- in: Ladislav Hejdánek, Wahrheit und Widerstand. Prager Briefe, přel. Milan Walter – Eva Bauer, München: P. Kirchheim, 1988, str. 16–20
Charta ’77 und die Moral der Kritiker
Lieber Freund,
bereits im ersten Brief habe ich Dir versprochen, daß wir uns irgendwann die „moralische“ Seite jener hysterischen Kampagne anschauen, die gegen die Charta ’77 und die „Chartisten“ geführt wurde. Inzwischen ist die künstlich hervorgerufene Hysterie ein wenig abgeflaut, obwohl die Kampagne weitergeführt wird. Es scheint, daß sich neuerdings die Angriffe wieder mehren, aber das gehört zur Unwägbarkeit aller Geschehnisse. Der Grund für die derzeitige Situation bei uns liegt nicht mehr in vereinzelten Angriffen in den Zeitungen, dem Rundfunk oder dem Fernsehen oder etwa vereinzelten polizeilichen Aktionen, sondern er liegt woanders.
Mein Vater war Sozialdemokrat, er hat sich vom kaufmännischen Gehilfen bis zum Buchhalter hochgearbeitet, er ist in sehr bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. Er war nicht aufgrund einer besonderen Entscheidung Sozialist, sondern sozusagen „von Geburt an“, d.h. schon durch seine „Geworfenheit“ ins Leben und die Gesellschaft. Er hatte jedoch (ähnlich wie sein älterer Bruder) mit dem Kommunismus und den Kommunisten aus der Zeit der Ersten Republik seine Erfahrungen gemacht, die nicht die besten waren. Deshalb hat er auch die allgemeine Euphorie im Jahre 1945 nicht geteilt, und ich bin ihm mit meiner zu linken Orientierung ziemlich auf die Nerven gegangen. Ich war damals nicht weit davon entfernt, in die KP einzutreten. Andererseits war ich in gewissen Traditionen zu sehr verankert und zu eigenständig im Denken – und dadurch bin ich verdächtig geworden. Ich hielt es nicht für notwendig zu verbergen, daß ich Christ bin, daß ich T. G. Masaryk sehr verehre und daß ich politische Manipulationen (auch im kleinen) nicht leiden kann. Deshalb mußte ich eine Überraschung nach der anderen erleben, aus denen ich selbstverständlich meine eigenen Konsequenzen zog. Meinen Vater haben die politischen Prozesse der 50er Jahre nicht überrascht, mich hingegen sehr. Während er mir Vorsicht empfohlen hatte, habe ich mich in dieser Zeit definitiv entschieden. Nach Stalins Tod bin ich noch einmal ins Wanken gekommen, aber das nur für kurze Zeit. Ich wußte bereits Bescheid. Der stalinistische Typus des Sozialismus war nicht nur Stalins Werk, und deshalb würde dieser nicht gemeinsam mit seinem Tod einfach von der Szene verschwinden. Das sozialistische Programm war unglaublich kompromittiert. Wären alle Deformationen und Übergriffe in Erscheinung getreten, so wäre außer einem abschreckenden Beispiel nichts übrig geblieben. Nach einem kurzen Lüften des Vorhangs mußten neue Versuche der Verschleierung und der Umdeutung dessen folgen, was sich in Wirklichkeit ereignet hatte.
Die Menschen schauen nicht gern auf den wahren Zustand der Dinge, wenn er so schrecklich ist. Insbesondere dann nicht, wenn sie sich mitschuldig fühlen, weil sie so etwas überhaupt zugelassen und nicht dagegen protestiert haben. Obwohl ich mir seit den Prozessen keine Illusionen gemacht habe, wie ich dachte, war für mich die größte Erschütterung etwas anderes. Nicht Chruschtschows Enthüllungen, sondern die Begegnung mit Menschen, die unschuldig zehn, zwölf, fünfzehn und sogar siebzehn Jahre in Gefängnissen und Arbeitslagern verbracht hatten (und in den meisten Fällen war das nicht das volle Strafmaß).
