Überlegungen zu einigen fundamentalen ethischen Fragen im Lichte der Tradition von Masaryk, Rádl und Hromádka
| docx | pdf | html ◆ přednáška, německy, vznik: 5. 9. 1991 ◆ poznámka: Pfarrkonvent des Dekanats Herrenberg in Prag – 5. 9. 1991

Überlegungen zu einigen fundamentalen ethischen Fragen im Lichte der Tradition von Masaryk, Rádl und Hromádka

Pfarrkonvent des Dekanats Herrenberg in Prag – 5.9.1991


Einer gewissen, wahrscheinlich amerikanischen Tradition nach soll man jeden Vortrag mit einem Witz oder einer Anekdote anfangen, um die Zuhörenden für das Weitere leichter in Räsonanz zu bringen. Neben dem rednerischen Effekt sollte man jedoch auch oder gar vor allem die sachliche oder sachgemäße Seite eines solchen Anfangs ernst in Betracht nehmen. Das war doch der ursprüngliche Sinn des griechischen Ausdrucks.

Masaryk schildert in seinem nach dem Krieg geschriebenen Buch „Die Weltrevolution“ seine eigene, sowie die allgemeine Situation in Prag und in Österreich in der zweiten Hälfte des Jahres 1914, über sein erfolgloses Handeln mit dem östererreichischen Außenminister Berchtold, schreibt über das Ultimatum und über die Kriegsdeklaration, über Mobilisation und über die ganze Atmosphäre der ersten Tage danach usw. Während einer Reise von Dresden nach Prag sprach er mit einem tschechischen Soldat über den Krieg; dieser stellte ganz rednerisch die Frage: „Was können wir tun?“ Und Masaryk schreibt: „Ja, was konnten, was mußten wir tun! Ich wußte, was wir tun müssen, was ich tun muß; jeden Tag war ich klärer darüber.“ (S.11.)

Patočka kommentierte diese ersten Seiten des erwähnten Buches im Jahre 1947 wie folgt: es ist eine Reflexion der Situation, in der der aktive Mensch immer wieder steht, nämlich daß er vor einer Entscheidung im Ganzen steht, dh. über den Sinn der ganzen Geschichtsbewegung entscheidet, so daß er durch sein ausdrückliches Ja und Nein zur einen Frage zugleich, obzwar weniger ausdrücklich, sein Ja und Nein zu allen Fragen sagt, die er begegnet, weil nichts Wesentliches in unserem Leben isoliert werden darf.

So was ist von epochaler Bedeutung für das Verständnis dessen, was das Wort Ethik und ethisch bedeutet, oder noch besser, was wir unter der moralischen oder sittlichen Situation des Menschen verstehen sollen. Im ethischen bezieht sich der Mensch zu seiner Situation im Ganzen. Deswegen muß die Unterscheidung zwischen dem ethischen, politischen, technischen usw. Aspekt der menschlichen Aktivitäten nur als relativ und nur methodisch beobachtet werden. Das ethische Handeln ist keine Art für sich, die neben anderen Formen des Handelns besteht, sondern ethisch handeln bedeutet so zu handeln, daß wir uns in jeder konkreten Tat zum Ganzen der Situation beziehen, in der wir stehen und in der wir uns bewegen, in der wir zeitlich, geschichtlich leben. Alles, was der Mensch tut, ist also immer auch ethisch, und jede Situation, in der er sich befindet, hat immer auch ihre ethischen Bestandteile oder besser Aspekte.

