Emanuel Rádl
(geb. 22. 12. 1873, Pyšely in Böhmen, gest. 12. 5. 1942 in Prag)
Ursprünglich Naturwissenschaftler, Biologe; erst als Mittelschulprofessor tätig, seit 1904 Privatdozent an der Philosophischen Fakultät der Prager Karlsuniversität, seit 1919 (nach der scheidung der naturwissenschaftlichen Fakultät aus dem Rahmen der Philosophischen) ordentlicher Prefessor für Naturphilosophie und Geschichte der Naturwissenschaften. Wurde berühmt besonders durch seine bis heute wertvolle „Geschichte der biologischen Theorien der Neuzeit“ (Bd. I. 1905, Bd. II. 1909), die auch in weitere Sprachen übersetzt geworden ist. Nach einer Reihe naturwissenschaftlicher Arbeiten neigte er sich mehr und mehr der Philosophie zu, insbesondere unter dem einfluß von Driesch und vor allem von T. G. Masaryk, als dessen einziger wirklicher philosophischer Schüler er manchmal bezeichnet wurde. Nach dem ersten Weltkrieg wurde er zu einer der vorragendsten Gestalten des tschechischen kulturellen und politischen Denkens. Er beteiligte sich intensiv an der Prägung des neuerlich freigewordenen geistigen Lebens der Gesellschaft; seine Bestrebungen um eine kritische Reflexion und aktuelle Umwertung der tschechischen realistischen Tradition, die bis zu den Anfängen der später für Jahrhunderte unterdrückten tschechischen Reformation ragten, sind konsequent zu einem kühnen, manchmal jedoch bis undurchsichtig schlagwortartigem Versuch um eine großartige Revision, Umgestaltung und Aufhebung aller bisherigen europäischen Gedankentradition umgewachsen, die aus der alten griechischen Philosophie hervorgegangen ist. Die Philosophie wird ihm zum Weg einer engagierten Teilnahme am ganzen Leben der Gesellschaft; sie verwirklicht sich erst recht in einer radikalen Umwendung der persönlichen Lebensorientierung, die wesensnotwendig zu Reformen der Weltverhältnisse führen muß. Politisch als demokratischer Sozialist orientiert und ursprünglich eng mit Zdeněk Nejedlý zusammenarbeitend, unterscheidete er sich von ihm in der Bewertung der Revolution. Rádl war war scharf kritisch in seinen Urteilen über die Nationalitätenpolitik des neuen tschechoslowakischen Staates und kämpfte tapfer (obwohl meistens ohne Beifall) für die Gleichberechtigung beziehungsweise der Deutschen. Noch im Jahre 1933 ist aber sein ätzend pamphletisches, jedoch wirklich prophetisches Büchlein erschienen „Über die deutsche Revolution“ und später eine Studie über die politische Ideologie der Sudetendeutschen. Schon 1918 hat er politische Anwendungen der Rassentheorien vom Grunde aus abgelehnt. In allgemeinverständlichen Arbeiten hat er moderne Aberglauben, bzw. okkulte Wissenschaften und Spiritismus angegriffen. Immer von neuem hat er die Seichtheit und Gefährlichkeit der modischen Koketterie mit der „orientalen Weisheit“ enthüllt. Seine Ausführungen über die Lage der Sittlichkeit und im neuen Staate und beziehungsweise über die Frage der sozialen Indikation der (=Aborte) Fehlgeburte fallen noch heute ganz aktuell aus. Dasselbe gilt auch für über seine Analysen der damaligen Projekte eines Umbaus der Volksschule. Er nahm oft teil an verschiedensten internationalen Sitzungen und Kongressen als führender Repräsentant der tschechoslowakischen Philosophie. Unter seiner Leitung als (des) Präsidenten fand im Jahre 1934 in Prag ein großer und wichtiger Kongress der Philosophen aus aller Welt statt. Bald danach erlitt Rádl eine ziemlich ernste Krankheit, die ihn aus dem aktiven öffentlichen Leben durchaus ausgeschaltet hat. Nach einem sieben Jahre dauernden Leiden ist er in einer fast totalen Isolierung (zB. ohne über die nazistische Okupation zu wissen, ohne Zeitungen und Zeitschriften zu lesen usw.) unter einem neuen Schlag inmitten des Krieges gestorben. In der letzten Zeit vor seinem Tode hat er ein kleines Büchlein am Bett liegend geschrieben als sein philosophisches Vermächtnis; ein seltenes Werk in der philosophischen Weltlitteratur: „Der Trost der Philosophie“ (im Andenken auf Boëthius gennant). Aus der heutigen offizielen philosophischen Literatur ist auch nur sein Name, sowie der Name seines Lehrers Masaryk (des ersten Präsidenten der Tschechoslowakischen Republik) ausradiert worden.