Damals begann ich mich auf eine neue Art zu schämen. Ich vergaß das damit verglichen kleine Unrecht, dem ich ausgesetzt war, und beschloß, es mir nicht mehr zu erlauben, meine Tage abseits im Windschatten zu verbringen, wenn andere einer brutalen Ungerechtigkeit ausgesetzt sind. Ich erkannte, daß die Freiheit genauso unteilbar ist wie das Sklaventum. Deshalb entschloß ich mich, niemals gegenüber der Lügenflut, der Duckmäuserei und der Gehässigkeit zu schweigen. Das war eine tragische Episode in der Geschichte des Sozialismus und unserer Heimat. Es war notwendig, mit ihr Schluß zu machen und eine neue und bessere Zeit zu beginnen.
Aber schon Karl Marx wußte, daß es nicht leicht ist, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. „Die Geschichte ist gründlich und macht viele Phasen durch, wenn sie eine alte Gestalt zu Grabe trägt. Die letzte Phase einer weltgeschichtlichen Gestalt ist ihre Komödie. Die Götter Griechenlands, die schon einmal tragisch zu Tode verwundet waren im gefesselten Prometheus des Aischylos, mußten noch einmal komisch sterben in den Gesprächen Lukians. Warum dieser Gang der Geschichte? Damit die Menschheit heiter von ihrer Vergangenheit scheide“ (MEW 1, S. 382).
Wir können daher in Wahrheit nicht von einer Rückkehr der 50er Jahre, des Stalinismus usw. sprechen. Heute ist wirklich alles anders. Während die treibende Kraft der revolutionären sozialistischen Maßnahmen in der ersten Hälfte der 50er Jahre eine innere Überzeugung, ein wirkliches Bewußtsein und Prinzipientreue war, treffen wir das heute überhaupt nicht mehr an (höchstens als absolute Ausnahme); heute ist das Hauptmotiv das Kalkül, die Situationseinschätzung, die Anpassung, bei der Mehrheit dann die Resignation, absoluter Verlust jedes Verständnisses für die Ideen und die Bereitschaft, jeden Ersatz (wie z.B. die Datschas, die Autos, die Wohnungseinrichtungen usw.) zufrieden hinzunehmen. Deshalb sehen wir natürlich nirgends irgendwelche revolutionären Maßnahmen oder Bewegungen, sondern nur einen Konservatismus der Mächtigen und derer, denen es gut geht.
Alle entscheidenden Elemente der Sozialisierung und alle wirklichen „Errungenschaften“ und Vorteile des Sozialismus waren gleich nach dem Krieg erreicht; seit dieser Zeit wird nur der Status quo verteidigt, und, zu allem Überfluß, schlecht verteidigt. Die Überzeugung verschwand, und an ihre Stelle traten entweder Zwang oder Korruption. Über diesen Zustand die Wahrheit zu sagen (sei es in wissenschaftlichen Studien, in Kunstwerken, in Zeitungsreportagen oder auf andere Weise), ist nicht erlaubt. Wenn Du bereit bist, die Wirklichkeit rosarot darzustellen, wirst Du gut leben können und Du kannst es zu staatlicher Anerkennung und zu Ehren bringen. Bist Du es nicht, so wirst Du schweigen, ob Du willst oder nicht. Etwas an dieser Situation erinnert wirklich an die alte Zeit, aber nur äußerlich. In der heutigen Situation fehlen nämlich gänzlich die innere Überzeugung und die Überzeugungskraft, die nicht darin begründet sind, persönlich angenehm leben zu wollen. Zwar kommt es jetzt nicht mehr zu brutalen und unverschleierten Übergriffen auf ehrliche Leute, die sich keinem Zwang beugen wollen, und auch die Gesetze werden nicht mehr so offensichtlich auf der sogenannten Grundlage des Klassenkampfes verletzt, aber in Wirklichkeit ist der Zustand sogar schlimmer, krankhafter, weil unmoralischer. Es ist darin jedoch auch viel Lächerliches, Komisches, ja Possenhaftes.
