Über den Sinn der Geschichte
| docx | pdf | html ◆ článek, německy, vznik: 16. 3. 1978
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  • Dopis příteli č. 27

  • Über den Sinn der Geschichte

    Lieber Freund,

    der offene Brief von Dr. Jan Tesař an Prof. Jiři Hájek hat im ersten Augenblick mehr Aufsehen hervorgerufen, als ich erwartet habe. Das zeugt von einer unnatürlichen Nervosität bei einigen Unterzeichnern der Charta ’77. Ich habe über die Sache mit mehreren meiner Freunde gesprochen, die ich gut kenne, und mit denen ich jahrelang in unterschiedlichster Form zusammengearbeitet habe.

    Wir alle sind an lange und harte Diskussionen gewöhnt und haben niemals in der Konfrontation verschiedener Anschauungen etwas gesehen, was uns hätte bedrohen können. Wir sind nicht in Panik geraten, daß die Charta ’77 anfängt zu zerbröckeln und auseinanderzufahren. Nur einige Unterzeichner, die nicht unsere Erfahrungen haben, befürchten etwas, wovon wir bereits wissen, daß es letztendlich einen konsolidierenden und integrierenden Einfluß haben wird. Insbesondere meinen anderen Freunden, den neueren und den neuesten, nämlich den Kommunisten (genauer gesagt: den ExKommunisten), möchte ich mit besonderem Nachdruck sagen, wovon ich felsenfest überzeugt bin, daß nämlich durch diese (hoffentlich nicht letzte) Diskussion und Polemik die Charta ’77 mehr innere Widerstandsfähigkeit und Festigkeit als das gegenwärtige politische Establishement zeigt, das sich eine solche offene Diskussion und Polemik einfach nicht erlauben kann. Der Februar 1948, dessen dreißigsten Jahrestags wir kürzlich gedacht haben (wenn auch mit völlig anderen Gedanken und einer anderen Bewertung als die offizielle), war in der Form, in der er sich ereignete, nur deshalb möglich, weil Diskussionen und Polemiken in der Zeit nach dem Mai 1945 unterbunden worden waren, weil manche sehr wichtigen politischen Fragen und Themen für die öffentliche Erörterung ein Tabu waren, ein Tabu vor allem deshalb, weil die Kompromisse, denen die Politik und die Politiker niemals ausweichen können, nicht deutlich und offenkundig als Kompromisse vorgelegt wurden, sondern als ein Grundsatzprogramm. Nicht nur, daß die Öffentlichkeit getäuscht wurde, sondern die Repräsentanten der nichtkommunistischen Parteien haben sich selber getäuscht. Sie kamen ihrer politischen Arbeit nicht nach, sie vertrauten auf nicht mehr existierende oder bereits verfaulte Stützen und waren zuletzt sehr überrascht, sahen sich betrogen und unfähig zu einer sofortigen, schlagfertigen und durchdachten Reaktion. Der Umsturz damals war nicht nur die Konsequenz aus den antidemokratischen Methoden der Kommunisten, sondern genauso die Folge des Nichtvorbereitetseins und der Unfähigkeit der übrigen Parteien und allerdings auch die Folge einer panischen Angst und der Gleichgültigkeit breitester Bevölkerungsschichten. Die Zeitung „Rudé právo“ hat ganz zurecht der Tatsache gedacht, daß es nur zu einem einzigen Massenprotest kam, nämlich zu einem Protest der Studenten der Hochschulen und teilweise der Mittelschulen in Prag. (Wobei es freilich unwahr ist, daß es sich überwiegend um Reaktionäre und Verführte handelte. Anderswo in der Gesellschaft gab es natürlich viel mehr Reaktionäre. Verführte verhalten sich gewöhnlich ganz anders als damals die Studenten.) Ich bin überzeugt, wenn die Kommunisten ihre politische Hegemonie (d.h. wenn es überhaupt so weit gekommen wäre) unter der aktiven und wirksamen Kontrolle und Wachsamkeit der übrigen Parteien erreicht hätten, so hätte es bei grundsätzlich gleicher ökonomischer und gesellschaftlicher Entwicklung nicht zu jenen bekannten Exzessen kommen müssen, die euphemistisch als die „politische Deformation des Sozialismus“ bezeichnet werden. Die Bevölkerung unserer Republik hat sich in der überwiegenden Mehrheit wie eine verwirrte, verängstigte, politisch ungebildete und charakterlose Masse verhalten, deren Hauptorientierungsprinzip Reminiszenzen an das Protektorat und die nazistische Okkupation waren. Freilich war die Bevölkerung durch unzählige politische Schauprozesse schockiert, beginnend mit den Mammutprozessen, denen über tausend Prozesse gegen die Kulaken, die ehemaligen „Unternehmer“ (denen alle kleinen Gewerbetreibenden zugerechnet wurden) folgten. Aber zur Einschüchterung sind immer zwei Seiten nötig, – und die Bereitschaft, sich einschüchtern zu lassen, war eben groß. Deshalb ist auch die heutige Argumentation der Rechtsradikalen, z.B. in Frankreich, daß man den sogenannten Eurokommunisten nicht vertrauen und sich auf ihre Versprechen nicht verlassen dürfe, weil das alles nur taktische Wahlmanöver seien, wobei sie in Wirklichkeit wieder nur einen Putsch vorbereiten würden, nur eine demagogische Argumentation. So wie der „Prager Frühling 1968“ notgedrungen anders verlaufen mußte als die bekannten Ereignisse in Ungarn 1956, weil die historischen Bedingungen anders waren, so würden sich die Ereignisse heutzutage in Frankreich und Italien ganz anders entwickeln, auch wenn die Kommunisten gemeinsam mit den Sozialisten oder sogar allein im Zuge eines Wahlsieges die Regierung hätten stellen können. Und wiederum würde dies in hohem Maße von den nichtkommunistischen Parteien und überhaupt von der ganzen Bevölkerung abhängen. Es hängt ja immer alles davon ab, ob andere Länder imstande sind, irgendeine Lehre aus jenem Vorgehen der Kommunisten zu ziehen, das in den osteuropäischen Ländern kurz nach Kriegsende praktiziert wurde. So z.B. im Jahre 1956 in Ungarn und Polen, die sogenannte Kadarisierung, und auf der anderen Seite das Scheitern von Gomulka in Polen. Oder der Verlauf des Jahres 1968 bei uns vor der Intervention und danach, aber auch z.B. die politische Entwicklung in Finnland usw. usw. Wenn sich die nichtkommunistischen Parteien um die Verbesserung der politischen Bildung und des politischen Bewußtseins der Bürger bemühen und sich vor allem um ihre eigenen Wähler und Mitglieder kümmerten, hätten sie nicht solche Befürchtungen haben müssen. Aber die Situation wird in erster Linie dadurch charakterisiert, daß diese Parteien sich lieber zu vielfältiger Demagogie und in undemokratische politische Praktiken flüchten (siehe z.B. das beschämende „Berufsverbot“ in der BRD und ähnliches mehr), wodurch sie in Wirklichkeit nur Wasser auf die Mühlen der Linksradikalen lenken. Das ist ein Beweis dafür, daß die sogenannten demokratischen Parteien schließlich und endlich mehr auf machtpolitische Mittel vertrauen und die Demokratie als ein ziemlich anständiges Aushängeschild betrachten, ohne an die demokratischen Prinzipien auch wirklich zu glauben und im wesentlichen auf das gesunde Urteil des politisch gebildeten Bürgers zu vertrauen.

