzipien“ hat, aus dem die Politiker je nach dem augenblicklichen Nutzen und nach den dringlichen Bedürfnissen einige aussuchen – und die sie dann zur ideologischen Begründung der Legitimität ihrer Handlungsweise benutzen. Ähnliches hat mir auch am letzten Tag des vergangenen Jahres mein alter Freund geschrieben. Ich möchte aus seinem Brief zitieren: „Inwieweit läßt sich die Anstrengung um die Einhaltung der Menschenrechte mit den praktisch unerläßlichen Kompromissen vereinbaren? Dahinter verbirgt sich die allgemeine Frage der Grundsätzlichkeit, die zu einer bornierten Starköpfigkeit – und zum Extrem der realistischen Nützlichkeitspolitik werden kan. (Svehlá sagte einmal: Grundsätze kann jeder Hornochse haben! – Und trotzdem mochte ihn der grundsätzliche Masaryk gern. Nicht nur als Menschen, sondern auch als Politiker schätzte er ihn). Mit welchem Kompaß kann man den Weg zwischen den beiden Polen suchen? Inwieweit bezieht sich dieses Problem auf die gegenwärtige Charta ’77?“
Gerade habe ich die polemischen Glossen des Dozenten Lubös Kohout zu meinem letzten Brief über „Die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei nach 1945 und die Menschenrechte“ zu Ende gelesen, in denen er mir ethischen Absolutismus und Puritanismus, bzw. rechtlich-moralisierenden Zugang vorwirft. Ich werde noch Gelegenheit haben, mich zu seinem Text (wie zu weiteren zwei Texten des Dozenten Milan Hübl) an anderer Stelle zu äußern; hier möchte ich mich an das angedeutete Thema halten. In dieser Hinsicht ist Dozent Kohout in seiner Dialogführung gewissermaßen offener als Dozent Hübl. Er läßt z.B. den ethischen und rechtlich-ethischen Zugang zu, „dann, wenn hier eine Gemeinschaft der Vereinigten Staaten von Europa existierte, gegründet auf dem Prinzip der friedlichen Koexistenz der Kontinente, ihrer gegenseitigen Kooperation und auf dem Prinzip der Demokratie und des authentischen Sozialismus“. Er fügt aber sofort hinzu, daß dem „leider nicht so ist“. Er erkennt an, daß „es immerhin stets notwendig sei, in die politischen Beziehungen die Moral hineinzutragen und das Recht durchzusetzen“, relativiert jedoch sofort diesen Gedanken dahingehend, daß „es schwierig, ja ungeheuer schwierig ist, und während des Kriegszustandes fast nicht realisierbar“, und daß er deshalb meine Prioritäten „nur auf der allgemeinsten Ebene, als die Prioritäten für die Zeit, auf die wir erst zusteuern, annimmt“. Konkret historisch (das bedeutet also in unserer Zeit) lehnt er diese Prioritäten „mehr als kategorisch ab“. Und er lehnt sie sowohl für die Vergangenheit, als auch für die Gegenwart ab.
Einer der Väter der Idee des Eurokommunismus ist der italienische Kommunist Antonio Gramsci, der in einer seiner Glossen schrieb: „In einem Konflikt ist jedes moralische Urteil absurd, weil es einzig auf gegebenen, existierenden Fakten begründet sein kann, die gerade der Konflikt zu verändern anstrebt“; und weiter: Das einzig mögliche Urteil ist ein politisches Urteil, d.h. die Beurteilung, ob das Mitel dem Ziel entspricht“. Ein Politiker „wird nicht auf Grund des Faktums beurteilt, daß er gerecht handelt, sondern danach, ob er positive Ergebnisse erzielt oder nicht, und ob er den negativen Ergebnisen, dem Bösen, ausweichen kan. Gerecht zu handeln kan darin enthalten sein, jedoch nur als ein politisches Mitel und keineswegs als ein moralisches Urteil“. – Ich weiß nicht, ob ich mit Hilfe von Antonio Gramsci Lubos Kohout mit Berechtigung interpretieren oder präzisieren kann, aber ich versuche es. Kohouts „Kriegszustand“ ist Gramscis „Konflikt“. Priorität hat die politische Beurteilung. Die Moral, das Recht und die Gerechtigkeit haben dort ihren Platz, aber keineswegs einen selbständigen und souveränen, sondern einen untergeordneten und instrumentalen Platz: Die Sittlichkeit bzw. das Recht kommen zu Wort, wenn dies politisch zu positiven Ergebnissen und nicht zum Bösen führt.