Die tragische Seite ähnlicher Situationen hat A. P. Tschechow in der Erzählung „Der Mann im Futteral“ hervorragend erfaßt: „Sehen und hören, wie sie lügen und dazu noch für einen Dummkopf gehalten zu werden, weil man die Lüge erträgt, die Kränkungen und Erniedrigungen erduldet, nicht offen zugeben dürfen, daß man auf der Seite der anständigen, freien Menschen steht, auch sich selbst etwas vorlügen und lächeln – das ales für ein Stück Brot, für eine warme Bleibe und für irgendein Titelchen, das nichts wert ist – nein, so läßt sich nicht weiterleben“. Aber die Lächerlichkeit steckt schon überall ihre Hörner heraus, und immer mehr drängt sie ans Tageslicht. Überlegen wir nun, wieviel organisatorische Energie und direkte staatliche Mittel für die ganzstaatliche Kampagne gegen die Charta ’77 angewendet werden mußten, und wie das alles durchgeführt werden mußte, ohne daß die Charta ’77 veröffentlicht oder gar zitiert werden durfte. Worüber haben alle die Gegenunterzeichner eigentlich abgestimmt? Oder überlegen wir, daß die mittleren Parteikader ungewöhnlich lange überhaupt nicht wußten, was die Charta ’77 wirklich beinhaltet; sie wußten nur: im Fal ihrer Publikation würde alles bei uns kopfstehen – wobei die Charta ’77 in Abschriften munter zirkulierte, nur hat sie keiner den Kadern gegeben (auch die Partei nicht). Oder stellen wir uns die ungewöhnliche Tatsache vor, daß die staatlichen Organe eigene Gesetze geheimhalten, und daß diese berühmte Nr. 120 mit den beiden internationalen Vereinbarungen bei Hausdurchsuchungen beschlagnahmt wurde.
Marx machte sich darüber lustig, daß „der Deutsche seinen Staat nur vom Hörensagen kennt“; unser Bürger kennt sowohl die internationalen Vereinbarungen wie auch die Charta ’77 nur vom Hörensagen (sofern er auf die offiziellen Informationen angewiesen ist). Man könnte dies beliebig lang fortsetzen. Die Wahrheit ist jedoch, daß bei weitem nicht alles so lächerlich ist, da bestimmte tragische Züge immer überleben, wenn auch nur in Überresten. Vielleicht werden wir es noch einmal erleben, aus vollem Herzen darüber lachen zu können. Das wird dann das Ende der moralischen Krise sein, durch die unsere ganze Gesellschaft taumelt.
An der Spitze der Unterzeichner steht auch ein Philosoph. Und laut K. Marx „ist die Philosophie weltklug genug zu wissen, daß ihre Resultate nicht schmeicheln, weder der Genußsucht und dem Egoismus der himmlischen noch der irdischen Welt; das Publikum, das aber die Wahrheit, die Erkenntnis ihrer selbst wegen liebt, dessen Urteilskraft und Sittlichkeit wird sich wohl mit der Urteilskraft und Sittlichkeit unwissender, serviler, inkonsequenter und besoldeter Skribenten messen können“ (MEW 1, S. 99). Vielleicht kannst Du mir verzeihen, wenn ich zum Schluß noch einmal K. Marx aus dem gleichen Leitartikel von 1842 zitiere: „Die Philosophie hat, ihrem Charakter gemäß, nie den ersten Schritt dazu getan, das asketische Priestergewand mit der leichten Konventionskraft der Zeitung zu vertauschen. Allein die Philosophen wachsen nicht wie Pilze aus der Erde, sie sind die Früchte ihrer Zeit, ihres Volkes, dessen subtilste, kostbarste und unsichtbarste Säfte in den philosophischen Ideen roulieren. Derselbe Geist baut die philosophischen Systeme in dem Hirn der Philosophen, der die Eisenbahnen mit den Händen der Gewerke baut. Die Philosophie steht nicht außer der Welt, so wenig das Gehirn außer dem Menschen steht, weil es nicht im Magen liegt; aber freilich, die Philosophie steht früher mit dem Hirn in der Welt, ehe sie mit den Füßen sich auf den Boden stellt, während manche andere menschliche Sphäre längst mit den Füßen in der Erde wurzeln und mit den Händen die Früchte der Welt abpflücken, ehe sie ahnen, daß auch der 'Kopf' von dieser Welt oder diese Welt die Welt des Kopfes sei.