    Auch bei uns sagte keiner ein ausreichend klares Wort, weder vor dem Jahr 1968 noch danach. Ich erinnere mich an ein sehr interessantes Buch von Miroslav Kusý, „Die Philosophie der Politik“, aus dem Jahre 1966, das ich für die Zeitschrift „Plamen“ rezensiert habe. Eine ausführliche Analyse schickte ich der Zeitschrift „Kultúrny život“, in der sie jedoch nicht veröffentlicht wurde. Vielleicht kannst Du mir verzeihen, wenn ich mich hier selbst zitiere: „Im Schlußkapitel über die Aufgabe der Partei bei der Führung der Gesellschaft beschäftigt sich Kusý mit der Frage der Opposition in der sozialistischen Gesellschaft. Er zeigt vor allem, daß es unter den historischen Bedingungen der Sowjetunion und der Volksdemokratien notwendig war, die antagonistische Opposition zu liquidieren, um die Macht in den Händen der Arbeiterklasse zu sichern (S. 210). Das ist auch geschehen, und heute ist das ein tatsächlicher Zustand. Es ist zwar richtig, daß es möglich ist, aus verschiedenen Blickwinkeln den Verlauf dieses Liquidierungs- und Vereinheitlichungsprozesses zu kritisieren und über ihn zu moralisieren. Man kann fragen, ob die Liquidierung aller oppositionellen Kräfte, z.B. bei uns ausgerechnet in diesem Tempo, mit diesen Mitteln usw. hätte durchgeführt werden müssen. Und Kusý fügt dann hinzu: „Wie auch immer die Geschichte diese Fragen bewertet, am wirklichen Zustand der Gegenwart wird sich dadurch nichts ändern; und gerade mit diesem Zustand ist bei der Beurteilung der Sachlage zu rechnen“ (S. 212 f.). In einer Anmerkung notiert er dann: „Diese Beurteilung der Gegenwart ist kein Dogma für alle Zeiten. Unsere Position in den weiteren Etappen der Entwicklung des Sozialismus kann von vielen Umständen abhängen“. Dadurch entsteht die Frage, ob ein solcher Zugang zur Wirklichkeit für philosophisch legitim gehalten werden kann. Was für eine Philosophie ist es, die „real-politisch“ den gegebenen Zustand zur Kenntnis nimmt und die der Geschichte die Beurteilung überläßt, ob dieser „gegebene Zustand“ positiv oder negativ ist und ob es möglich ist, der Politik, die zu diesem Zustand geführt hat und die für diesen Zustand verantwortlich ist, die Absolution zu erteilen?“ „Und dann erwähne ich noch die Problematik der Differenz zwischen der antagonistischen und der nichtantagonistischen Opposition, und die Tatsache, daß unter dem ideologischen Mäntelchen des „Antagonismus“ der sogenannte „Titoismus“ die Zielscheibe der Angriffe war, daß die Sozialdemokratie liquidiert wurde; gleichzeitig aber auch auf der wissenschaftlichen Ebene der sogenannte Mendelismus-Morganismus, in der Literaturwissenschaft der Strukturalismus u.ä., und vor allem die gesamte nichtmarxistische Philosophie, aber unerläßlich – auch die marxistische Philosophie selbst. (Damals konnte man aufgrund unserer Verhältnisse erheblich weniger Namen nennen als heute.) Und ganz zum Schluß sagte ich, daß Kusýs „Fehler nicht so sehr in der Theorie liege, in der Philosophie der Politik, als vielmehr in der Halbheit oder zumindest im nicht zu Ende gedachten, konkreten politischen Engagement seiner Philosophie, also in seiner Politik der Philosophie. Es ist nicht sein persönlicher Mangel; er teilt dieses Manko mit einer ganzen Riege von Philosophen, Künstlern, Journalisten, Politikern und weiteren für die Öffentlichkeit arbeitenden Personen unserer heutigen Gesellschaft. Angesichts dieser Riege läßt sich Marxs Aussage frei paraphrasieren: Unsere Gesellschaft kann sich nur so vom Dogmatismus (und allem, was dazugehört) emanzipieren, wenn sie sich gleichzeitig von dieser halbherzigen Überwindung des Dogmatismus emanzipiert.

