Der Stellenwert der Politik im menschlichen Leben
| docx | pdf | html ◆ článek, německy, vznik: 19. 3. 1977
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  • Dopis příteli č. 6

  • Der Stellenwert der Politik im menschlichen Leben

    Lieber Freund,

    ich habe mich mit diesem Brief verspätet, aber es war nicht meine Schuld. Vielleicht, damit ich nicht an der Beisetzung meines Lehrers, Professor Jan Patočka, teilnehmen konnte, wurde ich „präventiv“, unrechtmäßig während des Seminars über die Intersubjektivität verhaftet und in die Bartolomäusstraße abgeführt, dort verhört und dann für ganze zwei Tage in der Zelle für vorläufige Verwahrung in der Konviktská Straße untergebracht. Ich denke, daß mir dadurch ermöglicht wurde, meine Beziehung zu Jan Patočka auf eine recht würdevolle Art und Weise zu dokumentieren. Außerdem haben unsere Sicherheitsorgane – soweit es in ihren Kräften stand – erneut gezeigt, wie aktuell und absolut unerläßlich der Kampf um die Respektierung der elementaren Menschenrechte und die Einhaltung unserer Gesetze ist.

    Aber ich möchte heute nicht über diese Angelegenheiten sprechen. Ich werde mich mit etwas Wesentlicherem befassen. Du hast Dich damals über das, was ich Dir gleich in meinem ersten Brief geschrieben habe, nämlich, daß Bildung zu erwerben wichtiger sei als ein momentanes noch so mutiges politisches Engagement, sehr gewundert. Und in Deinem letzten Brief erinnerst Du an eine meiner Äußerungen, daß die Revolution eine sehr zweifelhafte politische Methode sei, die nur in Fällen der äußersten Not gerechtfertigt sein kann. Meinem Urteil nach haben beide Probleme einen gemeinsamen Grund, nämlich die Bewertung der Politik im menschlichen Leben. Und gerade darüber möchte ich heute einige Worte schreiben.

    Zunächst müssen wir die Begriffe klären. Egal was wir machen, irgendwie hat es immer eine Bedeutung für das Leben des Gemeinwesens. Und weil das Gemeinwesen griechisch „polis“ heißt, läßt sich sagen, daß alles unter anderem auch politischen Charakter hat. In diesem weitesten Sinne ist dann alles Politik: die Art, wie ich arbeite, wie ich für die Zeitung schreibe, wie ich wissenschaftlich forsche und künstlerisch schaffe, wie ich philosophiere, wie ich mich für die Kultur interessiere oder nicht interessiere, wie ich mich um die Lebensart, um die Anschauungen meiner Mitmenschen kümmere, also wie ich mich – kurz gesagt – mit meinem Leben am Leben der anderen und der ganzen Gesellschaft beteilige. Aber es existiert auch eine engere Bestimmung der Politik: Dann handelt es sich jedoch um eine gewisse Fachgelehrsamkeit, um die Beherrschung bestimmter Techniken, die die Erkenntnisse aus den verschiedensten Fachbereichen, der Psychologie, der Soziologie, aber auch der Rechtswissenschaft, sogar der Ästhetik, der Axiologie, überhaupt der Philosophie usw. applizieren, die aber primär auf die Verwaltung, Aufrechterhaltung und Verbesserung bestimmter gesellschaftlich unverzichtbarer Strukturen, Institutionen und Organisationen ausgerichtet sind. Der sogenannte unpolitische Mensch ist in jener ersten, weiteren Bedeutung auch politisch. Die Ablehnung der Politik oder eine unpolitische Haltung sind auch eine Art von Politik, und zwar eine Art, die sehr gefährlich und schädlich ist, wenn sie zur allgemeinen Erscheinung wird. Schädlich und gefährlich ist aber auch das Gegenteil, nämlich eine übertrieben politische (hyperpolitische) Haltung, eine Einengung bzw. eine Reduzierung aller individuellen und gesellschaftlichen Aktivitäten und Funktionen auf einen politischen Nenner, eine Überschätzung und unangemessene Betonung des politischen Aspekts all dessen, was der Mensch macht. Das ist eine Fehlinterpretation des politischen Charakters jeder menschlichen Tätigkeit (oder Untätigkeit, eventuell Gleichgültigkeit und Interesselosigkeit) im weiteren Sinne sowie ein politisches Bewußtsein im engeren, technischen Sinn. Zwischen beiden besteht jedoch zusätzlich eine wesentliche Verbindung: Je stärker die hyperpolitische Beurteilung jeder menschlichen und bürgerlichen Aktivität durchgesetzt wird, desto massiver wird die faktisch apolitische Haltung der Bürger und das bloße rituelle Vortäuschen einer sogenannten „richtigen“ (d.h. offiziell propagierten) politischen Haltung erreicht. Die Hypertrophie der technischen Politik ist für die heutige Welt charakteristisch. Ihr Produkt und zugleich ihre machtpolitische Basis und Quelle ist der absolute Staat, d.h. ein von der Gesellschaft und vom gesellschaftlichen Leben der Menschen völlig emanzipierter Staat. Diesem Leben fühlt er sich weder untergeordnet noch verantwortlich, im Gegenteil versucht er das Leben nach seinen Bedürfnissen und Kriterien zu organisieren und dirigistisch in die gewünschte Richtung zu lenken. (Freilich lassen sich die Erfolge nur relativ und nur bis zu einem gewissen Grade erzielen; aber das ist hier nicht entscheidend.)