Weil jede wahre Philosophie die geistige Quintessenz ihrer Zeit ist, muß die Zeit kommen, wo die Philosophie nicht nur innerlich durch ihren Gehalt, sondern auch äußerlich durch ihre Erscheinung mit der wirklichen Welt ihrer Zeit in Berührung und Wechselwirkung tritt. Die Philosophie hört dann auf, ein bestimmtes System gegen andere bestimmte Systeme zu sein, sie wird die Philosophie überhaupt gegen die Welt, sie wird die Philosophie der gegenwärtigen Welt. Die Formalien, welche konstatieren, daß die Philosophie diese Bedeutung erreicht, daß sie die lebendige Seele der Kultur, daß die Philosophie weltlich und die Welt philosophisch wird, waren in allen Zeiten dieselben; man kann jedes Historienbuch nachschlagen, und man wird mit stereotyper Treue die einfachsten Rituale wiederholt finden, welche ihre Einführung in die Salons und in die Pfarrerstuben, in die Redaktionszimmer der Zeitungen und in die Antichambres der Höfe, in den Haß und in die Liebe der Zeitgenossen unverkennbar bezeichnen. Die Philosophie wird in die Welt eingeführt von dem Geschrei ihrer Feinde, welche die innere Ansteckung durch den wilden Notruf gegen die Feuersbrunst der Ideen verraten. Dieses Geschrei ihrer Feinde hat für die Philosophie dieselbe Bedeutung, welche der erste Schrei eines Kindes für das ängstlich lauschende Ohr der Mutter hat, es ist der Lebensschrei ihrer Ideen, welche die hieroglyphische regelrechte Hülse des Systems gesprengt und sich in Weltbürger entpuppt haben.
Die wahre Philosophie der Gegenwart unterscheidet sich nicht durch dieses Schicksal von den wahren Philosophien der Vergangenheit. Dies Schicksal ist vielmehr ein Beweis, den die Geschichte ihrer Wahrheit schuldig war“ (MEW 1, S. 97/98).
Die Erklärung der Charta ’77 sprach die Grundwahrheit unserer Tage aus, und es ist nur logisch, daß dabei die Vertreter der „wahren Philosophie der Gegenwart“ nicht fehlen durften. Und es ist ebenfalls logisch, daß das „Geschrei ihrer Feinde“ ausbrach. K.Marx zeigt, daß das eigentlich eine gute Sache ist. Unzweifelhaft wären Schweigen und Stille viel schlimmer, namentlich das Schweigen und die Stille derer, die aus Bequemlichkeit und aus Angst alles seinen Weg gehen lassen. Der Mensch ist (d.h. soll sein) im Grunde ein verantwortungsbewußtes Wesen. Das bedeutet, daß der Mensch als Mensch durch die Wahrheit erst angesprochen und aufgefordert wird, ihr nach seinen Kräften zum Sieg zu verhelfen. Der Mensch, der auf diese Aufforderung nicht antwortet und nur für das „eigene Wohl“ sorgt, verletzt und verliert schließlich seine Menschlichkeit. Das Kriterium der menschlichen Verantwortung kann nicht eines sein, das der Mensch manipulieren und über das ein anderer bestimmen könnte (noch viel weniger irgendeine Institution, irgendein offizieller Friedensrichter). Angesichts der Aufforderung zur Verantwortung steht jeder Mensch vor seinem Gewissen allein. Weder Schmeichelei noch Bestechung können und dürfen ihn verführen, genauso wie ihn keine Diffamierung und keine Drohung ängstigen darf. Die moralische Krise unserer Gesellschaft dieser Tage kann nur dann überwunden werden, wenn die Menschen aufhören, sich selbst zu belügen, wenn sie aufhören, sich herauszureden, wenn sie aufhören, alle Kompromisse und Verstöße gegen das Gewissen vor sich selbst zu bagatellisieren, also nur dann, wenn sie endlich die Wahrheit ernst nehmen.
Dein Ladislav Hejdánek
Prag, den 10.3.1977