    Prof. Dr. Jiři Hájek antwortete in seinem Interview für den „Spiegel“ auf Fragen, die solche Themen in den Vordergrund schoben, über die bei uns in letzter Zeit wenig gesprochen und diskutiert wird. Trotzdem sind das Themen, die in einem anderen Kontext durchaus aktuell sind. So beantwortet er die Frage, ob im Reformkommunismus des Jahres 1968 eine Aufgabe für die Sozialdemokratie existiert habe, negativ: „Nach meiner Auffassung nicht. Gerade unsere historische und geographische Position bot für die Erneuerung der sozialdemokratischen Partei in der ČSSR keinen Raum“. Und Hájek fügt hinzu, daß er das damals oft gesagt habe und daß er auch jetzt seine Auffassung nicht ändern könne. Einige Zeilen weiter oben lesen wir Hájeks Hinweis darauf, daß „unser Demokratisierungsprozeß unter bestimmten geographischen und historischen Bedingungen verlief, und daß wir diese Tatsache niemals aus den Augen verlieren sollten“. An dieser Formulierung stört mich vor allem ihre geographische und historische Unbestimmtheit, die es dem einzelnen Leser erlaubt, sich nach seinem Geschmack und seiner politischen Einstellung, was unausgesprochen geblieben ist, selbst dazuzudenken. Wer will, kann sich für die „geographischen und historischen Bedingungen“ die sowjetischen Verbündeten dazudenken, über die Hájek gleich zu Anfang spricht.