Ich glaube nicht, daß das der einzig möglich marxistische Zugang zur Frage der Beziehung zwischen Politik und Sittlichkeit ist; auf keinen Fall jedoch ist es der allgemein einzig mögliche Zugang. In den Gesprächen mit Jaroslav Šabatá habe ich mich vergewissert, daß zumindest für ihn die Politik auf moralischen Fundamenten beruhen und erwachsen müsse. Aber führen wir ein Beispiel an. Mein besagter alter Freund beendete die zitierte Stelle mit der Frage: „Inwieweit betrifft dieses Problem die gegenwärtige Charta 7“ Zu den ersten Anzeichen gewiser Streitigkeiten kam es schon bald im Frühjahr 1978: Muß man die Worte des konstituierenden Dokuments, daß die Charta ’77 „keine Basis für oppositionelle politische Aktivität ist“, ernst nehmen? – Es gab auch solche Unterzeichner – und es gibt sie bis heute -, die diese Formulierung als ein taktisches Manöver ansahen und überzeugt waren, daß die Charta ’77 trotzdem faktisch eine politische Opposition ist. Dozent Kohout ist damit einverstanden, daß man aus der Charta'77 keine politisch oppositionelle Plattform machen sollte. Was sind jedoch seine wahren Gründe? Es sind politische Gründe, d.h. sie sind in einer bestimmten Sichtweise der politischen Situation und des Zustands der Machtkräfte begründet. Ein bedeutender Politiker, einer der UnterzeichnerSenioren, hat mir in einem Gespräch bestätigt, daß er den Grundsatz, daß die Charta ’77 keine Basis für eine oppositionelle Aktivität sein wird, für eine moralische Verpflichtung all denen gegenüber hält, die dieses konstituierende Dokument unterzeichnet haben. Vielleicht könnten eine solche Formulierung auch Pragmatiker vom Typ Gramsci und Kohout akzeptieren, weil in der gegebenen Situation (inmitten des gegebenen Konflikts) jene Orientierung und ihre Begründung dazu beitragen, den „negativen Ergebnissen, dem Bösen auszuweichen“. Nach Gramsci „kann man einen Politiker nicht auf Grund des Faktums beurteilen, daß er mehr oder weniger ehrlich ist, sondern danach, ob er seine Verpflichtung erfüllt oder nicht (und in dieser Erfüllung kan auch das Ehrlich-sein’ enthalten sein, d.h. das „Ehrlich-sein“ kan ein notwendiger politischer Faktor sein und allgemein ist er es auch, aber dieses Urteil ist ein politisches und keineswegs ein moralisches“). Das sogenannte „konkrete Beispiel“ hat uns also das Problem nicht vereinfacht und noch weniger gelöst. Wenn jemand einfach nicht darauf achtet, was in dem Text des Grunddokuments enthalten ist, und es für eine bloße Camouflage und Mimikry erklärt, stellt er nur eine äußerst vereinfachte Variante des Problems dar. Entscheidend ist die Frage, ob diejenigen, die dieses Dokument auch in diesem Punkt bisher aufrechterhalten, das auch unter radikal veränderten Umständen täten, oder ob sie sich durch die veränderte Situation von einem weiteren Festhalten an der bisherigen Linie nicht entbunden fühlten. (Das würde ihnen dann erlauben, z.B. die bestehende Gemeinschaft auszunutzen, sie in eine politische Bewegung und eventuell in einen Bewerber um die Machtanteile umzuwandeln.)