Und so kommen wir zur Folgerung, daß wir mit einem neuen Verständnis der moralischen Situation und derer Struktur anfangen müssen. In der heutigen geschichtlichen Situation begegnen wir einerseits einen wesentlichen Untergang der Moral und der Ethik der westlichen Tradition, also der Vergangenheit, der vergangenen Epoche, und anderseits zugleich die noch nicht vergegenständlichte (z.B. formulierte) Herausforderung zu einer neuen moralischen und ethischen Orientierung im weitesten Sinne. Da gibt es schon mehrere Möglichkeiten von Deutungen der Anfangsprobleme und der ersten Schritte. Als fundamental betrachte ich in der Moral eine gewisse Empfindlichkeit der moralischen Probleme entgegen, oder vielleicht noch präziser gesagt: eine gewisse Empfänglichkeit für die moralischen Aspekte der wirklichen Situationen; und in der Ethik, die immer mit der Reflexion eigener Handlungen sowie der Aktivitäten anderer Leute verknüpft ist, halte ich für fundamental die begriffliche Ausrüstung, die für unser Verständnis der moralischen Situationen maßgebend ist. So, wie die moralische Empfindlichkeit ohne tiefgreifende Reflexion in mancher Hinsicht blind werden kann, wird die vom moralischen Handeln getrennte und gar isolierte Reflexion zum dürren theoretischen Stroh. Trotzdem wagen wir heute uns mehr dieser zweiten Gefahr zu nähern, weil wir mehr über die Ethik und weniger über Moral nachdenken werden. Begriffliche Differenzierungen und Spaltungen zwischen Moral und Sittlichkeit usw. lassen wir vorübergehend beiseite.

In unseren Denktraditionen gibt es in den vergangenen zwei Jahrhunderten nur eine einzige, die bewußt und wirklich ernst an gewisse spezifische Punkte der ersten und zweiten Reformbewegung des 15. und 16. Jahrhunderts in unseren Ländern anknüpfen will. Die Hauptpersönlichkeit dieser Linie ist gerade der Philosoph, Soziologe und Politiker, Professor Thomas Garrigue Masaryk, später der erste Präsident unserer Republik seit 1918. Sein wichtigster Schüler und Nachfolger, der nach dem Wort Patočka's Masaryk auch gegen Masaryk weiter durchdacht hatte, nämlich Emanuel Rádl, schrieb noch vor dem ersten Krieg eine Komparative Studie über Masaryk und Nietzsche. Und wirklich gibt es eine tiefere, nicht gleich auffallende Ähnlichkeit zwischen Masaryk's Verständnis der moralischen und geistigen Situation des modernen Menschen und zwischen Nietzsche's Deutung des modernen Nihilismus. Den Ausweg sieht jedoch Masaryk anderswo als Nietzsche. Rádl überschreitet dann gewisse Zweideutigkeiten in Masaryk und unternimmt eine weit und tiefragende Umdeutung des Wahrheitsverstehens, wieder in Anknüpfung an gewisse alte Tradition, die sich als äußerst wichtig bewiesen hat schon in den Anfängen des Hussitismus, ja schon bei Jan Hus selbst. In seiner „Romantischen Wissenschaft“ schreibt Rádl an einer Stelle, daß das Wahre zugleich das Richtige, das moralisch Gerechte und das Fromme ist und sein muß. Wie bei Masaryk, sehen wir auch bei Rádl die unterstrichene Ganzheit der situationsgemäßen Verantwortung des Menschen. Dadurch werden wir also immer wieder zum Problem eines neuen Verständnisses der moralischen Situation getrieben. Laß uns also in dieser Richtung ziehen lassen. Unser Problem besteht im Grunde genommen in einer Revision der bisherigen Form des abendländischen Denkens mit seiner Tendenz zu Vergegenständlichungen und damit zur Reduktion des Wirklichen zum bloßen Seienden, zum sg. „positiv Gegebenen“, zum Objektiven. Natürlich scheint es uns, daß so etwas nicht gelingen kann ohne neue Begriffe, ja ohne ganze neue Begrifflichkeit. Fangen wir also ein bißchen mehr systematisch an.