    Da wurde ihm die Frage gestellt, ob nach seiner Auffassung die Intervention vom August 1968 hätte verhindert werden können. Und Hájek antwortet: „Wer kann das wissen? Uns wurde nur sehr wenig von den Überlegungen unserer sowjetischen Verbündeten bekannt“. Aus dieser Antwort kann man schließen, daß Prof. Hájek entweder unter jenen „geographischen und historischen Bedingungen“ nicht an die Sowjetunion (und die übrigen Staaten des sozialistischen Lagers, welche sich an der Intervention beteiligten) dachte, oder daß er sich zwar sicher war, daß die sowjetische Führung die Erneuerung der Sozialdemokratie nicht zulassen würde, aber daß er sich ansonsten nicht sicher ist, was eigentlich die Intervention hervorgerufen hat (denn hätte er es gewußt, hätte er auch wissen müssen, wie die Intervention hätte verhütet werden können).

    Jiři Hájek hätte auch innere Bedingungen im Sinne gehabt haben können (natürlich nur historische; ich kann mir ohnehin nicht gut vorstellen, was er eigentlich mit den „inneren geographischen Bedingungen“ meinen könnte), z.B. die Tatsache, daß die Sozialdemokratie kurz nach dem Februar als selbständige politische Partei zu existieren aufhörte. In diesem Fall ist es jedoch nicht möglich, das Argument zu akzeptieren, weil die Sozialdemokratie (ähnlich wie die kommunistische Partei und eine Reihe anderer Parteien) auch nach dem Zusammenbruch der Ersten Republik zu existieren aufhörte und sich dennoch nach dem Kriegsende erneuern konnte. Man könnte auch anführen, daß zur Erneuerung bzw. zur Gründung einer neuen sozialdemokratischen Partei vor allem nicht genügend innere Kräfte vorhanden waren und überhaupt zu wenig fester Wille unter den Menschen; oder auch, daß es neben den Reformkommunisten und ihrem Programm einfach keinen Platz für die Sozialdemokratie gab. Aber kein einziges dieser Argumente kann bestehen.

    Es ist eine innere Angelegenheit der sozialdemokratisch orientierten Bürger, ob sie zu einer Erneuerung der Parteiorganisation genügend Willen und Interesse haben oder nicht. Im übrigen spricht Hájek ausdrücklich vom Raum für eine solche Erneuerung. Das zweite Argument beinhaltet ein Stück Absurdität: Sollte im Lande des demokratischen Sozialismus nicht genügend Raum für die Sozialdemokratie vorhanden sein? Eher könnten hier solche Befürchtungen Gewicht haben, daß, falls sich die Position der Kommunisten so sehr den Positionen der Sozialdemokratie annähern würde, eine neue Gründung der Sozialdemokratie eine gewisse Gefahr mit sich brächte, daß es zur Zersplitterung dessen kommen könnte, was damals unter Druck „zusammengeschmolzen“ wurde. Aber das ist dann eher eine grundsätzliche Sache und keine Frage der „geographischen und historischen Bedingungen“.

