- in: Ladislav Hejdánek, Wahrheit und Widerstand. Prager Briefe, přel. Milan Walter – Eva Bauer, München: P. Kirchheim, 1988, str. 227–231
Emigration oder Verfolgung?
Lieber Freund,
Du fragst Dich – wie vielleicht viele in unserem Lande -, wie das zu verstehen und zu beurteilen sei, wenn ein bedeutender Unterzeichner der Charta ’77 aus der Republik auswandern möchte. Diese Frage ist sehr aktuell geworden, nachdem nicht lange nach der Erklärung des österreichischen Kanzlers Bruno Kreisky unsere Ämter angeblich einigen prominenten Chartisten die Auswanderung angeboten haben. Damals haben das alle abgelehnt; später hat sich der Philosoph Menert gemeldet, dem allerdings unsere Ämter kein Angebot gemacht hatten, und jetzt sind weitere Antragsteller hinzugekommen. Dein Interesse konzentriert sich hauptsächlich auf einen bekannten Politiker, einen ehemaligen Sekretär der Rechtskommission des ZK der KPČ und späteren Sekretär des ZK der KPČ. Du fragst, was das Fortgehen eines solchen Mannes ins Exil eigentlich bedeute und was speziell für die Situation der Charta ’77 und für die Chartisten.
Ich würde sagen, daß das Faktum des Fortganges ins Exil an sich nicht legitim verurteilt werden kann. Das Recht auf das Verlassen des eigenen Landes genauso wie das Recht in das eigene Land wieder zurückzukehren ist ein grundlegendes Menschen- und Bürgerrecht. Was jedoch bewertet und beurteilt werden kann und muß, sind die Gründe, warum ein bestimmter Mensch emigriert. Gerade diese Gründe sollten vor einer kritischen Überprüfung bestehen. Um sie jedoch beurteilen zu können, müßten sie formuliert werden. Der Politiker aber kann oder will selten seine Gründe völlig klarlegen, die ihn zu einer bestimmten Entscheidung führen; zudem leben wir heute in einer Situation, in der kaum jemand den Mut aufbringt, wirklich offen zu sein. Deshalb ist es in dem jetzigen Augenblick unmöglich, hinreichend zu verstehen und zu beurteilen, ob Zdeněk Mlynářs Fortgang seine tiefere Berechtigung hat. Das kann erst die Zukunft zeigen. Trotzdem können wir die Frage einmal auf einer allgemeinen Ebene durchgehen.
Ein Politiker, der zwar unter starkem Druck in die Emigration geht, aber keineswegs weil er dazu direkt gezwungen wurde (etwa wie ein Verbannter), kann dies grundsätzlich aus zweierlei Gründen tun: Entweder resigniert er oder er hat sich entschlossen, sein Programm und seine politische Linie mit anderen Mitteln und auf anderen Grundlagen zu realisieren. Wenden wir uns zunächst der ersten Möglichkeit zu. Menschlich ist es vollkommen verständlich, wenn ein Mensch z.B. nach vielversprechenden Anfängen auf einmal fühlt, daß es zu viele Hindernisse und Widrigkeiten gibt, daß die Risiken zu groß sind, und daß der weitere Weg so anspruchsvoll ist, daß das seine Kräfte und Möglichkeiten überschreitet. Jeder sollte selbst am besten wissen, wie weit seine Kräfte langen. Es wäre nicht gerecht, wenn wir jemandem eine Last auf den Hals laden wollten, der er nicht gewachsen ist, oder ihm das Recht absprechen, sich von dieser Last zu befreien, nachdem er festgestellt hat, daß sie für ihn zu schwer ist. Die Voraussetzung dafür ist jedoch eine anständige, solide Weise, wie der Mensch sich zu der Sache stellt und wie er sich von den eventuell bereits angenommenen Verpflichtungen freimacht. Ich verüble es niemandem, daß er sich entschieden hat, die Charta ’77 nicht zu unterschreiben; eine Sache ist es jedoch, nicht zu unterschreiben, und eine andere, zu unterschreiben und dann zu widerrufen. Daß in der Zeit des Beschusses mit den schwersten Kalibern nur ein einziger Unterzeichner widerrufen hat, ist für tschechische Verhältnisse eigentlich ein kleines Wunder.