Als eine der wichtigsten Vorbedingungen neuer begrifflicher Entwürfe in ethischer Hinsicht ist eine bessere, gründlichere Einsicht zu beurteilen in die Struktur der bisher so verstandenen oder vermeinten moralischen Phänomene und deren sorgfältige, tiefgreifende Analysis. Das ist natürlich etwas, was hier nicht durchgeführt, sondern nur angdeutet werden kann. Es hängt am engsten zusammen mit den Grundphänomenen des menschlichen Daseins und damit mit den Grundfragen der philosophischen Anthropologie. Der sg. moderne Mensch hat eine ganze Dimension seines Lebens und der Welt überhaupt verloren, was auch noch anders ausgesprochen werden kann: in der Ideologie der Moderne wurde der Mensch einer ganzen Dimension seines Lebens beraubt; diese wichtige, ja eigentlich wichtigste Dimension seines Lebens wurde ihm amputiert. Der moderne Mensch wurde dadurch zu einem Teilwesen, zu einem beschädigten Wesen, zu einem lebensbehinderten Wesen. Man muß dieses das ganze Menschenleben und die ganze Menschenwelt betreffendes Ereignis vor allem ernstnehmen und aus einem relativ weiten geschichtlichen Zusammenhang besinnen. Friedrich Nietzsche begann darüber als über den europäischen Nihilismus zu sprechen. Aber dieser Nihilismus hat viel ältere und tiefere Wurzeln als die europäische Moderne: er ist schon in der alten griechischen Denkweise verankert, er gehört schon zu der alten „Metaphysik“. Er ist kein neuer Gast, sondern ein alter Einsiedler. Es fragt sich deswegen: warum soll er erst in der Zeit der Moderne als ein erst kommender und vor der Tür stehender unheimlicher Gast erkannt worden sein, ja gar als der unheimlichste aller Gäste, wenn er in Europa seit je zuhause war?

Um das nur in einem ersten Entwurf zu klären, müssen wir noch die außergriechische Quelle der europäischen Traditionen berücksichtigen, bzw. dieprophetische Tradition des alten Israels mit ihrer schroffen Ablehnung von allem Gegenständlichen, Handgreiflichen, Gegebenen, das für den Menschen maßgebend sein sollte, ja von allem Seienden überhaupt, und mit der ganz neuen Lebensorientierung in die Zukunft hin oder vielleicht besser: aus der Zukunft her. Nietzsche protestierte dagegen, die Ursache des Nihilismus in Notständen verschiedener Art zu sehen. Er sagt: „Not, seelische, leibliche, intellektuelle Not ist an sich durchaus nicht vermögend, Nihilismus (d.h. die radikale Ablehnung von Wert, Sinn, Wünschbarkeit) hervorzubringen. Diese Nöte erlauben immer noch ganz verschiedene Ausdeutungen. Sondern: in einer ganz bestimmten Ausdeutung, in der christlich-moralischen, steckt der Nihilismus.“ Das schließt jedoch nicht aus, daß es sich doch wieder um eine bestimmte Auslegung einer Not handelt. So könnten wir eine Frage stellen: falls es sich doch wieder um eine Not handelt, so muß es eine solche Not sein, die anders ist als jene Nöte, die ganz verschiedene Ausdeutungen erlauben. Solch eine Not darf nur eine einzige, ganz bestimmte Ausdeutung erlauben, nämlich die christlich-moralische. Gibt es jedoch überhaupt so etwas wie eine solche christlich-moralisch ausgedeutete Not, die keine andere Ausdeutung erlaubt? Wenn nicht, wenn es nur eine Illusion ist, ein durch diese Ausdeutung eingebildetes Gespinst, dann ist auch der ganze Nihilismus notwendigerweise nur ein Gespinst, den man überhaupt nicht ernst nehmen muß. Wenn man jedoch den Nihilismus nicht ernst nehmen muß, dann muß man auch nicht ernst nehmen, daß die obersten Werte sich entwerten. Ja, aber das geht doch nicht. Also muß es so eine absonderliche Not geben.