    Wenn Zdeněk Mlynář vor einiger Zeit (als er noch in der Tschechoslowakei lebte) den Versuch unternahm, zu beweisen, daß der Eurokommunismus an die Gedanken des „Prager Frühlings“ von 1968 anknüpft, so ist es nicht die beste Empfehlung, die Existenz der Sozialdemokratischen Partei programmatisch zu problematisieren. Aber wenn die Liquidierung der Sozialdemokratie nach dem Februar 1948 (aus der Sicht der Reformkommunisten) ein politischer Fehler war, dann ist es eine Halbheit, gegen die Wiedergutmachung dieses Fehlers zu sein. Usw. usf. Selbstverständlich sind das alles meine Konstruktionen; nichts davon hat Prof. J. Hájek gesagt. Aber gerade die Beschwörungsformel der „geographischen und historischen Bedingungen“ scheint mir nicht fair zu sein. Mir wäre es lieber, wenn er gesagt hätte, daß er gegen die Erneuerung der Sozialdemokratie damals war und es auch heute noch ist; dazu hatte er im übrigen das Recht, das ich respektieren muß, obwohl ich nicht einverstanden bin. Ich kann insbesondere nicht begreifen, daß Hájek einen gewissen Pluralismus im Rahmen der Nationalen Front im Jahre 1968 für ziemlich realistisch hielt, und zwar einen Pluralismus, der nicht die existierenden politischen Parteien, sondern nur die Entstehung einer neuen Partei ausschloß. Ist doch die Sozialdemokratie programmatisch den Kommunisten näher als z.B. die sozialistische Partei oder gar die Volkspartei. Wie ernst kann man den Gedanken nehmen, daß diese beiden „existierenden“ Parteien politisch eher als selbständig fungierende Parteien hätten belebt werden können, für die Sozialdemokratie dagegen kein Raum bestanden habe?

    Prof. Hájek spricht auch darüber, daß den Kommunisten im Jahre 1968 klar wurde, daß die Entwicklung nicht idyllisch verlaufen würde, daß es notwendig werden würde, „gegen gewisse Extremisten, die sich die demokratische Entwicklung ohne Grenzen vorstellten“, zu kämpfen, und daß es sich um einen Prozeß handeln würde, „der auch bestimmte explosive Elemente beinhalte“. Könnte man in dem Versuch einer Erneuerung der Sozialdemokratie den Anspruch einer uferlosen Demokratie sehen? Stellten diese paar Sozialdemokraten, die die Erneuerung der Partei verlangten, irgendwelche „explosiven Elemente“ dar? Sicherlich nicht. Wenn Hájek auf die Frage, ob sich die Prager Reformer im sogenannten Eurokommunismus wiedererkennen und was sie mit dem Programm der KPI, KPF und KPS verbindet, antwortet, daß „es vor allem der Gedanke ist, daß der Sozialismus in einem hochindustrialisierten Land, in einer hochentwickelten Gesellschaft, nicht ohne die Demokratie funktionieren kann“, dann weiß ich wirklich nicht, wie er zugleich den Konsequenzen dieser These ausweichen kann, daß nämlich der Sozialismus in einem entwickelten Land z.B. nicht ohne die Sozialdemokratie existieren kann, sofern hier Menschen leben, die sie gründen oder erneuern wollen.

    Prof. J. Hájek ist für die Demokratie, aber nicht für eine uferlose, sondern für eine begrenzte. Zwar sagt er nicht, wo er selbst diese Grenzen sieht, aber er spricht von einer geographischen und historischen Position. Das ist sehr vage und es erlaubt sogar eine Interpretation, in die ohne weiteres auch das gegenwärtige etablierte Regime hineinpaßt. Das bringt weder eine politische Konzeption noch eine politische Linie zum Ausdruck, weder eine individuelle noch eine Grundkonzeption.

    Worte, wie „gewisse Extreme“ oder „bestimmte explosive Elemente“ bedeuten in Wirklichkeit nichts „Gewisses“ und nicht „Bestimmtes“. Sie sind nur eine Art rituelle Beschwörungsformel. Eine solche Beschwörungsformel ist im übrigen auch die Erwähnung der Nationalen Front, eine um so problematischere Erwähnung, weil Hájek die seit Jahren anhaltende Deformierung und Korrumpierung dieser Institution schweigend übergeht, so daß die Entfremdung von ihrer ursprünglichen Aufgabe nicht sichtbar wird, wie auch die Tatsache, daß sie zum Instrument der Einschränkung und der Liquidierung einer Reihe von verfassungsmäßig und gesetzmäßig verbrieften demokratischen Elementen wurde.

    Ungern würde ich den Eindruck erwecken, als ob mir die Frage der Erneuerung der sozialdemokratischen Partei im Jahre 1968 besonders am Herzen gelegen hätte oder gar bis heute immer noch läge. Ich sehe diese Frage eher als eine prinzipielle Überlegung an und betrachte sie heute wie auch vor zehn Jahren als eine Art Lackmuspapier zur Überprüfung jedes demokratisch gedachten sozialistischen Programms.