Selbstverständlich hat ein Politiker, der von Anfang an zu den führenden Funktionären der Charta ’77 gehört, damit auch eine gewisse Vepflichtung auf sich genommen. Wenn er sich entschließt, das Land zu verlassen, bedeutet das, daß er seiner Verpflichtung nicht gerecht wird, zumindest nicht im ursprünglichen Sinn und im vollen Umfang. Das Programm der Charta ’77 ist von Anfang an ein Versuch der Durchsetzung und Festigung der Gesetzlichkeit und der Vertiefung des Respekts vor den Menschen- und Bürgerrechten und den Freiheiten in diesem Land. In einem meiner ersten Briefe habe ich Dir geschrieben, warum ich überzeugt bin, daß dieser Kampf um die Einhaltung der Gesetze, die die Menschen- und Bürgerrechte proklamieren und garantieren, nur auf dem Boden unseres Landes, eventuell auf dem Boden des sozialistischen Lagers insgesamt möglich ist, auch wenn die Unterstützung der internationalen Öffentlichkeit nicht zu verachten und uns immer willkommen ist. Ein Politiker, der sich entschließen sollte, für die Menschen- und Bürgerrechte in unserem Lande von der anderen Seite aus, vom Ausland her, zu kämpfen, muß sich die Frage stellen, ob er nicht prinzipiell falsch überlegt, oder ob von seinem politischen Kampf für die Menschen- und Bürgerrechte nicht bloß eine rhetorische Geste übrigbleibt. Ich persönlich bin überzeugt, daß der Versuch, die Hauptfront des Kampfes um die Menschen- und Bürgerrechte und Freiheiten auf das internationale Feld zu verschieben und zu übertragen, ein grober politischer Irrtum ist.
Natürlich muß man sehen, daß sich ein solcher innenpolitischer Kampf Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte hinziehen kann. In den einzelnen Peripetien kann er auch an Rasanz und Schrecken zunehmen; die Bedrohung einiger Einzelpersonen kann in solchem Maße anwachsen, daß das Asyl im Ausland absolut unumgänglich sein kann. Außerdem ist hier auch die Einschätzung der zukünftigen Entwicklung entscheidend, und diese muß sich nicht immer mit dem tatsächlichen Verlauf der Ereignisse decken. Aus der Sicht der kommenden Generation kann sich die Emigration einiger Menschen als überstürzt erweisen, aber auch das Gegenteil ist möglich: Es könnte verwunderlich erscheinen, daß manche Menschen das Land nicht rechtzeitig genug verlassen haben. Wenn die Emigration nicht nur den Charakter einer privaten Lösung haben soll, ist es notwendig, mit einer bestimmten Konzeption zu emigrieren. J. A. Comenius oder Masaryk sind aus unterschiedlichen Gründen in die Emigration gegangen. (Beide haben eine verhältnismäßig kurzzeitige Entwirrung der Situation von den Kriegsereignissen erwartet – der erste hat sich sehr geirrt, dem zweiten ist eine richtige Einschätzung gelungen.) Aus anderen Gründen hat Karl Jaspers nach der Kriegsniederlage Deutschland verlassen (aus Protest gegen die deutschen Verhältnisse, ohne verfolgt zu werden und mit der Absicht, nicht zurückzukehren). Es gibt viele Arten verschieden motivierter Emigrationen, manche müssen ausdrücklich gebilligt werden (eventuell empfohlen werden), andere lassen sich anerkennen oder zumindest ohne Einwände hinnehmen, und schließlich lassen sich manche weder verteidigen noch werden wir gebeten, dazu Stellung zu nehmen. Es gab Zeiten, in