    Wie Du siehst, das Thema hat sich fast selbständig verschoben: Wir haben damit begonnen, daß man zwischen der Politik und dem politischen Charakter im weiteren Sinn des Wortes und im engeren, technischen Sinn unterscheiden muß; aber zugleich wurde sichtbar, daß die Überschätzung der Politik im technischen Sinn (und deren Identifizierung mit der Politik im weitesten Sinn) zur Verabsolutierung der Staatsmacht führt, und daß dieser Trend für die Entwicklung der modernen souveränen Staaten charakteristisch ist. Es bleibt hinzuzuzufügen, daß die demokratischen Prinzipien logischerweise zu der Notwendigkeit führen, diesem Trend Einhalt zu gebieten. Einer der Gründe, warum manche aufgehört haben, an die demokratischen Programme zu glauben, ist der bisherige augenscheinliche Mißerfolg der Versuche, diese antidemokratische Verabsolutierung des Staates wirksam zu verhindern. Für jeden modernen Staat ist es ganz unerläßlich, seine Macht unaufhörlich zu steigern, und zwar nach außen wie nach innen. Nicht einmal die größeren Staaten können sich der globalen Entwicklung widersetzen und sich irgendwie zu isolieren versuchen. Sie können also nicht ohne weiteres ihre Neutralität oder Blockfreiheit ausrufen. Das ist deshalb so, weil keine Diktatur und kein absolutistisches Imperium mit dem Angriff auf ein solches neutrales oder blockfreies Land zögern würde, sobald sich ein solcher Staat stark genug fühlte einen Sieg davontragen zu können. Das hat seine eigene immanente Logik und hängt dabei überhaupt nicht von den Personen ab, die ein solches Imperium führen. Nichts ist leichter, als sich in einem geeigneten Augenblick durch einen Umsturz oder Putsch oder auf eine andere Art und Weise der unerwünschten Personen zu entledigen und die Führung des Staates den Falken zu überlassen. In einem Staat, in dem die demokratischen Strukturen nicht funktionieren oder in dem sie nur einen oberflächlichen Anstrich darstellen oder ein bloßes Relikt aus der Vergangenheit sind, existieren keine Hindernisse und Hemmnisse für eine plötzliche und gewaltsame Veränderung (sog. Machtergreifung). Deshalb gibt es absolut keinen Verlaß auf einen solchen internationalen Partner, weder auf der militärischen noch auf der wirtschaftlichen Seite. Die internationalen Verträge können über Nacht zu einem Fetzen Papier werden; und umgekehrt können sich plötzlich die traditionellen Antagonismen in eine Allianz verwandeln. Deshalb muß jeder Staat seine militärische Macht maximal stärken; und weil er sich auch um seine innere „Konsolidierung“ kümmern muß, muß er ständig auch seine Mittel des inneren Zwangs und der Kontrolle, d.h. in erster Linie die Polizei, stärken. Je geringer die Loyalität der Bürger ist (aus welchen Gründen auch immer), desto größere Mittel muß man für die Armee und die Polizei aufwenden. Und weil das Vorbeugen auch in der Staatspolitik wichtiger ist als die Therapie, muß der Staat allmählich alle potentiellen Herde eines selbständigen politischen Denkens (im weitesten Sinne, weil die Staatsmacht immer die Tendenz hat, die gesamte Sphäre der Politik in diesem weitesten Sinne für die Sphäre ihrer souveränen Kompetenz zu halten), jeder Nonkonformität mit der staatlichen Politik und jeder eventuellen Kritik der Staatspolitik liquidieren. Deshalb beseitigt er einige Organisationen, schränkt andere ein und macht sie unschädlich, andere beherrscht er direkt und benutzt sie als „Transmissionsriemen“ für seine Zwecke. Die Nonkonformisten, die selbständig Denkenden und die unerwünschten Kritiker isoliert er so schrittweise, beraubt sie aller Mittel, öffentlich wirken zu können, und macht sie schließlich mundtot (eventuell bringt er sie durch Verurteilung zu Gefängnis oder Zwangsarbeit u.ä. zum Schweigen). Ich wiederhole noch einmal: Das ist die Tendenz aller modernen Staaten. Wie weit sich diese Tendenz durchsetzt, wo sie hinführt und wo sie haltmacht, hängt nicht vom staatlichen oder gesellschaftlichen System ab, sondern von der Fähigkeit der Bürger, Widerstand zu leisten, d.i. sich nicht betrügen und einschüchtern zu lassen. Mit anderen Worten: Die technische Politik droht das gesamte gesellschaftliche und private Leben der Bürger zu beherrschen. Die einzige Möglichkeit, dies zu verhindern, ist eine nichttechnische, nicht-staatliche, nicht-offizielle Politik, d.h. ein politisches Bewußtsein der Bürger in jenem weiten Sinne. Aber worin besteht eigentlich diese „nichtpolitische Politik“? Und welche Möglichkeiten bleiben ihr noch, wenn sie durch die technische „Machtpolitik“ aller Mittel des öffentlichen Ausdrucks und der Wirkung beraubt ist.