Nietzsche zeigt uns wirklich den Weg noch ein Paar Schritte weiter. Wie wir sehen konnten, spricht er über die christlich-moralische Ausdeutung. Aber Christentum und Moral, obzwar unablösbar voneinander, stehen in einem endgültigen Widerspruch; Nietzsche schreibt über den Untergang des Christentums an seiner Moral, welche sich gegen den christlichen Gott wendet. Er macht es folgenderweise klar: „der Sinn der Wahrhaftigkeit, durch das Christentum hoch entwickelt, bekommt Ekel vor der Falschheit und Verlogenheit aller christlichen Welt- und Geschichtsdeutung“. Diese Wahrhaftigkeit ist jedoch nicht mit der Moral identisch, ja nicht einmal zu eng verbunden, sondern „sie wendet sich endlich gegen die Moral, entdeckt ihre Teleologie, ihre interessierte Betrachtung“ und kommt zur „Einsicht in diese lange eingefleischte Verlogenheit, die man verzweifelt, von sich abzutun“. Deswegen gilt nach Nietzsche: „Skepsis an der Moral ist das Entscheidende.“

Also, was können wir sehen? Das Christentum wird durch seine eigene Moral bedroht und geht unter; „unter den Kräften, die die Moral großzog, war die Wahrhaftigkeit“ und die wendet sich wieder gegen die Verlogenheit der Moral. Das Einzige, was übrig bleibt, ist also die Wahrhaftigkeit. Die Wahrhaftigkeit bedarf jedoch der Wahrheit; ohne Wahrheit hat die Wahrhaftigkeit keinen Sinn. Was ist aber eine sinnlose Wahrhaftigkeit? Ist es nicht eine Not? Ist es nicht gerade die Not, die wir suchen? Wahrhaftigkeit ohne Wahrheit wird zur Wahrheitssucht, zum sinnlosen Streben nach der Wahrheit, zur Wahrheitsbedürftigkeit. Also zu einer Not. Nun müssen wir jedoch eine wichtige Frage stellen: ist es wirklich eine Not, die keine andere Ausdeutung erlaubt als die christlich-moralische (im Sinne von Nietzsche)?

Mit dieser Frage können wir uns von Nietzsche verabschieden und weiter unseren eigenen Weg aufsuchen. Für ihn ist die nihilistische Konsequenz nur ein umgekehrter Glaube: statt des Glaubens an einen Sinn, an eine sittliche Weltordnung, an eine metaphysiche Welt – der Glaube an die Wertlosigkeit, an die Sinnlosigkeit. Aber schon diese Verknüpfung der Worte „der Glaube an etwas“ zeigt ganz deutlich, daß es sich hier nicht mehr um den Glauben im Sinne der altisraelitischen Überlieferung handelt, wo der Glaube mit der Wahrheit sehr knapp verbunden war, sondern nur um eine hellenisierte christliche Auffassung des Glaubens, also nur um eine Reflexion des Glaubens, die jedoch mit dem echten ursprünglichen Phänomen sehr wenig zu tun hat. Wir wissen nach gewissen Untersuchungen der bultmannschen Schule (bzw.von Ebeling und Marxsen), daß noch Jesus das Wort „Glaube“ absolut benutzt haben sollte, also ohne jeden Hinweis an einen den Glaubensakt gründenden hochwichtigen Gegenstand (z.B. Gott). Gerade das ist außerordentlich wichtig für unseren Gedankengang. Gegen den unechten, eigentlich falschen „Glauben“ an etwas Gegebenes, an einen gegebenen Sinn, an eine gegebene sittliche Weltordnung, an eine gegebene metaphysiche Welt sollen wir in keinem Falle einen noch viel mehr unechten und falschen, ja sogar absurden „Glauben“ an die Wertlosigkeit oder Sinnlosigkeit stellen, sondern einen echten Glauben ohne Gegenstand, dh. einen gegenstandslosen oder noch genauer: einen nichtgegenständlichen Glauben. Ganz einfach gesagt: es ist nicht dasselbe, wenn wir über einen nichtgegenständlichen Glauben sprechen und dagegen über einen Glauben an Nichts (an Wertlosigkeit, an Sinnlosigkeit usw.). Um eine bessere Einsicht zu ermöglichen, werden wir scharf unterscheiden zwischen Wirklichkeit und Realität. Nicht jede Wirklichkeit ist reel, ist „res“, Ding, realer Gegenstand, sondern es gibt auch nichtgegenständliche Wirklichkeiten. Obwohl nicht dinglich, nicht gegenständlich, „wirken“ sie – also sind es Wirklichkeiten. Natürlich müssen wir dann auch das sg. „Wirken“ anders deuten als üblich. Es handelt sich eigentlich nicht um eine Auswirkung im kausalen Sinne. Aber dazu werden wir gleich näher kommen.