denen Hunderte von Familien nach Amerika ausgewandert sind, weil sie zu Hause keinen Lebensunterhalt fanden. Heute gibt es bei uns zwar keine Arbeitslosigkeit (zumindest keine sichtbare, versteckte gibt es mehr als genug), aber für manche Menschen wird sie künstlich geschaffen. Zdeněk Mlynář erhielt eine Kündigung, die in Widerspruch zu unseren eigenen Gesetzen und auch zu unseren internationalen Verpflichtungen stand, und die später sogar gerichtlich als gültig bestätigt wurde. Für einen Unterzeichner der Charta ’77 und besonders für einen so politisch stigmatisierten Menschen ist es heute fast ausgeschlossen, einen neuen Arbeitgeber zu finden, wovon sich täglich immer wieder viele Dutzende ähnlich Betroffener überzeugen können, zu denen ständig weitere hinzukommen. Welche Lösung soll ein Mensch finden, der seinen Freunden und Bekannten nicht zur Last fallen will? Unsere offiziellen Stellen haben alles getan, was in ihren Kräften stand, um Mlynář zu zwingen, die Republik zu verlassen und seinen Unterhalt im Ausland zu suchen. Deshalb kann man es Mlynář nicht verübeln, daß er sich für diese Möglichkeit entschieden hat.
Zugleich darf man jedoch die Tatsache nicht vergessen, daß Dutzende und Hunderte von Menschen heute schlimmer dran sind als Mlynář; seit 1970 waren es Zehntausende von Menschen, die unter größten Schwierigkeiten eine Ersatzbeschäftigung gesucht haben, in der sie ihre Qualifikation überhaupt nicht anwenden konnten. Ich kenne das gut aus meiner eigenen Erfahrung; darüber habe ich auch schon geschrieben. Und diese Menschen leben trotzdem in diesem Land – noch. Das politische Ziel der Arbeitsverbote für so viele Menschen ist jedoch nicht, sie alle zur Emigration zu zwingen, sondern sie klein zu kriegen. Die Möglichkeit der Emigration steht nur ein paar wenigen Auserwählten offen. Trotzdem meine ich, wenn heute die Grenzen für alle Bürger geöffnet würden, wären es andere Menschen, die emigrieren würden, aber sehr wenige Chartisten. Durch ihre Haltung beweisen die Chartisten nämlich, daß sie nicht die Absicht haben, unauffällig auf ihre Gelegenheit zu warten, sondern daß sie für dieses Land und diese Gesellschaft die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben haben. Sie suchen nur eine Gelegenheit, für dieses Land und für seine Menschen so zu arbeiten, wie sie am besten können und wie ihr Gewissen es ihnen gebietet. Sie möchten, daß bei uns Wahrhaftigkeit statt Verlogenheit, Gerechtigkeit statt Unrecht, Offenheit statt Unterwürfigkeit, Freiheit statt Unterdrückung an die Herrschaft kommen. Man kann sich vorstellen, daß es möglich ist, sie mit harten Mitteln in die Emigration zu treiben und zu zwingen; aber so lange es noch einigermaßen erträglich ist, sind sie entschlossen, hier zu bleiben. Wenn einige von ihnen fortgehen sollten, wenn sie dem Druck oder aus anderen Gründen unterliegen, so wird das, glaube ich, keinen großen Einfluß auf die anderen haben. Zwar ist es zweifellos eine spürbare Schwächung unserer bisher nicht allzu zahlreichen Reihen (bislang ist aber noch keine Agitation zielstrebig durchgeführt worden, weil es hier um Argumente und Dialoge, nicht um die Anzahl der Stimmen geht), aber im Grunde kann das die Situation nicht beeinflussen.
