- in: Ladislav Hejdánek, Wahrheit und Widerstand. Prager Briefe, přel. Milan Walter – Eva Bauer, München: P. Kirchheim, 1988, str. 88–92
Glaubens- und Gedankenfreiheit im Marxismus-Leninismus
Lieber Freund,
ich danke Dir für Deinen Brief. Ich habe ihn mit Interesse gelesen und muß gestehen, daß er mich erneut inspiriert hat. Wenn ich sogleich auf all das reagieren sollte, was ich in ihm (wie übrigens auch in jedem der vorherigen Briefe) gefunden habe, so würde die Antwort sicherlich ein kleines Büchlein ergeben. Deshalb wähle ich wieder nur einige Aspekte aus. Du bezweifelst, ob es überhaupt möglich ist, in einem Rechtssystem das durch unsere Verfassung garantierte ideologische Monopol des MarxismusLeninismus in der Kulturpolitik, der Bildung, der Erziehung und der Ausbildung (siehe die Verfassung der ČSSR, Artikel 16, Abs. 1) mit der Freiheit des Denkens, des Gewissens und der Religion, mit der Freiheit der religiösen und moralischen Kindererziehung nach den Vorstellungen ihrer Eltern u.ä. zu vereinbaren, Freiheiten, die in der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte und insbesondere in den internationalen Pakten garantiert werden und die durch die Ratifizierung zum festen Bestandteil der tschechoslowakischen Rechtsordnung geworden sind (genau genommen: drei Monate nach der Hinterlegung der Ratifizierungsurkunden beim Generalsekretär der UNO). Ich bin kein Jurist und werde deshalb meinen Standpunkt nur als Laie darlegen. Immerhin weiß ich, daß ein schon alter Rechtsgrundsatz gilt: Ein neues Gesetz interpretiert alle älteren Gesetze und grenzt sie neu ab. Mit anderen Worten: Die bisherigen Gesetze lassen sich nicht mehr in der Art und Weise auslegen, daß sie der Verbindlichkeit des neuen Gesetzes widersprechen. Deshalb ist es z.B. nicht möglich, die gesetzlichen Bestimmungen und die Verfassung der ČSSR selbst so zu interpretieren, daß sie im Widerspruch zu den Texten der beiden internationalen Pakte stehen. Wenn sich dennoch herausstellen sollte, daß der Text einiger Gesetze ganz offensichtlich im Widerspruch zu den neuen Gesetzen steht (d.h. z.B. zu den beiden Pakten), dann muß man solche Gesetze novellieren oder gegebenenfalls durch andere ersetzen. Dazu hat sich übrigens unser Staat durch die Anahme und Ratifizierung der Pakte verpflichtet. So lesen wir z.B. im Artikel 2, Abs. 2 des „Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte“: „Jeder Vertragsstaat verpflichtet sich, im Einklang mit seinem verfassungsmäßigen Verfahren und mit den Bestimmungen dieses Paktes die erforderlichen Schritte zu unternehmen, um die gesetzgeberischen oder sonstigen Vorkehrungen zu treffen, die notwendig sind, um den in diesem Pakt anerkannten Rechten Wirksamkeit zu verleihen, soweit solche Vorkehrungen nicht bereits getroffen worden sind.“
Die Anwendung dieser Rechte kann gewissen Einschränkungen unterworfen werden, die jedoch gesetzlich festgelegt werden müssen, aber sie kann nur solchen Einschränkungen unterworfen werden, „die gesetzlich vorgesehen und mit der Natur dieser Rechte vereinbar sind, und deren ausschließlicher Zweck es ist, das allgemeine Wohl in einer demokratischen Gesellschaft zu fördern“ (vgl. „Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“, Art. 4). Trotzdem darf man auch in außergewöhnlichen Situationen von einigen Artikeln abweichen, z.B. gerade vom Art. 18 des „Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte“, den Du in Deinem Brief zitierst (siehe Artikel 4, Abs. 2). Daraus folgt also, daß unser Staat die Verpflichtung auf sich genommen hat, das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit voll zu respektieren: „Dieses Recht umfaßt die Freiheit, eine Religion oder eine Weltanschauung eigener Wahl zu haben oder anzunehmen, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Beachtung religiöser Bräuche, Ausübung und Unterricht zu bekunden“. Der Absatz 3 des gleichen Artikels 18 erinnert daran, daß „die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekunden, nur den gesetzlich vorgesehenen Einschränkungen unterworfen werden darf, die zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, Ordnung, Gesundheit, Sittlichkeit oder der Grundrechte und -freiheiten anderer erforderlich sind“. Durch unsere Gesetze, und besonders durch die kürzlich verabschiedeten Gesetze, ist also die Freiheit, die Religion oder den