Die Berechtigung und die Wirkung der Charta ’77
| docx | pdf | html ◆ článek, německy, vznik: 18. 8. 1977
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  • Dopis příteli č. 20

  • Die Berechtigung und die Wirkung der Charta ’77

    Lieber Freund,

    an Deinem Gefühl, daß die Charta ’77 irgendwie ihre innere Spannung verloren habe, ist etwas Richtiges. Es sind auch bereits Stimmen laut geworden, daß es höchste Zeit sei, mit ihr Schluß zu machen, und zwar rechtzeitig, bevor alles ins Verlogene abrutsche. Es gibt aber auch andere Stimmen, die zur Revision des ursprünglichen Projekts raten, insbesondere im Sinne einer besseren Organisation und einer damit verbundenen größeren Effektivität (dies ist aber nur die andere Seite des gleichen Gefühls, daß wir auf diesem Wege nicht weitergehen können). Kurzum, das Gefühl, in der Charta und mit der Charta sei etwas zu Ende gegangen, d.h. daß hier zumindest eine Etappe zu Ende ist, findet allgemeine Zustimmung. Und man muß zugeben, daß die Charta ’77 in gewissem Sinne ihre geplante Aufgabe wirklich erfüllt hat. Ich bezweifle, daß jemand mit mehr hätte rechnen können als dem, was erreicht wurde. Wer unterschrieben hat, den erwarten mit Sicherheit Schwierigkeiten.

    Der Tod von Professor Jan Patočka hat jedoch alle wenigstens für kurze Zeit erschreckt und gelähmt. – Obwohl wir alle unsere Unterschrift sehr ernst nahmen, rechnete keiner damit, daß dies für einen von uns eine Frage auf Leben und Tod sein würde. Aber Professor Jan Patočka hat uns gezeigt, daß es in diesem Falle nicht um etwas Vorübergehendes oder Kurzlebiges geht, sondern um einen lebenslangen Einsatz. Er ist uns darin als ein Beispiel vorangegangen, und das mit vollem Bewußtsein, wie an einer Reihe seiner Worte offenkundig wird. Ich habe den Eindruck, daß es nicht in erster Linie die Repressionen waren, sondern eher die Höhe des Anspruchs (auf den der Tod von Jan Patočka ein unüberhörbarer Hinweis war), der eine gewisse Lähmung unserer Aktivitäten hervorrief. Heute ist bereits sichtbar, daß es kein Ausdruck von Müdigkeit und Schwächung war, sondern im Gegenteil, ein Augenblick des Kräftesammelns. Mir erscheint es zumindest so. Der Beweis dafür ist einmal die Tatsache, daß offensichtlich in den Reihen der Unterzeichner und der Sympathisanten langsam wieder das ursprüngliche Niveau erreicht wird, insbesondere jedoch, daß für die Mehrheit von uns die Aufrechterhaltung des jetzigen Zustandes überhaupt nichts Befriedigendes hat. Fast alle von uns fragen sich, in welche Richtung unsere nächsten Schritte gehen sollten. Diese Frage wird immer dringlicher; die Antwort darauf findet sich aber nicht von selbst, und sie ist auch durchaus nichts Selbstverständliches. Es ist notwendig, darüber viel und mit aller Gründlichkeit nachzudenken. Und es ist notwendig, darüber zu sprechen. Deshalb wird auch gegenwärtig unter den Unterzeichnern darüber diskutiert. Ich will versuchen, Dir meinen Standpunkt näherzubringen und auch die Gründe zu skizzieren, die mich dazu führen.