Laß uns jetzt uns wieder zur Frage der Struktur der moralischen Situation zurückziehen. Es gibt drei Hauptkomponenten oder Hauptfaktoren einer menschlichen (und nicht nur menschlichen) Situation überhaupt. An erster Stelle müssen wir das Subjekt nennen, um dessen Situation es sich handelt. Ohne Subjekt gibt es keine Bezogenheit der Umgebung an das Subjekt und des Subjektes an seine Umgebung. Erst wo sich das Subjekt die es umgebenden Wirklichkeiten aneignet, wird die bloße Umgebung zu seiner Umwelt oder Eigenwelt. Also stellen diese das Subjekt umgebenden Wirklichkeiten die andere Hauptkomponente vor, ohne die es zu keiner Situationsgestaltung kommen kann. Das alles ist bisher einfach und klar (wir sehen von dem Problem des Subjektverlustes in der zeitgenössischen Philosophie an dieser Stelle vollkommen ab). Nichtmehr so einfach ist es mit der dritten Komponente oder mit dem dritten Hauptfaktor, nämlich mit der Aktivität oder mit den Aktivitäten des Subjektes. Wir dürfen die Aktivitäten des Subjektes nicht auf das Subjekt überführen oder sie vom Subjekt ableiten. Gerade umgekehrt können wir das Subjekt selbst mindestens zum Teil als Ergebnis oder Produkt seiner Aktivitäten sehen und verstehen. Wir wissen, daß das Subjekt sich selbst verändert, indem es seine Umgebung verändert. Durch seine Aktivitäten rekonstituiert das Subjekt sich selbst. Damit sind große Probleme verbunden, die wir jedoch in diesem Moment nicht erörtern werden. Dagegen widmen wir unsere volle Aufmerksamkeit der vierten „Komponente“ oder vielleicht dem vierten „Faktor“; wir müssen jedoch zugeben, daß eigentlich keiner dieser zwei Termine als passend beurteilt werden darf. Das werden wir gleich erkennen.

Jede Situation ist eine sich verändernde Situation. Dazu braucht die Situation genug Zeit zu haben. Woher kommt die notwendige Zeit? Wir sind geneigt vorauszusetzen, daß die Gegenwart durch die Vergangenheit verursacht worden ist, sowie die künftigen Tage durch die vorausgehenden. Wir denken immer noch kausal; das gehört auch zum Erbe aus der Zeit der alten griechischen Denker. In der Wirklichkeit ist es jedoch ganz umgekehrt. Nicht kausale Einwirkung auf das Zukünftige, sondern Reagieren des später Kommenden auf das Vorausgehende, das ist die wirkliche und effektive Basis des sg. kausalen Zusammenhanges. Eine Ursache, auf die keine Folge reagiert, ist eigentlich keine wirkliche (d.h. wirkende) Ursache. Die Wirkung der Ursache ist also durch die Reaktion der Folgen bedingt. So ist es eigentlich nicht die Ursache, die die Folgen bewirkt, sondern es sind die Folgen, die ein vorangehendes Ereignis zur Ursache machen. Und dazu braucht man immer genug Zeit. So müssen wir fragen, von woher die Zeit, und das heißt die Zukunft, ankommt. Auch diese Frage müssen wir beiseite lassen, hauptsächlich deswegen, weil wir überhaupt nicht wissen, von woher die Zeit immer weiter ankommt. Es ist eigentlich das größte Wunder dieser Welt, daß nach jeder Sekunde immer eine weitere kommt, nach einer jeden Stunde eine weitere Stunde, nach jedem Jahr ein weiteres Jahr usw.