Gramsci sagt dazu, daß „es gerade in einem Konflikt nicht nötig ist, die Sachverhalte, wie sie gegeben sind, zu beurteilen, sondern vielmehr das Ziel, das die kämpfenden Parteien während des Konflikts verfolgen“. Aber wie kann ich beurteilen, welches Ziel beispielsweise Dozent Kohout oder Dozent Hübl usw. verfolgen, wenn sie das erste Dokument der Charta ’77 unterzeichnen, und sich jetzt sehr ängstlich von jedem möglichen Verdacht distanzieren, daß sie selbst auch nur mit bloßen Überlegungen über einen eventuellen Text zum Problem der Deutschen etwas zu tun hätten, der mit der Charta ’77 in Verbindung hätte gebracht werden können? Auch wenn sie dies ausdrücklich sagen würden (was jedoch nicht geschehen ist), würde mir das nichts helfen, weil dies doch nur eine „konkret historische“ Gültigkeit hätte ohne jegliche moralische Verbindlichkeit für die Zukunft. Konkret bedeutet dies, wenn ich mich auch in voller Breite hätte überzeugen können, welchen Standpunkt sie eingenommen haben und welches Ziel sie heute verfolgen, hätte ich doch bezüglich ihrer Standpunkte und Ziele unter veränderten Bedingungen in Ungewißheit verbleiben müssen.
Diese Ungewißheit (und es handelt sich hier nicht nur um meine persönliche Ungewißheit) darüber, womit man bei den pragmatisierenden Exkommunisten in Zukunft zu rechnen hat, wird – in Übereinstimmung mit Gramscis Auffassung – zum politischen Faktor, und als solcher beeinträchtigt sie wesentlich die Möglichkeiten ihrer politischen Allianz mit den politisch anders orientierten Gruppen. Ich habe jedoch nicht vor, auf eine derart isoliert politische Ebene auszuweichen. Und das nicht aus moralischem Absolutismus und Puritanismus meinerseits, sondern als Philosoph. Die Philosophie, soll sie sich selbst treu bleiben und soll sie nicht zum „falschen Bewußtsein“ umkippen, darf nicht ihr Sensorium für das Ganze verlieren. Die politische Ebene ist jedoch weder das Ganze der Welt, noch kann sie das Ganze des menschlichen Lebens umfassen, sondern ist nur eine Schicht, eine Seite des menschlichen Daseins. Für die Philosophie wird immer die Verpflichtung gelten, daß sie die politische Sphäre und die einzelnen politischen Programme und Aktivitäten (und freilich auch die politischen Ziele) auf das Ganze des menschlichen Daseins in der Welt bezieht, daß sie also die politische Praxis und das politische Denken noch von einer anderen Seite betrachtet und beurteilt als nur vom Standpunkt der politischen Kriterien und Parameter aus. Vor zwölf Jahren hat einer unserer führenden positivistischen Marxisten einen Artikel geschrieben, in dem er forderte, daß die Philosophie der Wissenschaft die Versuche aufgeben solle, das gleiche Universum, die gleiche gegenständliche Welt wie die Wissenschaft zu erforschen, vielmehr solle sie sich auf das neue Universum, das die Wissenschaft selbst geschaffen hat, ausrichten; und sie solle nicht den Anspruch erheben, eine universelle Erklärung der Wissenschaft leisten zu wollen, sondern sie solle sich auf die Optimierung und Ökonomisierung von wissenschaftlichen Prozeduren orientieren. Das war ein klarer Grundsatz: Philosophie als Dienstmagd der Wissenschaft. Jetzt besteht wiederum ein bedeutender marxistischer Politologe auf der Priorität des politischen Zugangs vor dem ethischen; er ordnet also die Sittlichkeit der Politik unter, er macht die Moral zur Dienstmagd der Politik. Und mir wirft er moralischen Absolutismus vor!