    In der ersten Erklärung der Charta ’77 wird klar gesagt, daß sie eine „freie, informelle, offene Gemeinschaft“ sei, daß sie „keine Organisation (…) und keine Basis zur oppositionellen politischen Tätigkeit“ sei und „als Vermittler in eventuellen Konfliktsituationen wirken“ möchte. Deshalb will die Charta ’77 auch „keine eigenen Programme politischer oder gesellschaftlicher Reformen oder Veränderungen aufstellen“, sondern sie will vor allem „auf verschiedene konkrete Fälle von Menschen- und Bürgerrechtsverletzungen aufmerksam machen“ und „in ihrem Einflußbereich einen konstruktiven Dialog mit der politischen und staatlichen Macht führen“. – Das allein hätte an sich noch nicht viel bedeuten müssen, aber Situationen ändern sich, und die Dinge entwickeln sich. Trotzdem denke ich, daß es ein tiefer und elementarer Fehler wäre, wenn sich gerade an dieser Zielrichtung etwas änderte. In einer Situation, in der die öffentliche Meinung aus unserer Gesellschaft erneut verbannt und unterdrückt wurde, so daß sie de facto einer „Geheimmeinung“ gleichkommt, erscheinen die ersten Anzeichen einer Integration von Individual- und Gruppeninitiativen in einer bislang kleinen Oase eines unabhängigen, öffentlichen, geistigen, kulturellen und sogar politischen (genauer gesagt: „unpolitisch politischen“) Lebens und Denkens als sehr hoffnungsvoll. Hier kann zunächst eine kleine, aber doch deutlich zunehmende Anzahl von Menschen ihre Freiheit geltend machen und – wie ich hoffe – sie in stets größerem Maß zur Geltung bringen.

    Die gegenseitige Solidarität der Menschen, die den Mut zu einer derartigen Durchsetzung ihrer Freiheiten haben, ist sicherlich notwendig und wünschenswert. Sie hat jedoch nur unter der Voraussetzung einen Sinn oder eine Funktion, daß sie zu keiner Uniformität führt. Und das Wachstum der Freiheit kann auch aus prinzipiellen Gründen nicht organisatorisch garantiert werden. Die Freiheit wächst und erstarkt nur durch Taten Einzelner, die bei der Verwirklichung, der Durchsetzung und der Verteidigung dessen, was dem menschlichen Leben einen Sinn geben kann, und worin das menschliche Leben in seiner Tiefe verankert ist, dadurch helfen, daß sie die volle Verantwortung und die echten Risiken auf sich nehmen. Und in dieser grundsätzlichen menschlichen Verantwortung (in der der Mensch durch sein ganzes Wesen auf die ihn ansprechende Anforderung antwortet, und der er sich öffnen muß, um sie überhaupt zu hören und zu befolgen) kann sich keiner vertreten lassen; in dieser Verantwortung steht der Mensch mit seinem Gewissen stets allein. Keiner hat hier das Recht und die Möglichkeit, für uns zu entscheiden; ein anderer kann uns bestenfalls behilflich sein, uns in unserer Situation besser zu orientieren und die Verantwortung, zu der wir im gegebenen Augenblick berufen sind, in konkreterem und schärferem Licht zu sehen. Natürlich kann uns dieser die Situation aber auch eher verdunkeln und verwischen, er kann uns zur Täuschung und Selbsttäuschung führen, er kann uns in eine Sackgasse steuern, und er kann uns billige und konforme Lösungen anbieten, die andere für uns ausgedacht haben. Niemals ist auf den ersten Blick sichtbar, auf wen man sich verlassen kann und auf wen nicht (den wen es sichtbar ist, dan nur im negativen Fall – und dan ist es nicht mehr gefährlich). Wir brauchen sowohl Erfahrungen als auch gesunden Menschenverstand, und wir müssen immer auch unserern Verstand ganz tüchtig in Anspruch nehmen, weil wir zuallererst ganz allein entscheiden und uns vor jeder Verführung vorsehen müssen.