Glauben öffentlich auszuüben, garantiert (diese Formulierung ist wichtig, weil sich auf sie auch die Christen berufen können, die das Christentum für keine Religion halten und im Gegenteil den Glauben als etwas ansehen, das sich jeder Religiosität widersetzt und deshalb in eine ganz andere Richtung tendiert); garantiert u.a. auch durch den Unterricht der Kinder und der Erwachsenen. Diese Freiheit ist nur ein besonderer Fall der freien Meinungsäußerung überhaupt. Das Recht auf freie Meinungsäußerung schließt (laut Art. 19, Abs. 2 des IP Bürg R) „die Freiheit ein, ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen, Informationen und Gedankengut jeder Art in Wort, Schrift oder Druck, durch Kunstwerke oder andere Mittel eigener Wahl sich zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben“. Das bedeutet z.B., daß ein christlicher Dichter, Schriftsteller, Maler oder Bildhauer, Komponist oder reproduzierender Musiker, Schauspieler, Sänger usw., aber auch ein Wissenschaftler, Philosoph und Theologe, also ein Laie genauso wie ein Pfarrer und jede andere Person, nicht nur das Recht hat, am kulturellen Leben teilzunehmen (vgl. Art. 15, Abs. 1 des IP Wirt R), sondern er hat auch das Recht, durch eigene Kunstwerke oder wissenschaftliche Arbeiten und philosophische (und selbstverständlich auch theologische) Studien seinen Glauben zum Ausdruck zu bringen und christliche Gedanken und Informationen über das Christentum mit allen Mitteln und nach eigener Wahl zu verbreiten; also auch in Form des Unterrichts und der Bildung der Kinder und der Erwachsenen. Zudem haben die Eltern das Recht, für die religiöse und moralische Erziehung ihrer Kinder nach ihrer eigenen Überzeugung selbst zu sorgen (vgl. Art. 18, Abs. 4 des IP Bürg R und Art. 13, Abs. 3 des IP Wirt R). Aus all diesen Gründen ist Deine Frage, wie sich solche Vereinbarungen mit dem Art. 16, Abs. 1 der tschechoslowakischen Verfassung in Einklang bringen lassen, völlig berechtigt und verständlich.
Genau genommen spricht der oben genannte Artikel von keiner Pflicht des Bürgers, darauf zu achten, daß die gesamte Kulturpolitik in der ČSSR, die Entfaltung der Bildung, die Erziehung und der Unterricht „im Geiste der wissenschaftlichen Weltanschauung des Marxismus-Leninismus“ realisiert werden, obwohl die Verfassung an manchen anderen Stellen durchaus auf die Pflichten der Bürger und der Organisationen ausdrücklich hinweist. Der Text konstatiert hier die angebliche Wirklichkeit: Es sei genau so, wie es hier geschrieben steht. Vielleicht würden die Juristen sagen, daß das bloß eine formale Sache sei, die kein juristisches Gewicht habe. Also lassen wir die Ausdrucksform beiseite. Auch so ist eine Tatsache unbestreitbar: daß nämlich der Artikel 16, Abs. 1 der Verfassung der ČSSR weiterhin nicht mehr so ausgelegt werden darf, daß diese Auslegung im Widerspruch zu beiden Punkten steht. Wenn also die Föderative Versammlung die Texte der Pakte akzeptiert hat, wenn der Präsident der Republik beide Pakte ratifiziert hat, und wenn bis heute von keiner Seite irgendein Einwand gegen die Ratifizierung vorgebracht worden ist, dann ist jede Auslegung der Artikel 16, Abs. 1 und 24, Abs. 3 der Verfassung der ČSSR, die im Widerspruch zu den Texten der Pakte stünde, oder die die Verbindlichkeit eines ihrer Artikel aufhöbe oder schwächte, rechtswidrig und verletzt die sozialistische Gesetzmäßigkeit. Und als dem Verfassungsgesetz oder einem anderen Gesetz der Föderativen Versammlung widersprechend muß sie durch die Generalstaatsanwaltschaft bezeichnet werden – sofern es sich um eine Vorschrift irgendeines tschechoslowakischen Organs handelt. Und sofern es sich um ein Vorgehen oder um eine Entscheidung von Organen und Organisationen handelt, wodurch die erwähnten, in den internationalen Pakten verankerten Bürgerrechte eingeschränkt oder verletzt werden, hat jeder das Recht, bei der Staatsanwaltschaft die Überprüfung eines solchen Vorgehens oder einer solchen Entscheidung aus der Sicht der sozialistischen Gesetzmäßigkeit zu beantragen, und der Staatsanwalt ist verpflichtet, jeden solchen Einspruch zu überprüfen und den Antragsteller über das Ergebnis zu informieren, wobei die Benachrichtigung schriftlich und begründet innerhalb von zwei Monaten zugestellt werden muß (vgl. das Gesetz über die Staatsanwaltschaft, Nr. 20, BGB, Teil 5, vom 20.03.1970).
