- in: Ladislav Hejdánek, Wahrheit und Widerstand. Prager Briefe, přel. Milan Walter – Eva Bauer, München: P. Kirchheim, 1988, str. 239–246
Nationalismus, Heimat und Emigration
Lieber Freund,
aus Erfahrung weiß ich, daß es viele Leute gibt, die ähnliche Ansichten wie Dein Bekannter haben: Wenn mir dieses Land nicht genug Möglichkeiten bietet, mein Talent und meine Qualifikation zur Geltung zu bringen, sehe ich keinen Grund, warum ich mich hier noch länger aufhalten sollte. Nur äußere Umstände hindern mich an meiner Ausreise. Innerlich fühle ich mich jedoch meiner stiefmütterlichen Heimat durch kein Band mehr verbunden. Das Nationalgefühl oder der Patriotismus sind ideologisches Gerümpel. Die Welt rückt heute immer mehr zu einem Ganzen zusammen. Wie früher die Menschen ihren Lokalpatriotismus durch ihr National- und Staatsbewußtsein überwunden haben, so müssen sie heute den Patriotismus durch das Bewußtsein überwinden, daß sie in erster Linie Angehörige des Menschengeschlechts sind, daß sie Weltbürger sind. – Dein Bekannter hat einen meiner vorjährigen Briefe gelesen (über Fragen zur Emigration) und bat Dich, daß Du mir eine ganz konkrete, auf den Leib geschneiderte Frage stellst, nämlich, welche Gründe mich dazu führen, daß ich dieses Land nicht verlassen möchte (obwohl die Behörden es gerade mir ermöglichen würden). Dein Bekannter möchte keine allgemeinen Gründe und keine bloßen Überlegungen hören, sondern er will auf seine konkrete Frage eine ganz konkrete Antwort hören. Er möchte, daß ich Rechenschaft über meine rationalen, aber auch emotionalen Beziehungen zu diesem Land ablege.
Ich lehne diese Frage nicht ab (Dein Bekannter fürchtet zu Unrecht, daß mich seine Zudringlichkeit kränken würde), ich muß jedoch gleich von Anfang an daran erinnern, daß ich nur im Rahmen meines Selbstverständnisses antworten kann. Es ist nicht leicht, sich selbst zu verstehen. Es ist möglich, daß mir künftige Ereignisse einen neuen, anderen Blick auf meine eigenen Motive und insbesondere auf meine „emotionalen Beziehungen“ zu meinem Land ermöglichen werden, in dem ich geboren wurde und über ein halbes Jahrhundert gelebt habe. Ich glaube jedoch nicht, daß es eine totale Umkehr sein könnte. Aber in den Details könnte es ganz gut zu Verschiebungen kommen, und einige Urteile könnten dann an Präzision gewinnen. Das nämlich passiert meistens. Mit dem Fortgang der Ereignisse, an denen der Mensch teilnimmt, und mit der fortschreitenden Realisierung seiner Pläne (oder dem Vesagen) lernt der Mensch sich selbst immer besser kennen (oder kann sich besser kennen lernen), aber – wie z.B. schon Karl Marx angemerkt hat – durch seine Praxis ändert er nicht nur die Welt um sich herum, sondern auch sich selbst. Diese Veränderung betrifft also nicht nur unsere Selbsterkenntnis und unser Selbstverständnis, sondern auch uns selbst, unsere Wesenskonstitution. Vor dem Hintergrund einer neuen Situation werden wir andere, neue Menschen. Allerdings betrifft das auch die gegenständliche Seite. Wenn wir andere, neue Menschen werden, wird sich dadurch auch die ganze Struktur der Ereignisse um uns herum verändern. Ich bin im tiefsten davon überzeugt, daß es nur die halbe Wahrheit ist, wenn wir sagen, daß durch die Veränderung der Verhältnisse sich auch die Menschen ändern. Genauso gilt auch umgekehrt, daß Menschen die Verhältnisse (wenigstens manchmal) dadurch ändern können, daß sie sich zuerst selbst verändern. Aber das wäre schon eine ganz andere Frage.