Jeglicher moralischer Absolutismus ist mir fremd; nicht einmal mit einem Zipfel meines Gedankens will ich in der moralischen Existenz des Menschen das Ganze oder gar nur das Fundament und Wesen seiner Persönlichkeit und seiner Aktivitäten sehen. Aber ich bestehe darauf, daß die moralische Ebene des menschlichen Lebens etwas Wirkliches und in ihrer Wirklichkeit relativ Selbständiges und Autonomes ist. Wortwörtlich autonom, weil sie ihre eigenen Gesetze hat, die sich auf keine Wirklichkeiten aus anderen Ebenen übertragen und aus keinem ihrer Gesetze ableiten lassen. Dozent Kohout wirft mir vor, daß ich durch meinen gesamten Text den rechtlich-ethischen und den moralischen Zugang gegenüber dem politischen favorisiere (und ich verstehe überhaupt nicht, warum er beifügt: „und … konkret historischem Zugang“: „concretum“ ist das, was zusamengewachsen ist, also das Zusammenwachsen aller Aspekte. Wenn er selbst bekennt, daß er den politischen Zugang favorisiert, dann steht das in Widerspruch zur angeblichen Favorisierung des konkret historischen Zugangs). Aber ich habe einfach deshalb darüber gesprochen, weil Dozent Hübl und auch er selbst diesen Aspekt nicht ernst genug genommen haben, und weil sie ihn eigentlich als peripher und unwesentlich beiseite geschoben haben.
Aber Dozent Kohout hat überdies noch etwas anderes Wesentliches nicht verstanden. Wenn der Mensch die Welt verändert, ändert er zugleich (nämlich gerade dadurch) auch sich selbst. Das gehört doch zum Alphabet des Marxismus. Durch seine Praxis gestaltet (und umgestaltet) der Mensch nicht nur die Gegenstände um sich, sondern auch sich selbst. Es ist sogar so, daß er nicht an sich selbst arbeiten kann, ohne dabei an der Veränderung der eigenen Umwelt zu arbeiten. Wenn er unmoralisch handelt – wenn auch aus gewichtigen politischen Motiven -, dann öffnet er den Weg für das Böse, dem er in Zukunft nicht mehr ausweichen kann, und dieses Böse bleibt niemals nur auf der Ebene, in der es entstanden ist, begrenzt (was ebenso bedenklich wäre), sondern es wird auch in die übrigen Ebenen durchdringen, also auch in die politische. Verstoß gegen die Moral oder moralisches Versagen werden notwendigerweise auch zum politischen Faktor (wenn auch nicht nur zum politischen Faktor). Es ist absurd, irgendeine politische Entscheidung mit der nationalen Selbsterhaltung zu motivieren, wenn das die bedenklichste Selbstbeschädigung der nationalen Gesellschaft und der Gesellschaft an sich ohne Rücksicht auf ihren nationalen Charakter bedeutet. Es wäre zumindest nötig, auch die nicht-politischen und außer-politischen Folgen einer solchen politischen Entscheidung abzuwägen (und die sekundären politischen Folgeerscheinungen dieser nicht-politischen und außerpolitischen Folgen). Kurzum: Ein Politiker, der das Volk, die Gesellschaft oder ihre Teile zu bestimmten Entscheidungen und Taten führt, verändert nicht nur die nationale bzw. gesellschaftliche Situation, die Umstände, äußeren Faktoren und Realitäten, sondern auch das Volk und die Gesellschaft selbst. Konkret bedeutete z.B. die Vertreibung der Deutschen aus unseren („böhmischen“) Grenzgebieten nicht nur die Vertreibung für die deutsch sprechenden tschechoslowakischen Bürger, sondern kennzeichnete unauslöschbar die verbliebene tschechische Gesellschaft in vielerlei Hinsicht. Und darum geht es mir, wenn ich auf die moralische Seite der ganzen Angelegenheit aufmerksam mache (wobei mir durchaus nicht einfällt, mich nur auf sie zu beschränken).