    Führen wir ein Beispiel an, an dem wir alles das anschaulich aufzeigen können, wovon hier bislang die Rede war. Ich glaube, daß wir das treffendste Beispiel in den bisherigen Peripetien des vorläufig letzten Kampfes um die Durchsetzung der Menschen- und Bürgerrechte bei uns finden. Nahezu allen von uns wurde bei den Untersuchungen oder Verhören die Frage gestellt: Für wen sprechen Sie überhaupt? Das bedeutet: Wer hat Sie beauftragt, geschickt, – eventuel er hat Sie dafür bezahlt? Die „Konsolidierung“ nach dem Jahre 1968 lag darin, daß jegliche spontane „unpolitisch politische“ Bürgerinitiative erstickt und liquidiert wurde und daß die zentrale Führung und die zentrale Kontrolle aller Organisationen, die der Staat erlaubt hatte, erneuert und verstärkt wurde. Deshalb konnte auch keine Plattform irgendeiner Vereinigung oder Organisation existieren, wo etwas ähnliches diskutiert und zur Abstimmung hätte gebracht werden können. Jeglicher derartige Versuch hätte im Mißerfolg enden müssen, weil er gleich von Beginn an unterdrückt und unmöglich gemacht worden wäre. Deshalb haben auch die Unterzeichner der Charta ’77 keinen Auftrag: Sie sind „Ungebetene“, d.h. niemand hat sie delegiert. Wenn sie sich doch versammelt und irgendetwas beschlossen hätten, so wäre es möglich gewesen, sie als eine staatsfeindliche Gruppe zu bezeichnen, weil es außerhalb der vom Staat genehmigten Organisationsplattform geschehen wäre. Hier sehen wir offensichtlich die Verabsolutierung des Staates: Die Bürger haben nicht das Recht, sich auf dem Boden zu versammeln, den der Staat ihnen nicht im voraus dafür zur Verfügung gestellt hat; und sie haben sich auch nicht ohne staatliche Genehmigung zu äußern. – Im übrigen sind es gerade die Chartisten, die sich zu den zahlreichen Gesetzwidrigkeiten äußern. Dadurch erfüllen sie den Tatbestand der üblen Nachrede und des Verrats am eigenen Volk. Deshalb werden sie in die Kategorie der „Heimatlosen“ eingestuft. Die Repräsentanten des Staates und ihre Agitatoren sprechen also stellvertretend für die Heimat, für das Volk, für die ganze Nation. Die Verabsolutierung des Staates und seine Identifizierung mit der ganzen Nation, dem ganzen Volk und der Heimat ist ganz offensichtlich. Die Menschen, die sehr besorgt jeden antidemokratischen (und somit zugleich antisozialistischen) Vorgang im Staate und in der Gesellschaft verfolgen und den Mut haben, ihre Stimme dagegen zu erheben, werden niedergeschrieen und als „antisozialistische Elemente“ oder als „Lakaien des Imperialismus“, „charakterlose Bestochene“ und „internationale Abenteurer“ usw. diffamiert. Und das alles deshalb, weil sie ihre kritische Stimme innerhalb der Gesellschaft erhoben haben. Wenn jedoch jemand seine kritische Stimme im Ausland erhebt, so heißt es sofort, daß er sich unzulässigerweise in die inneren Angelegenheiten unseres Staates einmische. Also ist jede Kritik unzulässig, egal ob sie aus der Gesellschaft selbst oder von außen kommt. Hier haben wir wiederum diese Verabsolutierung des Staates, die keinen Maßstab und keine Beurteilung ertragen kan – außer ihrer eigenen.