Die westdeutsche Zeitung „Die Zeit“ veröffentlichte vor einiger Zeit ein Interview des Journalisten Fritz Raddatz mit einem amerikanischen farbigen Schriftsteller, der auch bei uns durch seine Übersetzungen bekannt ist, nämlich mit James Baldwin. Baldwin lebt schon seit Jahren in Frankreich, aber jetzt beabsichtigt er, in die Vereinigten Staaten zurückzukehren. Man stellte ihm die Frage, warum er sich zu diesem Schritt entschlossen habe. Die Antwort – wie übrigens auch die weiteren Antworten – klingt überaschend, aber ungewöhnlich glaubwürdig: „Es mag sehr seltsam erscheinen, aber ich kann auf diese Frage keine genaue Antwort geben. Ich bin wie ein Pferd, das Wasser wittert – ich ahne etwas, irgendwelche Ereignisse. Dieser Instinkt hat mich nie im Stich gelassen.“ Aber das ist nur ein Teil seiner Antwort. Der zweite Teil ist „subjektiver“, bzw. er betrifft noch mehr ihn selbst: „Ich bin ein amerikanischer farbiger Schriftsteller; und das bedeutet, daß in mir die Hoffnung lebt – allem zum Trotz. Ich muß nach Amerika zurückkehren, sonst höre ich auf, Schriftsteller zu sein.“ Am meisten fühle ich mich jedoch durch sein „Grundbekenntnis“ angesprochen, wie er es formuliert haben könnte: „Das, was in diesem Land geschieht, ist für mich unannehmbar, wenn aber dieses Land zugrunde gehen soll, will ich gemeinsam mit ihm untergehen.“ (Das Gespräch mit James Baldwin druckte die Zeitschrift „Za rubežom“ nach, die in Moskau erscheint).
Vor dreißig Jahren (ich studierte damals im ersten Jahr an der Philosophischen Fakultät) habe ich auch mit der Entscheidung gerungen, ob ich das Land, in dem ich geboren wurde, verlassen solle. Es war in der Zeit, als ich mich für das ganze Leben der Philosophie verschrieben hatte. Ich war kein Marxist und wollte auch keiner werden, weil ich wußte, wo seine Fehler liegen, und auch, auf welche Irrwege er geraten war. Und es wurde mir klar, daß ich gerade als Philosoph, der nicht die Absicht hat, Marxist zu werden, und es auch nicht vortäuschen wollte, keine großen Chancen in einem Land haben würde, das über lange Jahrzehnte hin auch im kulturellen Bereich von der marxistischen Idologie beherrscht werden wird. (In Streitgesprächen mit meinem Vater, der nur eine verhältnismäßig kurze Dauer des neuen Regimes voraussagte, habe ich provokativ behauptet, daß man mit einer neuen Situation rechnen müsse, die als Dauerzustand möglicherweise fünfzig Jahre anhalten wird). Ich war schon in der damaligen Zeit ein überzeugter Sozialist, aber ich machte mir darüber, was man heute euphemistisch „real existierender Sozialismus“ nennt, keine großen Illusionen (auch wenn ich tatsächlich nicht ganz ohne Illusionen war, wie sich später zeigen sollte). Im Kreise meiner Freunde habe ich damals meinen Standpunkt erläutert (zwei Mädchen haben damals meine Erklärung wörtlich oder fast wörtlich aufgeschrieben). Ich habe damals auch einige starke Worte bei manchen Punkten benützt, bei denen ich heute mehr Vorsicht zeigen würde. Ich verkündete meine Überzeugung, daß die zwei damals gerade reformierten, den Ton angebenden Lager ungefähr die gleiche Menge von negativen Merkmalen aufwiesen, daß aber der entscheidende Entwicklungsweg in die Zukunft durch den Engpaß im Osten führen werde (heute zweifle ich immer mehr daran). Man sprach damals sehr viel über einen neuen Konflikt, der auszubrechen drohte. Ich erklärte, daß diesen Konflikt bestimmt nicht die Sowjetunion heraufbeschwören werde, und daß ich in einem solchen Fall mit dem Gewehr in der Hand auf ihrer Seite stehen werde, auch wenn ich mich weder mit den Zielen der sowjetischen noch unserer politischen Führung identifiziere. Und schließlich sagte ich, daß ich bei meinem Volk bleiben werde, auch wenn es ganz vom Wege abkommen und seine Schritte direkt in den Abgrund lenken würde; aber unterwegs würde ich unaufhörlich laut sagen, daß es in den Abgrund und nicht in eine fröhliche Zukunft schreitet.