    Die Charta ’77, ähnlich wie die allgemeine Deklaration der Menschenrechte und die internationalen Abkommen, ist in ihrem tiefsten Wesen Ausdruck des Bewußtseins, daß es notwendig ist, diese freie Verantwortung jedes Menschen und Bürgers auf der Ebene der grundsätzlichen existenziellen und gedanklichen Verankerung und Orientierung zu respektieren, und daß zu dieser wesentlichen gedanklichen und existenziellen Verantwortung jeder Mensch unveräußerlich und unveränderlich berufen ist, weil er keinesfalls von anderen Menschen, Gemeinschaften oder irgendeiner Organisation oder Institution damit beauftragt wird oder gar, weil ihn dazu ein Staat, ein Volk oder eine Klasse autorisiert hätte. In den modernen Gesellschaften ist leider diese Dimension der Humanität in Vergessenheit geraten. Die Idee der Charta ’77 ist nicht nur in unserer eigenen Gesellschaft, sondern weltweit deshalb von einer solchen Bedeutung, weil gerade sie auf den tiefsten Grund und das Fundament eines wirklich menschlichen „In-der-Welt-Seins“ hinweist. Ich möchte nicht behaupten, daß dies ein vollständig zufriedenstellender und endgültiger Hinweis wäre; Professor Jan Patočka war sich dessen viel stärker bewußt als die überwiegende Mehrheit der Unterzeichner. Während einer unserer letzten Begegnungen sagte er: „Sie werden mir sehr viel helfen müssen zu überdenken, worin die menschliche Freiheit und die Menschenrechte eigentlich am tiefsten begründet sind – und wie man sie am überzeugendsten zum Ausdruck bringen kann“. Trotzdem ist auch in dieser unvollständigen Form wirklich jener Hinweis gegenwärtig – und er ist auch nicht durch die Vorstellung von der sogennanten Naturgegebenheit der Menschenrechte und -freiheiten getrübt.

    Der Mensch setzt nämlich seine Rechte und Freiheiten (und seine Freiheit überhaupt) nicht als eine natürliche Begabung durch, als einen Bestandteil seiner Ausstattung, mit der er auf die Welt kommt, sondern gerade als seine Antwort auf das „Angesprochen-Sein“, als eine Antwort auf die Anforderung, der er im Ereignis begegnet und die er auch überhören kann, wenn er zu sehr auf sich selbst, auf seine eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten, auf sein eigenes Talent und seine Begabung konzentriert ist. Das alles ist nicht unwichtig, aber es hat nur dann einen Sinn, wenn wir in den Dienst an etwas anderem als bloß unserer eigenen Person oder unserer Gruppe (die nur ein breiteres „Wir“ ist) stellen. Wenn es unglücklicherweise dazu käme, daß die Charta ’77 sich zu einer Organisation oder Institution entwickelte, zu einer machtpolitischen Bewegung mit einem festen und verbindlichen Programm und mit fester Disziplin, wenn sie zu einer Opposition würde (und damit zum politischen Partner der heutigen oder jeglicher künftig sich etablierenden Macht), so verlöre sie ihre entscheidende „Position“, nämlich ihre Positivität im Verweis und in der Berufung auf etwas, was jeden Komplex von Grundsätzen und Vorschriften, jede Organisationsordnung und Satzung, jede Anordnung und jeden Beschluß, jede Meinung und Lehre übersteigt Berufung auf etwas, auf das sich jede Anschauung, jede Lehre usw. auch berufen muß und dem sie das letzte Wort überlassen muß. Verlöre die Charta ’77 diese ihre entscheidende „Positivität“, so würde sie bloß zu einer Anschauung, einer Lehre, einer politischen Position und gegebenenfalls „einer Partei“ unter vielen werden, sie wäre auf der Ebene, auf der auch sie daran erinnert werden müßte, daß sie nicht der höchste Schiedsrichter ist, der über das Richtige, das Moralische, das Wahre und das Gerechte entscheidet (wie auch ein solcher Schiedsrichter weder eine machtpolitische Gruppe noch eine Opposition ist).

    In diesem Fall würde ein Vakuum entstehen und so lange bestehen, bis sich wieder ein paar Menschen fänden, die weder eine Organisation noch eine Partei gründen, die weder eigene politische Programme noch irgendwelche Programme für irgendwelche politischen oder gesellschaftlichen Reformen und Veränderungen aufstellen wollen und die auch nicht die Absicht haben, eine Basis für irgendeine gegenwärtige politische Oppositionstätigkeit oder für eine künftige etablierte Machtpolitik zu legen. Es bestünde ein Vakuum, bis eine neue Oase der freien Öffentlichkeit und der öffentlich praktizierten Freiheit erwächst, gegründet wiederum nur auf einzelne Taten der persönlichen Verantwortung und auf den Mut, also auf die Taten, die auf die Anforderung antworten und deren Urheber weder andere Menschen noch ihre Produkte sind (wie Organisationen, Institutionen oder aber andere Gemeinschaften), sondern als deren Adressat jeder für sich selbst steht. Niemand ist ein Repräsentant, und niemand kann sich repräsentieren lassen.