Die politische Denkweise ist für meinen Geschmak ein wenig beschränkt und engstirnig; sie läßt wichtige Faktoren außer Acht, die ihren Horizont übersteigen oder die von anderen Ebenen in die politische Sphäre eingreifen. Damit wir uns über diese Probleme vernünftig verständigen können, ist es absolut notwendig, daß auch Dozent Kohout (genauso Dozent Hübl und noch weitere) die begriffliche Differenzierung annehmen, die ich ständig empfehle, aber zu der, wie es scheint, in gewissen Kreisen niemand so recht Lust hat. Es bestehen keine Zweifel daran, daß die alte aristotelische Definition, die darauf hinweist, daß der Mensch zon politikon, ein Gesellschaftswesen ist, auch heute noch gilt. In diesem Sinn ist nahezu alles, was er unternimmt, politisch; zumindest hat es irgendwelche politischen Folgen, die dann ihr besonderes Gewicht bekommen, wenn bestimmte Verhaltens- und Denkweisen usw. die Formen der Massenerscheinung annehmen. In diesem weiten Sinn ist selbst das menschliche Dasein in der Welt politisch (weil gesellschaftlich). Das bedeutet jedoch keineswegs, daß die politischen Kriterien priorisiert oder favorisiert werden sollten; es bedeutet auch nicht, daß der politische Aspekt des menschlichen Verhaltens höher wäre als andere Aspekte. Es bedeutet sogar nicht einmal, daß für das Verständnis irgendeiner gesellschaftlichen oder politischen Realität gerade der politische Aspekt der wichtigste wäre. Der Mensch ist zualererst zon’, lebendes Wesen. Und das bedeutet, daß alles, was er unternimmt, wie er sich verhält und wie er denkt, biologisch und physiologisch bedingt ist. Trotzdem lassen sich wahrscheinlich nur sehr wenige Menschen finden, die daran festhalten würden, daß die Biologie das höchste Kriterium bei der Beurteilung des menschlichen Verhaltens ist. Es existieren Ebenen des menschlichen Lebens und menschlicher Aktivitäten, denen die Biologie und die Physiologie einfach nicht gewachsen sind. Biologie und Physiologie können uns manchmal einige Störungen im menschlichen Verhalten oder Denken bedeutsam erhellen, aber sie können in keinem Falle die Autorität in Fragen ihrer Normalität sein. Analog dazu verhält es sich mit der Beurteilung aus der Sicht der Politik und der Politologie. So wie die Physiologie und Psychologie in den Fragen der logischen Folgerichtigkeit inkompetent sind, so ist die Politik in den Fragen der Ethik inkompetent. Das bedeutet keineswegs, daß auch das allerstrengste logische Denken ohne physiologische Prozesse auskäme, oder daß die ethischen Entscheidungen von allen politischen Merkmalen und Folgen befreit werden könnten.
Jene Differenzierung, die eine notwendige Folge dieser Überlegungen ist und die ich wärmstens empfehle, besteht in folgendem: Es gibt keinen Grund, warum man sich nicht fachlich mit der politischen Seite des menschlichen, individuellen und vor allem des gesellschaftlichen Verhaltens und Denkens beschäftigen sollte. Die zuständige fachliche Disziplin, nämlich die Politik als Wissenschaft, als Theorie (Politologie), hat das unbestreitbare Recht auf ihre Spezialisierung, aber sie darf ihre Kriterien nicht anderen Disziplinen und schon gar nicht dem Gesellschaftsleben in all seiner Fülle und Vielschichtigkeit aufzwingen. Es existiert auch eine praktische Politik, die eigentlich eine Applikation der politischen Theorie ist (meistens ist sie jedoch eine Applikation irgendwelcher vortheoretischer, vorwissenschaftlicher Vorstellungen und Auffassungen, die keine eigene Selbständigkeit und Eigenart besitzen, aber die bestimmten Interessen und subjektiv gültigen Zielen als ein ideologischer Deckmantel oder eher als ein Mäntelchen dienen). Eine solche praktische