Kurzum, ich habe mich für eine lebenslange Philosophie, aber auch für das Leben in diesem Land entschieden. Ich konnte mir damals auch nicht vorstellen, daß ich meinen Entschluß zu einer ernsthaften, der Wahrheit ergebenen geistigen Arbeit, die nie das Ganze aus den Augen läßt, auf irgendeine Art und Weise durch mein Fortgehen ins Ausland stärken könnte. Was wäre das für eine Beziehung zum Ganzen, wenn ich versuchen würde, gerade das, was mir am nächsten liegt, aufzugeben? Zudem ging ich mit einem guten Freund zu einem Hochschullehrer, zu dem wir damals großes Vertrauen haten, um bei ihm Rat zu holen – und der hat uns von dem Weg in die Emigration abgeraten. Beide haben wir auf seine Worte gehört, auch wenn ich mir die Gründe für meine Entscheidung nach meinem eigenen Kopf formulierte. Mein Freund ging dann nach zwanzig Jahren doch noch in die Emigration. Ich habe mich bewußt fürs Bleiben entschieden. Ein Techniker, Naturwissenschaftler oder Arzt kann zweifellos überall in der Welt arbeiten, wo die technischen Voraussetzungen dafür gegeben sind. Ein Schriftsteller, Philosoph und Theologe wird jedoch meiner Ansicht nach entwurzelt. Ich habe meinen Entschluß für die Philosophie mit dem Entschluß, diesem Land geistig verbunden zu bleiben, verknüpft. Im Gegensatz zum Vaterland von James Baldwin ist mein Land klein und in den politischen Wirbeln der Welt machtlos. Das halte ich jedoch für einen Vorteil und nicht für einen Nachteil. Darin kann ich mich irren. Ich mache mir über das tschechische Volk und seinen Charakter keine Illusionen. In den letzten Jahrzehnten war es moralisch gestörter als je zuvor. Wir machen eine riesige geistige, sittliche, auch kulturelle und gesellschaftliche Krise durch, deren Umfang erst in der Zukunft ermessen werden kann. Auch das halte ich eher für einen Vorteil als für ein Hindernis. Man darf auch eine nationale Katastrophe dieses oder jenes Typs nicht ausschließen, vielleicht werden andere Menschen für sich eine Lehre daraus ziehen können. Ich bin hier, und ich bin fest entschlossen, hier zu bleiben. Wenn man irgendwann meine Dienste brauchen wird, stehe ich zur Verfügung, auch wenn meine Kräfte schon langsam abnehmen.
„Ich bin ein Pferd, das Wasser wittert …“ Im Gegensatz zu Baldwin kann ich mich nicht allzu sehr auf meine Instinkte oder Intuitionen verlassen. Auf keinen Fall kann ich sagen, daß sie mich nicht enttäuscht hätten. Zu oft habe ich mich in meinen Einschätzungen getäuscht. Aber dennoch, auch ich „wittere das Wasser“, auch ich „ahne etwas“, „irgendwelche Ereignisse“. Und ich will dabei sein: damit ich es mit meiner Interpretation zu durchleuchten helfe, damit ich den Weg vorwärts zu zeigen versuche, damit ich warne. Vielleicht hauptsächlich, damit ich warne. Die nächste Zukunft verspricht nichts Aufmunterndes, aber ich bin bereit, einen großen Teil der Last dieses Landes auf mich zu nehmen, auch wenn ich dafür nicht bezahlt werde. Die Traditionen dieses Landes sind bedeutend und verdienen, daß ich für sie etwas tue, auch wenn es heute selten jemand zu schätzen vermag. Wer sollte schon an Palacký, Havlíček, Masaryk, Rádl anknüpfen, wenn nicht einer von uns? Und ganz konkret: wenn nicht ich? Hier irgendwo ist das Wasser; ich rieche es. Und das Wasser erlaubt uns, dem Ansturm der Wüste wenigstens durch eine kleine Oase zu trotzen.