    In diese Konfrontation werden nach und nach immer mehr Bürger miteinbezogen, die sich an jener Hexenjagd beteiligen sollen. Sie kennen zwar den Text der Charta ’77 nicht, aber sie sollen ihn verurteilen. Künstler werden in großer Anzahl zusammengerufen, um in ihrem Namen das Vaterland, das Volk und die ganze Kultur vor dem bösartigen Angriff der Chartisten, dieser „heimatlosen Menschen“, dieser „Gescheiterten“ und „armseligen Figuren“ zu schützen. Und die Menschen stimmen ab, die Künstler unterschreiben (nicht alle, freilich gibt es auch Schwierigkeiten). Und genau das bedeutet, daß sie ihre bürgerliche Freiheit und ihren spontanen „unpolitisch politischen“ Charakter beiseite werfen und eine politische Loyalität durch das Heben ihrer Hand oder durch ihre Unterschrift vortäuschen (von der sie dann erklären, daß sie die bloße Dokumentation ihrer Anwesenheit sei, oder sie bagatellisieren ihre Bedeutung: „Es war doch alles nur belangloses Zeug, das doch alle unterschrieben haben“ und „Welchen Sinn hätte das gehabt auf mich aufmerksam zu machen, ich habe sowieso seit zwei Jahren im Fernsehen nur ein paar kleine Nebenrollen bekommen“ usw.). Der Staat gibt sich damit zufrieden, weil es ihm schon lange nicht um die innere Überzeugung der Menschen geht (wenn er sich nicht einmal auf die innere Überzeugung der führenden Kader verlassen kann); hier geht es bloß um den Akt der äußerlichen Akzeptanz der offiziellen Linie. Und hier sind wir beim Kern der ganzen Sache angelangt. Die spontane „unpolitisch politische“ Haltung ist unzertrennlich mit der persönlichen Entscheidung, mit der Abwägung der Gründe dafür und dagegen, mit dem Engagement für richtige und falsche Entscheidungen, für die Wahrheit und gegen die Lüge verbunden. Und so etwas ist nicht einmal dann erwünscht, wenn man mit dem offiziellen Kurs einverstanden ist. Der offizielle Kurs wird sich nämlich wieder ändern müssen, vielleicht sogar in die entgegengesetzte Richtung – und was soll er dann mit den Menschen anfangen, die überzeugt waren? Die wirkliche Überzeugung läßt sich nicht je nach Wetterlage und Situation abändern. Deshalb werden – laut der offiziellen Version – überzeugte Sozialisten und Kommunisten plötzlich zu Menschen, die den Sozialismus hassen, zu Antikommunisten und umgekehrt, die Spitzel und Verräter werden zu führenden politischen Funktionären. Kann jemand darüber im Zweifel sein, wo der Fehler liegt? Je mächtiger die Staatsorgane sind, desto mehr benötigen sie Waschlappen als mündige Bürger. Und je mehr Menschen bereit sind, solche Waschlappen zu sein oder es zumindest vorzutäuschen, desto mächtiger werden die Staatsorgane, desto „absoluter“ und „souveräner“ ist dann der Staat.

