Philosophie und politisches Handeln
| docx | pdf | html ◆ článek, německy, vznik: 8. 5. 1980
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  • Dopis příteli č. 62

  • Philosophie und politisches Handeln

    Lieber Freund,

    in einer Sache gebe ich Dir recht: Hartnäckigkeit, Störrigkeit, Unnachgiebigkeit und unerschütterliches Festhalten an der eigenen Meinung sind keine maßgebenden menschlichen Eigenschaften und sie können es auch nicht sein – schon gar nicht können sie unbestreitbare und unbedingte menschliche Tugenden darstellen. Aber ich kann Dir darin nicht zustimmen, daß zur Bewertung der gesellschaftlichen und historischen Bedeutung der Vorlesungen und Seminare von Dr. Tomin deren Niveau, deren philosophische Qualität entscheidend sei. Und deshalb muß ich gleichzeitig Deine Kritik zurückweisen. Denn ich habe bei der Schilderung der ganzen Angelegenheit jeglichen Kommentar vermieden, in dem ich zu Tomin als Denker, als Philosophen Stellung bezogen hätte. Du schreibst, daß ich in zwei Briefen des letzten Jahres Vaculík und Pithart kritisiert hätte, daß sie in ihren Texten den inhaltlichen Aspekt, nämlich worum sich z.B. die „aktive Minderheit“ eigentlich bemühe, völlig umgangen haben, und daß ich jetzt genau den gleichen Fehler mache, den ich den anderen zum Vorwurf gemacht hätte. Zum Schluß schreibst Du dann, ich nähere mich mit dieser Einstellung der Position von Frau E. Kantůrková am Schluß ihres Textes „Ich möchte nur über schöne Dinge schreiben“. (Februar 1980)

    Menschliche Angelegenheiten sind in der Regel komplizierter, als daß man sie auf eine einzige Ebene, auf einen gemeinsamen Nenner bringen, mit einem Maß beurteilen kann. Das menschliche Leben ist immer das Bemühen um eine sehr komplizierte Synthese; schon die alten Griechen hatten ihr Ideal der Kalokagathie, das nicht durch Beschränkung auf eine einzige Tätigkeit zu erreichen war, nicht durch Spezialisierung im Leben, sondern durch Verbesserung der Lebensqualität in vielerlei Hinsicht und in vielen Bereichen. Ich glaube, daß es nötig ist, dies gerade heute oftmals und wiederholt in Erinnerung zu rufen. Bei der Beurteilung eines Menschen (bei der man natürlich große Zurückhaltung üben muß, denn wer von uns kann sich schon zum Richter über andere Menschen erheben?) muß man sein gesamtes Leben berücksichtigen, nicht nur einige Teile davon. Aber bei der Beurteilung menschlicher Taten und Tätigkeiten muß man sich an deren Charakter halten und ihre Bedeutung und Verdienste weder überbewerten noch herabsetzen mit dem Hinweis auf andere Tätigkeiten und Taten desselben Menschen. Wenn sich jemand als ein hervorragender Soldat oder Befehlshaber im Kampf bewährt hat, muß man dies berücksichtigen, auch wenn er dann im Frieden vollkommen versagt. Vercors zeigt, wie ein Mensch (eine Frau), der am Rande der Gesellschaft lebt, zu einer großen Stütze für andere werden kann in einer so außergewöhnlichen Situation, wie sie in Konzentrationslagern geherrscht hat. Ein hervorragender Mathematiker kann ein miserabler Ehemann und Vater sein, aber auch das Gegenteil ist möglich. Manche menschlichen Charakterzüge haben sehr wenig miteinander zu tun oder sind gar voneinander unabhängig, wobei andere wiederum mehr oder gar ganz wesentlich miteinander verknüpft sind. Allgemein gilt: Je höher das Niveau, das ein Mensch auf einem bestimmten Gebiet erreicht, also in einer bestimmten Spezialisierung, um so natürlicher stützt sich diese Qualität auf die Qualität in anderen Gebieten, zuerst in den benachbarten, dann aber auch in den etwas entfernten, bis sie sich zuletzt auf die Qualität des gesamten Lebens stützt.