Politik kann es jedoch nicht vermeiden, die gesamte Gesellschaft und alle Schichten ihres Lebens zu beeinflussen, d.h. sie kann niemals auch Eingriffe in solche Bereiche ganz ausschließen, die außerhalb ihres Zulässigkeitsrahmens und hinter den Grenzen ihrer Kompetenz liegen. Aber schon hier muß man konsequent und streng unterscheiden, ob das unwillkürliche und nicht absichtlich verfolgte Eingriffe sind (eine Art Nebenprodukte der politischen Maßnahmen), oder im Gegenteil gezielte, bewußt gewollte und beabsichtigte. Im ersten Fall handelt es sich um eine ungenügend durchdachte, im zweiten um eine entartete Politik. Im ersten Fall ist es notwendig, aufzuklären, im zweiten zu widersprechen, praktisch Widerstand zu leisten und öffentlich zu entlarven. In beiden Fällen haben wir unbestreitbar politische Aktivität vor uns, aber von jeweils ganz anderer Art. Es geht primär nicht um eine abweichende, besondere politische Konzeption, die in der allgemeinen politischen Theorie verankert wäre, sondern um periphere (wenn auch oft lebenswichtige) Folgen der Lebenseinstellung, des Lebensstils, der Lebensausrichtung, deren Schwerpunkt außerhalb der politischen Sphäre liegt, aber die die politische Wirklichkeit zur Kenntnis nimmt, ihr nicht den Rücken kehrt und kein Ignorantentum ist, aber trotz allem angemessenen Respekt auch zu solchen politischen Taten und Entscheidungen bereit ist, die aus der eng professionellen politischen und politologischen Sicht inkongruent und widersprüchlich zu sein scheinen. Das alles jedoch deshalb, weil die Ebene ihrer Logik und ihrer Sinnfülle einfach eine andere ist als die Ebene der praktischen und theoretischen Politik in jenem verengten, spezialisierten Sinne. Wenn wir über politische Aspekte einer solchen Aktivität sprechen, müssen wir unterscheiden zwischen der professionellen, technischen, „politischen“ Politik und der „nicht-politischen“ Politik, d.h. die in ihrer Sinnfülle vom Zentrum integriert ist, das außerhalb der Reichweite der gesamten fach-politischen Bewertung liegt.
Die Gesellschaft ist jedoch immer ein Ganzes; die Politik als professionelle Theorie und Praxis beschränkt und spezialisiert sich nur auf eine Ebene ihres Gesamtlebens, und zwar auf die Ebene, die trotz ihrer Wichtigkeit nicht die grundlegende ist, und die weder die höchste noch die entscheidende Bedeutung besitzt. In bestimmten Situationen können außerpolitische Gründe überwiegen, und sie können die Oberhand über fachpolitische Gründe, und auch über engere politische Interessen gewinnen, sie können zu politischen Entscheidungen führen, die aus der Perspektive der technischen Politik widersinnig zu sein scheinen, die aber aus der politisch ausweglosen Situation zur gesellschaftlichen Rettung führen können. Und in solchen Fällen wird offensichtlich, daß auch für den konkreten Politiker und die konkrete politische Bewegung gewisse Grundsätze und Verpflichtungen nicht-politischen und außerpolitischen Charakters gelten, deren noch so gut technischpolitisch begründete Unterlassung und Übertretung nachteilige, fatale und manchmal direkt katastrophale Folgen haben, und zwar nicht nur für die nicht-politischen, außerpolitischen Ebenen und Sphären des gesellschaftlichen Lebens, sondern übertragen auch für die entfernten, der fachpolitischen Verfolgung sich entziehenden Zusammenhänge und für die rein technischpolitische Sphäre. Hoffentlich ist hier bereits klar, daß es mir nicht ums Moralisieren oder um eine Grundsätzlichkeit geht, deren “jeder Hornochse“ fähig ist, sondern um Empfänglichkeit für Zusammenhänge, die zwar der Aufmerksamkeit entgehen, aber real sind.
Dein
Ladislav Hejdánek
Prag, den 29.3.1979