Für unsere Frage heißt es also, daß eine jede Situation sich in die Zukunft hin immer neu öffnet, oder wieder vielleicht besser gesagt, daß die Situation sich für das Subjekt in die Zukunft hin öffnet. Weil aber die Situation sich nur deshalb öffnen kann, wenn die Zukunft wirklich ankommt, ist es eigentlich so, daß sich die Zukunft für das Subjekt öffnet, oder daß die ankommende Zukunft die Situation für das Subjekt aufmacht. Wenn wir in solcher Weise darüber sprechen, scheint es, als ob die Zukunft selbst aktiv sein könnte. Das ist jedoch nicht möglich, weil die Zukunft nicht-seiend ist. Das widerspricht allen unseren Denkgewohnheiten, daß ein Noch-nicht-Seiendes etwas Bewegliches, dh. etwas Ankommendes sein könnte, nichts zu sagen darüber, daß wir immer paradoxal und paralogisch sprechen müssen, z.B. wenn wir über das Noch-nicht-seiende und also über ein gewisses Nichtseiendes sagen müssen, daß es „ist“. Aber gehen wir weiter.

Zur Struktur jeder menschlichen (und nicht nur menschlichen) Situation gehört also auch etwas Nicht-seiendes, nämlich etwas Noch-nicht-seiendes, was aber ankommt. Dieses Nicht-seiende ist im Sinne der europäischen Überlieferung ein „Nichts“, weil es – nach Parmenides – nur einen Weg der Wahrheit gibt, nämlich daß das Seiende ist und das Nicht-seiende nicht ist. Wenn die Theologie der jungen Kirche für ihre eigene Zwecke sich der griechischen Begrifflichkeit benutzte und wenn sie die Christen vor den Vorwürfen verteidigte, daß sie sicher Atheisten sind, weil sie keinen wirklichen Gott in den römischen Pantheon stellen konnten, versuchte sie den Gott des Abraham, Isaak und Jakob, sowie den Vater Jesu Christi als summum ens oder infinitum ens u.ä. zu begreifen. Das war aber in tiefem Widerrspruch mit dem dauerndem Kampf der Propheten gegen jede Verdinglichung und Vergegenständlichung Gottes des Herrn. Für die tiefste Überlieferungslinie im alten Israel gab es keinen Unterschied zwischen den mit Händen gemachten Bildern Gottes und zwischen den Gedankenbildern und Vorstellungen Gottes. So kam es dazu, daß in der ganzen christlichen Tradition diese ursprüngliche kritische Haltung gegenüber allen Vergegenständlichungen und gegenüber allen Identifizierungen Gottes mit irgendwelchem Seienden geschwächt wurde. Die Theologie und mit ihr die ganze Christenheit ist in ihrem Denken unter Unterdrückung der vergegenständlichenden griechischen Metaphysik gefallen. Als Relikte und Überbleibsel dieser problematischen Entwicklung darf man später verschiedene philosophische Auffassungen der objektiven und allgemein gültigen obersten Werte beurteilen. Wenn also letzten Endes diese Objektivierungen als etwas Nicht-seiendes und gar Nichtiges erkannt worden sind, ist es eigentlich nicht als Untergang des Christentums oder Untergang der Moral zu deuten, sondern vielmehr als etwas grundsätzlich Positives. Wir können darin gar Zeichen des siegreichen Ergebnisses des mehr als zwei Jahrtausende dauernden Kampfes sehen, in dem der wirkliche Glaube (im ursprünglichen Sinn) sich gegen die griechische Metaphysik durchsetzte.
So bleibt es jetzt nur offen daraus notwendige philosophische Folgen zu ziehen. Durch das Christentum vermittelt hat sich die Grundorienierung des Glaubens in die Zukunft hin im Leben der europäischen Gesellschaften durchgesetzt, aber diese Zukunft wurde in einer metaphysischen Umdeutung zum Königreich toter Gegenstände außer Raum und Zeit. Früher oder später mußte erkannt werden, daß solche überzeitliche Gegenstände gar nicht wirklich sind und daß sie gar nicht existieren. So blieb den europäischen Menschen die Zukunftsorientierung im Leben, aber diese Zukunft zeigte sich nach solcher Enthüllung als vollkommen leer. Die Zukunft als vollkommenes Vakuum ist jedoch ein wirklicher Unsinn. Es ist überhaupt nicht notwendig an diesen Unsinn, dh. an die Sinnlosigkeit und Wertlosigkeit der Welt, zu glauben. Etwas ganz anderes jedoch ist der Unglaube an eine solche metaphysische Welt, und etwas anderes wieder, wenn man sich den „Glauben“ an eine wahre Welt verbietet, ja wenn man sogar mit dem Begriff „Wahrheit“ endgültig Schluß machen will.