„In mir lebt die Hoffnung – trotz allem“; die Hoffnung ist kein Kalkül, wenigstens nicht die wahre Hoffnung. Ich verlasse micht nicht auf „treibende Kräfte der Geschichte“, ich setze meine Hoffnung weder auf Trends und Tendenzen in der Gesellschaft noch auf Strömungen der politischen Entwicklung in der Welt. Der Mensch kann nicht schwankend oder sogar zerrüttet leben, er kann seine Handlungen und Aktivitäten nicht auf Verzweiflung und Resignation gründen, auch kann er sein inneres Manko nicht durch fieberhafte Arbeit ausfüllen und decken. Kommunisten meiner Generation haben unbedacht, aber doch begreiflich ihr junges Leben mit der Perspektive der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft verknüpft, zu konkret, zu gegenständlich malten sie sich scharfe Konturen der Zukunft aus, indem sie sie den jeweiligen Trends, Bedürfnissen und Vorstellungen der Bewegung anpaßten, durch die sie sich getragen fühlten. Ihre heutige Enttäuschung, Resignation, nicht selten auch ihr bitterer Zynismus sind nur die Folgen des Verlustes des inneren Gleichgewichts und der Ausgeglichenheit, der schon älteren Datums ist. Aber nicht nur sie, wir alle müssen immer wieder lernen, unsere Hoffnung nicht mit etwas Gegebenem, Faktischem, schon Existierendem zu verbinden, d.h. sich weder auf den Nationalcharakter, noch auf das gesunde Volk, noch auf andere geselschaftliche Kräfte (z.B. Klassen), noch auf ökonomische Entwicklungen (gute oder schlechte), noch auf verschiedene „Pferde“ in der Weltpolitik und ähnliches zu verlassen. Mit alledem muß man rechnen, muß es einkalkulieren, aber nie können wir darauf eine bessere, gerechtere Gesellschaft wie auf einem zuverlässigen Fundament bauen. Deshalb muß und darf auch dort, wo uns alles von der Aussichtslosigkeit, Perspektivlosigkeit, vergeblichen Donquichotterie und insbesondere von der Machtlosigkeit jedes Versuches einer sinnvollen Handlungsweise zu überzeugen scheint, unsere Hoffnung nicht erschüttert werden; Hoffnung allem zum Trotz, Hoffnung „gegen alle Hoffnung“.
„… sonst höre ich auf, Schriftsteller zu sein“. Das gilt ganz genauso für die Philosophie: sonst höre ich auf, Philosoph zu sein, ein wahrer Philosoph, versteht sich, nicht nur im technischen Sinne. Aber das ist ein Grund, der für mich heute nicht mehr die entscheidende Rolle spielt. Noch zehn Jahre Fortdauer im gegenwärtigen Zustand, und ich werde nicht mehr fähig sein, ein philosophisch gewichtiges Wort zu sagen. Schon heute bin ich jahrelang von der Entwicklung des Denkens in der Welt getrennt. Ich habe keine Literatur zur Verfügung, ich habe nicht genug Zeit, und ich habe nicht einmal mehr genug Energie. Übrigens, ich bin nicht zum ersten Mal in einer solchen Situation. Mitten in meinem Studium an der Philosophischen Fakultät wurde ich schwer krank, zwei Jahre lang war ich praktisch unfähig, irgendeine anspruchsvollere geistige Arbeit zu leisten, mein Gedächtnis und auch meine Konzentrationsfähigkeit wurden für Jahre gelähmt, nur mit Schwierigkeiten habe ich mein Studium beendet. Ein Neurologe empfahl mir, für vier oder fünf Jahre auszusetzen und mich der nervlichen und seelischen Rekonvaleszenz hinzugeben. Weil zu diesen subjektiven auch gesellschaftliche objektive Momente hinzukamen, habe ich mich damals damit abgefunden, daß meine philosophische Laufbahn beendet sei. Ich hörte auf, Philosoph zu sein. Ich weiß also schon, was das bedeutet. Nicht mehr Philosoph zu sein (oder es nicht werden können), ist nicht die größte Niederlage im Leben. (Etwas anderes ist es allerdings, wenn das Regime alles tut, damit niemand Philosoph wird, am wenigsten dann diejenigen, die nach außen hin als Philosophen auftreten sollen).