    Mir ist klar, daß unsere Gesellschaft nur schrittweise demokratisiert werden kann, und deshalb von Anfang an nur auf der Grundlage zahlreicher Kompromisse. Mir ist auch nicht unbekannt, daß nicht alle Kommunisten (bei uns wie auch außerhalb) von der Notwendigkeit einer erneuten Demokratisierung des sozialistischen Programms und der sozialistischen Wirklichkeit tatsächlich überzeugt sind. Ich weiß schließlich, daß Prof. Hájek in dem Interview in seiner Funktion als Politiker sprach. Dennoch glaube ich, daß unter bestimmten „geographischen und historischen Bedingungen“ ein Politiker manchmal auf die sogenannte realistische Einschätzung dessen, was „möglich“ ist, nicht nur verzichten kann, sondern auch verzichten und sich querstellen muß.

    Ich werde zu diesem Thema später noch einmal zurückkehren; hier möchte ich nur erwähnen, daß zu guten kommunistischen Traditionen gehört, der verhängnisvollen politischen Entwicklung entgegenzutreten und einer Katastrophe Widerstand zu leisten, auch um den Preis der schwersten Bedrohung (nicht nur der persönlichen). Und das nicht nur im Fall einer Katastrophe von dritter Seite, z.B. der Flut des Faschismus, sondern auch dann, wenn es nur eine Katastrophe ist, für die die Kommunisten selbst verantwortlich sind und in die sich ihre Bewegung durch eigenes Verschulden stürzt.

    Durch ihr bedauernswertes Versagen haben die führenden tschechischen kommunistischen Kulturschaffenden in der Zeit der Moskauer Vorkriegsprozesse dem Kommunismus und Sozialismus einen sehr schlechten Dienst erwiesen. Es gab jedoch Karel Teige, an den man anknüpfen konnte und weiterhin anknüpfen kann. (Leider hat sich an ihm die Mehrheit der führenden tschechischen Kulturschaffenden in der Zeit der tschechoslowakischen „Renaissance“ kein Beispiel genommen.) Einige Tage nach der August-Intervention von 1968 kehrten unsere führenden Repräsentanten aus Moskau zurück, erschöpft und zerbrochen – das gebe ich zu. Aber sie haben dem Sozialismus und der kommunistischen Bewegung dadurch, daß sie unterschrieben haben, einen sehr schlechten Dienst erwiesen. Zur Legende wurde einer, der trotz der „politischen Notwendigkeit“ nicht unterschrieben hat. Es war František Kriegel.

    Dieses große Beispiel könnte auch in „kleineren“ und alltäglichen Situationen vorbildlich sein. Ich weiß, daß die Nachahmung nicht einfach ist, und daß es nicht viele Nachahmer geben wird. Ich weiß auch, daß die Erneuerung des demokratischen Denkens und Handelns in den Reihen der Kommunisten am Anfang nur von einigen wenigen abhängen wird. Dennoch dachte ich, daß wir uns trotz verschiedener Ansatzpunkte und politischer Richtungen in der Charta ’77 auf einer gemeinsamen Basis getroffen haben: auf der Basis der Respektierung der Menschen- und Bürgerrechte, auf der Basis der Notwendigkeit, die beiden internationalen Abkommen in unseren Gesetzen zur Geltung zu bringen und auf legalem Weg auf die Durchsetzung dieses Zieles zu drängen.

    Aber als ich die Worte von Jiři Hájek las, wurden in mir Zweifel wach. Letztlich wäre es durchaus möglich, daß auch nach gewissen Veränderungen zum Besseren in unserer neuen „historischen und geographischen Position“ wiederum für einige von uns, für die Bürger zweiter Klasse, „kein Raum zur Verfügung“ stünde. Ich glaube, daß die Mehrheit von uns, die in einer solchen Situation nicht erst zehn, sondern ganze dreißig Jahre lebt, das noch ein paar Jahre länger ertragen würde. Aber ich persönlich wäre sehr betrübt, wenn diese neuen Grenzen einer demokratischen Entwicklung gerade diejenigen abzustecken helfen sollten, mit denen ich mich durch die gemeinsame Unterzeichnung der Charta ’77 verbunden fühle.

    Dein

    Ladislav Hejdánek

    Prag, den 16.3.1978