Wir haben vor uns eine Möglichkeit und auch eine Pflicht, die Zukunft wieder als strukturiert und durch nichtgegenständliche Herausforderungen zu uns ankommend zu verstehen. Ohne einen solchen Versuch unsere moralische Aktivitäten als Antworten auf solche Herausforderungen zu deuten werden wir nicht imstande aus der übergehenden Welle einer gewissen Neubelebung der ethischen Problematik ein tiefgreifendes Ereignis im philosophischen Denken heruaszuziehen. Ich sehe da keine andere Möglichkeit, als die einmal amputierte Dimension in unser Leben wieder hineinzuintegrieren, jedoch nicht in der alten Weise. Wir müssen neuerdings im klaren sein, daß es nichtgegenständliche Wirklichkeiten gibt, die nicht nur gar nicht weniger wichtig, sondern gerade umgekehrt wichtiger und gar „wirchklicher“ sind als alle gegebene Tatsachen und Gegenständlichkeiten. Wir müssen erfahren, wie problematisch die menschliche Lebenshaltung ist gegenüber der Zukunft, wo wir in die Zukunft mit unserem „freien“ Willen und unseren nicht gebremsten Aktivitäten eingreifen wollen, ohne aufmerksam und geduldig auf die wahren Herausforderungen zu warten und dann sie zu unseren Orientierungspunkten auszuwählen. Das gilt für alle menschlichen Situationen im Allgemeinen, aber für unsere moralischen Entscheidungen im Besonderen.

Was ich hier vorgeführt habe, ist als Anknüpfung an die erwähnte tschechische Linie gedacht und natürlich ein bißchen weitergezogen. Ich wollte nicht lediglich über Masaryk, Rádl, Hromádka und eventuell auch Patočka im historischen Sinn sprechen, sondern ihre Probleme womöglich lebendig vorführen. Deswegen habe ich auch die Problematik des Nihilismus im Sinne Nietzsches erwähnt, um an sie für Ihr besseres Verständnis anknüpfen zu können. Gleichzeitig habe ich Ihnen etwas aus der gegenwärtigen Diskussion bei uns vorgeführt, allerdings mit dem Vorbehalt, daß es ich mich auf die angemeldete Linie von Masaryk bis Rádl, Hromádka und gewissermaßen auch an Patočka begrenzt habe.
5.9.1991

(Z části použito textu, předneseného na Sympoziu „Návrat etiky“, Bechyně 1.–5.5.1991)