    Die Bedeutung der persönlichen Verantwortung und der individuellen Durchsetzung der Freiheit wird nicht verringert, sondern im Gegenteil eher durch die Tatsache unterstrichen, daß in der Gesellschaft niemand ohne eine durchdachte und organisierte gesellschaftliche Anstrengung auskommt, auf die sich eine Gruppe im Einvernehmen oder ausdrücklich einigt, und in der sie sich nach vereinbarten Programmen ausrichtet. Uns allen ist sicher bewußt, daß wir unsere Rechte nicht geltend machen und unsere Freiheit, nicht einmal individuell, verwirklichen könnten, ohne die Hilfe der anderen. Sogar dort, wo wir auf den ersten Blick gänzlich verlassen in unserem Kampf stehen (in Wirklichkeit sind wir immer mehrere, nur wissen wir voneinander nichts), benötigen wir die anderen zumindest als, wenn auch nicht übereinstimmende, so doch zuhörende Partner. Freies Schulwesen benötigt nicht nur zur Freiheit berufene und in dieser Freiheit respektierte Kinder und Studierende, sondern auch freie Eltern und freie Lehrer. Der freie Schriftsteller und Journalist benötigt eine freie Presse, d.h. auch einen freien Verleger, freie Redakteure – und freilich auch freie Leser. Der freie Bürger benötigt einen freien Richter, aber auch der freie Richter benötigt freie Bürger. Der freie Gläubige benötigt einen freien Glauben einer anderen Konfession und auch einen freien Atheisten (und vice versa; denn, wenn die Glaubensfreiheit eingeschränkt und liquidiert ist, so ist zugleich auch die Freiheit des Atheisten liquidiert). Deshalb sagen wir, daß die Freiheit unteilbar ist. Wenn mein Mitbürger, sei es auch mein politischer Gegner, in seiner Freiheit eingeschränkt wird, so bin ich de facto auch eingeschränkt. Und gegen diese Einschränkung müssen wir uns auch gemeinsam verteidigen. Das bedeutet, nicht nur uns selbst, sondern auch die anderen. Und vor allem diejenigen, die sich selbst nicht genug wehren können oder denen das besonders erschwert wird. Als freien Bürgern beziehungsweise als zur Freiheit berufenen Bürgern ist uns allen dieser Kampf gegen die Angriffe auf die menschlichen und bürgerlichen Freiheiten gemeinsam, und wir sind darin notwendigerweise – auch mit allen politischen und ideellen Gegnern solidarisch, vor allem jedoch mit denen, die selbst betroffen, unterdrückt und am ärgsten getreten werden.