„Das, was in diesem Land geschieht, ist für mich unannehmbar …“ Und darin ist die Situation nicht nur der Schriftsteller, sondern auch anderer Künstler, Denker, Wissenschaftler und überhaupt der Menschen mit wachem Gewissen und mit ausgeprägtem Gefühl für Gerechtigkeit usw. auf beiden Halbkugeln, im Osten und auch im Westen, im Grunde genommen gleich. Die Wahrheit und das Recht haben es etwa gleich schwer bei uns und bei ihnen. Für manche Menschentypen kann Emigration in den Westen eine große Verbesserung und eine ausgezeichnete Gelegenheit sein. Für andere (vielleicht für die Mehrheit gewöhnlicher Menschen) wäre es eine Erschütterung, möglicherweise auch eine Katastrophe. Aber für Kulturschaffende ist die Situation in jedem beliebigen Land der heutigen Welt im Grunde unanehmbar – sie ist nur in verschiedenem Maße ertragbar. Kultur und Kulturstand bedeuten vor allem ein hohes Maß an Ansprüchen. Es gibt jedoch keine Ansprüche ohne kritische Betrachtung der Wirklichkeit. Die Kritik darf dann nicht nach außen gerichtet sein, darauf, was fern und fremd ist, sondern sie muß sich in erster Linie auf das nächste beziehen – und selbstverständlich auf jeden von uns selbst. Bei uns wird jedwede Kritik systematisch verhindert und lahmgelegt. An ihre Stelle trat erneut iedeologische Verdummung, die jedoch wegen ihres niedrigen Niveaus nicht allzu wirksam ist. Anderswo in der Welt ist eine solche Verdummung oft wirksamer, aber anderswo sind auch die Kritikmöglichkeiten unvergleichbar größer. Für mich ist es darum besonders unannehmbar, auf welche Art und Weise und in welchem Umfang führende schöpferische Kräfte dieses Landes in den letzten acht, neun Jahren zum Schweigen gebracht werden.
„… wenn aber dieses Land zugrunde gehen soll, will ich gemeinsam mit ihm untergehen“. Der Gedanke daran, daß unser Land zugrunde geht, das heißt, daß es als Volk zu existieren aufhört, ist keine Hysterie, auch keine entartete Phantasie. Mit Ausnahme von ein, zwei Jahren gibt es bei uns schon drei Jahrzehnte lang keine Abhandlungen und Studien und keine öffentliche Diskussion über den Sinn unserer nationalen Existenz. Worte wie „nationale Eigentümlichkeit“ erscheinen hier und da einmal, aber sie dürfen dann nicht einmal konkretisiert werden. Insbesondere im letzten Jahrzehnt sind wir Zeugen einer eifrigen nivellierenden Kulturpolitik, die von außen dadurch unterstützt wird, daß gerade diejenigen zum Schweigen gebracht werden, die Repräsentanten einer nationalen Eigentümlichkeit sind oder sein könnten. Seit Jahren hören wir langsam auf, eine wirkliche nationale Gesellschaft zu sein. Das hat auch eine positive Seite: Bei uns gibt es kaum zugespitzten Nationalismus. Aber das wird, so scheint es mir, durch die erschreckende Wirklichkeit überschattet, daß wir als Sprachgemeinschaft und -gesellschaft langsam unsere Seele verlieren. In der Vergangenheit waren wir als Volk schon einmal fast untergegangen. Benötigen wir vielleicht eine neue nationale Wiedergeburt? Oder wird es diesmal keine Auferstehung mehr für uns geben? Wird an uns eine nicht allzu gut funktionierende Konsumgesellschaft das gleiche Werk vollbringen wie eine gut funktionierende?