Ich habe den Eindruck, daß es die Situation auch nicht wesentlich beeinflussen könnte, wenn eine beträchtliche Prozentzahl der Unterzeichner so oder so wegfallen würde; der Inhalt der Charta ’77 hat sein Gewicht und kann es niemals mehr verlieren. Es scheint paradox zu sein, aber die Aktivität der Chartisten kan eigentlich nicht bendet werden, weil – und da bin ich sicher – es darüber niemals zu einer einheitlichen Meinung kommen wird. Um dieses Ziel zu erreichen, wäre es nötig, sich zu versammeln, alles gründlich zu diskutieren und dann abzustimmen. Aber gerade dies ist nicht möglich, solange die Chartisten nicht von den offiziellen Stellen anerkannt werden und solange ihnen eine solche Versammlung und ein solches Gespräch nicht erlaubt und ermöglicht werden. Damit so etwas möglich werden könnte, müßte sich vieles ändern. Und auf Veränderungen solcher Art können die Chartisten keinen anderen Einfluß nehmen als den eines bloßen Katalysators, der selbst nicht in Reaktion tritt. Wie bekannt ist, genügt ganz wenig von einem Katalysator, um die Reaktion hervorzurufen.
Vielleicht sollte ich noch für mich und auch für die anderen die Gründe formulieren, warum ich nicht vorhabe, ins Ausland zu emigrieren, wo ich ohne jeden Zweifel ein leichteres Leben hätte. Es gehört zum Wesen der Philosophie, daß sie stets auf das Ganze achtet. Deshalb stelle ich mir die Frage: Könnte ich für die Zukunft der Menschheit, für die Zukunft einer menschlichen Welt im Westen mehr tun als hier? Ich glaube nicht. Auch in den westlichen Ländern, ob in den europäischen oder jenseits des Ozeans, werden die Nonkonformisten, die scharfblickenden Kritiker der Gesellschaft und die unbestechlichen Aufdecker tiefer Wunden und eitriger Geschwüre, die unter wirkungslosen Salben versteckt werden, die Zukunft der Welt beeinflussen. Das müssen jedoch Menschen sein, die tief mit dem dortigen Leben verbunden sind, die über in die Tiefe der Gesellschaft reichende Wurzeln verfügen und die an die besten heimischen Traditionen anknüpfen. Als ein Fremder und Zuwanderer könnte ich dabei wenig hilfreich sein. Demgegenüber weiß ich, welche die besten tschechischen Traditionen sind; ich bin fest in diesem Lande verankert, ich kenne es entschieden besser als jedes andere Land und bin tief davon überzeugt, daß es etwas hat, was es als seinen Beitrag zu den Schätzen der gesamten Menschheit bringen könnte. Warum sollte ich micht wie eine Fliege oder wie ein räudiger Hund von Menschen vertreiben lassen, die davon nicht die geringste Ahnung haben? Aber letztlich geht es nicht um mich und die Vorteile meiner Familie, sondern um die Erfüllung (oder besser eine allmähliche Erfüllung) des Sinnes der tschechischen Geschichte im Rahmen des Weltsinnes. Und der tschechische Weg führt – und das wird wahrscheinlich noch lange so sein – vorwärts durch die Länder Osteuropas; darin sehe ich direkt unsere (wenn auch nicht nur unsere) historische Mission. Die Zukunft der Welt hängt in einem nicht unbedeutenden Maß davon ab, ob es gelingt, allmählich und ohne gewaltsame Unterbrechungen und gesellschaftliche Kataklysmen den sogenannten realen Sozialismus (d.h. das Gebiet, wo er bislang herrscht) zu demokratisieren. Ich bin in meinem tiefsten Innern davon überzeugt, daß das möglich ist; vom Gesichtspunkt der Weltgeschichte aus ist es notwendig. Es ist nicht möglich und wird auch niemals möglich sein, das von außen durchzuführen.
Dein
Ladislav Hejdánek
Prag, den 12.5.1977
P.S. Ich werde jetzt einige Schwierigkeiten mit dem Schreiben haben; vielleicht verzeihst Du mir, daß ich Dir nur in vierzehntäigen Intervallen schreiben werde. Sobald es möglich oder sogar nötig sein wird, werde ich den Turnus wieder verkürzen.