Mit anderen Worten: Es ist unrichtig und gesetzwidrig, die Auslegung der Artikel 16, Abs. 1 und 24, Abs. 3 der Verfassung der ČSSR in dem Sinne zu vollziehen, daß dadurch den Eltern oder Kirchenmitgliedern, den Laien oder Geistlichen, das Recht auf die Erziehung, die Bildung und den Unterricht ihrer Kinder in Übereinstimmung mit ihrer (elterlichen) Überzeugung und ihrem Glauben, und zwar privat oder öffentlich, entzogen wird, unabhängig davon, ob dies im Rahmen der Gottesdienste oder außerhalb der Kirche geschieht, d.h. in der Schule, in den Gemeindezentren und Pfarreien oder im Kreise der Familie. Ferner darf die Auslegung nicht bedeuten, daß die Kirchen oder religiöse Gemeinschaften nicht das Recht hätten, eigene Ausbildung, Schulung und eigenen Unterricht auch für erwachsene Mitglieder wiederum sowohl im Rahmen des Gottesdienstes als auch außerhalb durchzuführen und zwar im Geiste der Religion, des Glaubens oder einer anderen Überzeugung, wenn die Mitglieder dies wünschen und auch an diesem Unterricht freiwillig teilnehmen wollen. Weiter darf der Artikel nicht so ausgelegt werden, als ob es der Kirche verboten wäre, z.B. Kurse oder christliche Arbeitskreise für Jugendliche unter 18 Jahren zu organisieren, oder als ob auf die pädagogischen Hochschulen und Institute (geschweige denn Mittel- und Hochschulen überhaupt) keine jungen Menschen aufgenommen werden dürften, die offensichtlich eine andere als die marxistisch-leninistische Überzeugung teilen, oder als ob die christlichen Lehrer (oder einfach andere als marxistisch-leninistisch orientierte Lehrer) nicht auf den staatlichen und öffentlichen Schulen unterrichten dürften oder während des Unterrichts mit aller Kraft ihre Überzeugung unterdrücken müßten und im Gegenteil vortäuschen sollten, daß sie Marxisten-Leninisten seien. Auch eine solche Auslegung, die der christlichen Kunst (oder jeder anderen Kunst, die nicht durch den Geist des MarxismusLeninismus getragen wird) keine Existenzberechtigung, kein Recht auf Publikation und Verbreitung einräumt, ist unzulässig. Haben etwa die gläubigen (oder andere, marxistisch-leninistisch denkenden) Wissenschaftler und Philosophen kein Recht, ihre Arbeiten zu publizieren, falls sie nicht von jeder Spur ihres christlichen Glaubens oder einfach von jeder anderen beliebigen Überzeugung mit Ausnahme der marxistisch-leninistischen Lebenseinstellung und Gesinnungsrichtung restlos gesäubert sind? Ebenso ist eine Auslegung, die Christen und andersdenkende markante Persönlichkeiten in Rundfunk, Fernsehen, Zeitungen und Zeitschriften, sowie anderen Massenmedien nicht zu Wort kommen läßt und behauptet, diese seien ausschließlich für die Marxisten-Leninisten bestimmt, falsch und ungesetzlich. Sie führt zur Verletzung der Rechte und der Freiheiten, zu deren Einhaltung sich unser Staat doch verpflichtet hat. Und diese Verletzung müssen wir geduldig und konkret aufdecken, und den Schaden, der daraus folgt, auf der Grundlage von Bürgerinitiativen und Zusammenarbeit mit verschiedenen gesellschaftlichen Organisationen (in denen wir auch vieles zu verbessern haben) sowie mit Hilfe der Staatsanwaltschaft korrigieren und beseitigen. Das bedeutet sicherlich viel Arbeit und wird einiges an Mißverständnissen hervorrufen, weil sich in den letzten Jahren solche falschen Auslegungen unserer Gesetze in den verschiedensten Organen und Organisationen auf allen Ebenen eingenistet haben.
Dein
Ladislav Hejdánek
Prag, den 24.2.1977