Es gibt jedoch noch zahlreiche andere Möglichkeiten, wie unser Land „zugrunde gehen“ kann. Ich werde mich jetzt nicht damit aufhalten. Entscheidend ist, daß ich in diesem Falle „gemeinsam mit ihm untergehen will“. Ich habe keine Lust, mich privat zu retten, ich sehe darin nichts Wünschenswertes und auch nichts Sinnvolles. Unsere Zeit ist dadurch gekennzeichnet, daß der Gedanke an den Tod auf jede mögliche Art und Weise aus unserem Bewußtsein verdrängt wird. Der moderne Mensch wird der elementaren Lebenserfahrung des Todes des anderen beraubt (oder er beraubt sich sogar selbst). Unsere geistige und moralische Schwäche kommt deutlich darin zum Ausdruck, daß wir nicht fähig sind, in der elementaren menschlichen Solidarität mit einem sterbenden Menschen verbunden zu sein. Unsere Nächsten sterben entweder auf den Straßen oder in Krankenhäusern, aber nur ausnahmsweise zu Hause. Deshalb können und werden wir auch nicht fähig sein, selbst zu sterben. Auch deshalb, weil auch wir allein oder inmitten von unbekannten Menschen sterben werden. Möglich, daß nur deswegen die Entscheidung „ich will gemeinsam mit ihm untergehen“ für die Mehrheit der Menschen als etwas völlig Fremdes erscheint. Hier geht es tatsächlich eher um eine gewisse elementare Erfahrung als um eine rationale Argumentation. Schließlich bleibt nichts anderes, als zu sagen: „Es mag sehr seltsam erscheinen, aber ich kann auf diese Frage keine genaue Antwort geben“. Meine Loyalität zu der Nation und zu dem Volk, deren Angehöriger ich bin, will ich auch weiterhin durch die kritische Beurteilung seiner Unzulänglichkeiten und durch die unermüdliche Bemühung um Abhilfe offenbaren. Aber ich will es nicht aus der Distanz eines Zuschauers, eines Beobachters von außen, eines Ausländers tun. Ich werde auf den Abgrund hinweisen, ich werde sprechen, schreien, meinetwegen brüllen, aber ich werde mich nicht um meine private Rettung bemühen. Ich möchte nicht privat gerettet werden; es würde mir keine Freude machen.
Noch einen letzten Punkt muß ich ansprechen, der mit der Frage Deines Bekannten zwar nur am Rande, aber in gewisser Hinsicht doch auch wesentlich zusammenhängt. Auch wenn es bis jetzt sehr unwahrscheinlich erscheint, es könnte passieren, daß ich (allein oder mit anderen) aus diesem Land mit Gewalt zur Emigration gezwungen werde. Aber auch in diesem Falle würde ich nicht resignieren; vielleicht würde ich eine größere Aktivität entwickeln, als ich es mir heute vorstellen kann. Aber auch heute habe ich nicht den Eindruck, daß es für mich irgendeine private Katastrophe wäre. Das, was ich bisher geschildert habe, sollte nicht den Eindruck erwecken, daß ein Mensch ohne sein Volk, ohne sein Land nichts wäre. Das Menschsein eines Menschen wird weder durch die Gesellschaft, noch durch das Volk, noch durch die Heimat vermittelt, sondern es hat in ihnen nur seine Lebensumstände. Der Mensch wird als Mensch durch seine personale Beziehung zur Wahrheit und Gerechtigkeit, nicht durch seine gesellschaftliche Genesis konstituiert. Aber die Lebensumstände werden im Licht der Wahrheit und Gerechtigkeit für den Menschen immer zu einer Verpflichtung, vor der er nicht flüchten darf. Wenn jedoch die Umstände mächtiger sind und den Menschen in eine neue Situation und auf einen neuen Platz stellen, wird diese neue Situation und dieser neue Platz zu einer neuen Aufforderung und zu einem neuen Umstand für seine neue Berufung. Ich glaube nicht, daß der Mensch in der Emigration verloren sein muß; im Gegenteil, er kann auch in der Emigration sinnvoll leben (auch wenn es wahrscheinlich nicht einfach und leicht ist). Aber freiwillig aus diesem Land weggehen könnte und will ich nicht; wenigstens für mich selbst müßte ich es als ein Versagen ansehen.
Möglicherweise werdet Ihr, Du und Dein Bekannter, nicht zufrieden sein mit dem, was ich hier geschrieben habe. Es sollten jedoch keine allgemeinen Überlegungen sein, sondern eher etwas wie „eine Beichte“, eine Schilderung der persönlichen Situation aus der inneren Sicht, „ein Aufdecken der Karten“ oder „das Öffnen des Visiers“.
Dein
Ladislav Hejdánek
Prag, den 18.5.1978