    Die Charta ’77 ist meinem Urteil nach ein großartiger Ausdruck und ein Beispiel der allgemein menschlichen Solidarität in einer „offenen“ Gemeinschaft ohne genaue und bestimmte Grenzen, aus der keiner ausgeschlossen und ausgestoßen werden kann und hoffentlich auch niemals ausgeschlossen wird, sofern er selbst diese Offenheit angenommen hat und sofern er in der Respektierung der freien Verantwortung und der verantwortlichen Freiheit der anderen grundsätzlich solidarisch bleibt, und sofern er auch solche akzeptiert, mit denen er nicht einverstanden ist (was überhaupt nicht bedeutet, daß er seine Mißbilligung irgendwie unterdrücken müßte). Trotzdem ist es vollkommen verständlich, daß der Mensch konkrete und auch organisatorische Formen der Zusammenarbeit mit denen suchen wird, deren Meinung er teilt und mit denen er einverstanden ist, und die ebenfalls mit ihm einverstanden sind. Dazu wird es und muß es notwendigerweise auch unter den Unterzeichnern der Charta ’77 kommen, allerdings auch unter denen, die aus welchen Gründen auch immer nicht unterschrieben haben, aber mit der Charta ’77 einverstanden sind oder ihr zumindest nahe stehen und mit ihr sympathisieren. Meiner Auffassung nach wäre es ein kardinaler Fehler, wenn irgendwelche ähnlichen Bündnisse unter dem Titel der Charta ’77 als eine Fraktion oder gar als Organ aufträten, und wenn dann einige ihrer konkreten Aktivitäten vermeintlich oder gar zu Recht als die Aktivitäten der eigentlichen Charta ’77 identifiziert werden könnten. Unter den Unterzeichnern der Charta ’77 existieren Meinungs- und Programmunterschiede, und diese müssen und sollen selbstverständlich zum Ausdruck kommen. Würde jedoch eine bestimmte Auffassung, ein Standpunkt oder ein Programm als offiziell verstanden oder sogar als offiziell ausgegeben werden, während es in Wirklichkeit nur die Verengung auf eine bestimmte Auffassung und ein konkretes Interesse darstellt, so würde dies nur zu inneren Spannungen und möglicherweise zum Zerwürfnis führen – und es würde notgedrungen das Ende der Charta ’77 als solcher sein. Auf der anderen Seite bedeutete dies vor allem für die bekannten Repräsentanten der Charta ’77 wegen ständiger Rücksichtnahme auf die breite Meinungsvielfalt eine dauernde Behinderung ihres eigenen Engagements und ihrer Aktivitäten, und zuletzt müßten sich auch weniger bekannte Unterzeichner die Frage stellen, ob sie angesichts ihrer geplanten Aktivitäten als Unterzeichner der Charta ’77 im vollen Sinne auftreten dürfen oder nicht.

    Deshalb bin ich der Überzeugung, daß jeder Versuch zur Bildung von konkreten Programmen und Aktivitäten im Rahmen der ganzen Gesellschaft bei den Chartisten auf den Grundlagen der Charta ’77 (und der Allgemeinen Menschenrechtsdeklaration sowie den Internationalen Pakten) basieren muß, und daß die Chartisten dieses Fundament und die daraus folgenden Konsequenzen respektieren sollten. Sie sollten jedoch ihre positive Begründung durch sachliche Argumente nachweisen, ohne sich auf die Autorität der Charta ’77 zu berufen und ohne daß sie gleichzeitig das Einverständnis und die Mehrheit anderer Chartisten als Pflicht betrachten oder sogar für verpflichtend erklären. Die Gültigkeit und Verbindlichkeit der aufgeführten Argumente wären dann hinsichtlich bestimmter Aktionen, deren Ziele und Durchführung für die Unterzeichner wie für die NichtUnterzeichner gleich – und gerade dadurch würde sich in der Praxis die prinzipiele Ofenheit, zu der sich die Charta ’77 bekent, verwirklichen.

    In letzter Zeit ist, wie ich schon erwähnt habe, eine gewisse Beruhigung eingetreten. Bislang können wir noch nicht mit Bestimmtheit sagen, ob nur vorübergehend, aber es scheint, als ob die anfallsweise Rückkehr der offiziellen Hysterie nicht von langer Dauer sei, obwohl wir das nicht ganz ausschließen können. Deshalb wird es zu einer allmählichen, aber stetigen Schwerpunktverlagerung unserer Arbeit auf konkrete Aktivitäten kommen, die kein offizielles Vorzeichen der Charta ’77 haben werden, aber in ihrem Geiste und mit ihrem Segen geplant und verwirklicht werden. Während bisher die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Verletzung der Menschen- und Bürgerrechte konzentriert war, müssen wir uns in Zukunft in erfinderischer Weise auf jene Bereiche umorientieren, in denen die verkündeten und gesetzlich festgelegten Rechte bislang überhaupt nicht oder nur sehr begrenzt und sporadisch eingehalten werden. Das wird vor allem mehr Phantasie und auch mehr positive, konstruktive Denkweise verlangen. Es wird mehr Arbeit bedeuten, insbesondere mehr Nachdenken und Überlegen; zuweilen wird es einen gänzlich neuen und veränderten Zugang verlangen. Ich werde Dir das in einem der nächsten Briefe an einigen Beispielen demonstrieren.

    Dein

    Ladislav Hejdánek

    Prag, den 18.8.1977