    Kann man überhaupt etwas dagegen unternehmen? Ich glaube, ja. Die Situation ist durchaus nicht so fatal, wie es scheint. Alles hängt eigentlich von den Menschen, den Bürgern und der Bürgerinitiative ab. Also, alles hängt von uns selbst ab. Jeder Bürger, jedes Mitglied der Gesellschaft muß sehr eifersüchtig die Sphäre seiner Freiheit überwachen. Die Freiheit basiert freilicht nicht darauf, daß ich denken oder sogar machen kann und darf, was ich will, also z.B. auch Unsinn und Dummheiten. Das Wesen der Freiheit ist die Befreiung von dem, was mich wie ein Stein bedrückt, was mich einengt, zwingt und nötigt, die Befreiung zu dem Zweck, daß ich gegen meine eigenen Interessen (und die Interessen meiner Gruppe usw.) die Wahrheit wähle, in deren Licht sich erst erweist, inwiefern meine Interessen berechtigt und inwiefern sie unberechtigt waren; damit ich gegen alle Gewohnheiten und Traditionen das Neue, das in die Zukunft weist, wähle; damit ich gegen Vorteile und Privilegien, an denen ich vielleicht auch partizipiere, die Gerechtigkeit wähle, und das bedeutet vor allem Gerechtigkeit für die, denen sie verweigert wird, für Schwache, Erniedrigte, Vernachlässigte oder sogar Diskriminierte und Verfolgte.

    Das ist die Grundlinie jeder unpolitischen Politik: öffentlich entscheide ich mich nach meinem besten Wisen und Gewisen – und fordere die anderen auf, sich anzuschließen. Dabei geht es an erster Stelle nicht um die mutige Haltung, sondern um die Bereitschaft, das eigene Denken und Leben der Wahrheit unterzuordnen. Solschenizyn erblickte den tiefen Grund unseres geistigen und moralischen Niedergangs, als er zum bürgerlichen und menschlichen Minimalkonsens aufforderte: nicht zu lügen und jede Teilnahme an der Lüge abzulehnen. Aber man muß anmerken: Es ist nicht ganz so einfach. Sich hinter die Wahrheit zu stellen gegen die anderen, gegen die offiziellen Stellen, gegen „sie“, das könnten wir noch manchmal schaffen. Sich aber auf den Standpunkt der Wahrheit gegen sich selber zu stellen? Aufhören, sich selber zu belügen? Aufhören, sich selber in die Tasche zu lügen? Alle Vorurteile und Illusionen abwerfen? Bereit sein, sich selber im Licht der Wahrheit zu sehen? Ohne jede Beschönigung? Sich selber einzugestehen, daß man so oft seine eigenen Taten, die in Wirklichkeit Verrat an der Wahrheit, dem Recht und der Gerechtigkeit sind, als belanglos bagatellisiert – wodurch ich meine Heimat, meine Gesellschaft und letztlich mich selber verrate? Daß ich durch diesen Verrat öfters den äußeren Schein eines anständigen Lebens, den Lebensstandard u.ä. aufrecht erhalte, aber daß hinter dieser Fassade meine eigene Menschlichkeit zusammenbricht? Deshalb ist es notwendig, um einen größeren Raum für mehr Menschlichkeit des Menschen zu kämpfen. Deshalb führen wir den Kampf um die Menschen- und Bürgerrechte, d.h. um die Durchsetzung des Gedankens, daß das menschliche Leben durch seinen Hauptinhalt und in seinem größeren Teil außerhalb des Staates und außerhalb seiner Kompetenz verankert ist, daß es mit dem Staat und der Staatspolitik nur am Rande in Kontakt kommt und daß der Staat, der das nicht anerkennen möchte und der sich in die eigentlichste Domäne des menschlichen, individuellen und gesellschaftlichen Seins einmischt, ein schlechter Staat ist. Die politische Gleichgültigkeit und Ignoranz fördert nur eine solche illegitime Einmischung des Staates in Bereiche des menschlichen Lebens. Demgegenüber kommt die wahre politische Haltung und die echte Bürgerlichkeit in solchen Bereichen und Sphären zur Geltung, in welche sich die Staatsorgane und die Staatspolitik nicht einzumischen haben.

    Dein

    Ladislav Hejdánek

    Prag, den 19.3.1977