    Zum Beispiel kann sich jemand in der Logik hervortun, so daß er zu den größten Fachleuten des Landes zählt. (Das ist natürlich relativ, denn es kommt auf das Niveau der Logik in dem Land an.) Soll er aber auf dem Gebiet der Logik auch weltweit eine Autorität werden, muß er notwendigerweise mehr sein als ein bloßer Logiker. Er muß in der Lage sein, die gesamte Logik mit einem gewissen Abstand von einem bestimmten Niveau aus zu überblicken, d.h. er muß auch als Philosoph ein hohes Niveau erreicht haben. Ähnlich muß ein hervorragender Dichter etwas mehr als ein bloßer Dichter sein, weil auch er mit seiner Kunst mitten in einer bestimmten Gesellschaft und Zeit leben muß. Das heißt, er muß zu beiden eine Beziehung haben, muß auch darin groß sein, wie er sich in seinen Gedichten auf die Welt bezieht, in der er lebt, muß sich in dieser Welt „dichterisch aufhalten“. Mit anderen Worten: Je höher das Niveau ist, das ein Mensch mit seinen Qualifikationen – in welchem Fachgebiet auch immer – erreicht, desto dringender wird für ihn das Bedürfnis, ja geradezu die Notwendigkeit, auch ein großer Mensch zu sein. Dem wahrscheinlich tiefgründigsten Denker unseres Jahrhunderts haftet der Makel eines politischen und menschlichen Versagens an. Sicherlich schmälert dies nicht die Bedeutung seiner philosophischen Leistungen, aber zweifelsohne signalisiert es zumindest einen Fehler, einen Mangel seiner Philosophie als Lebensweise und Lebensverankerung. Hierbei muß ich sicherlich nicht erwähnen, daß bei einem Denker kleineren Formats auch ein in dieser Hinsicht günstiger Umstand (nämlich ein Handeln, das von schnellerem Erkennen politischer Gefahren oder von weit weniger problematischen menschlichen Haltungen zeugt) nicht zu seinem wirklichen philosophischen Niveau beiträgt.

    Wenn wir also die Tat bzw. die Serie von Taten des Dr. Tomin (und seiner Hörer, denn ohne deren Festigkeit und Unnachgiebigkeit wäre Tomins Tätigkeit gar nicht möglich gewesen, von deren Wichtigkeit hier die Rede ist) beurteilen, müssen wir vor allem auf den entscheidenden Zusammenhang achten, in dem es zu diesen Taten kam und immer noch kommt. Wir müssen die eigentliche Ebene betrachten, auf der diese Artikel etwas bewirken sollten, den bedeutendsten Aspekt, durch den sich Tomins Taten auszeichnen. Dabei wird einem klar, daß es nicht entscheidend ist, was Dr. Tomin fachlich und sachlich Wesentliches über Aristoteles vorgetragen hat, sondern daß sich hier ein Dozent gefunden hat, der bereit war, die Ergebnisse seiner Forschung anhand griechischer Texte für eine Gruppe junger Menschen vorzutragen. Von Bedeutung ist auch, daß sich junge Menschen gefunden haben, die ein solches Interesse an Aristoteles bekundeten, daß sie trotz der Gefahren und Risiken immer wieder nach mehrmaligen polizeilichen Übergriffen zusammenkamen, um die Vorlesungen zu hören. Entscheidend ist dabei zum einen die Tatsache, daß solche Tätigkeit in völligem Einklang mit dem normalen kulturellen Leben der Gesellschaft und mit tschechoslowakischen Gesetzen steht (auch mit den Internationalen Pakten und der Schlußakte von Helsinki), zum anderen die Tatsache, daß die Eingriffe der Sicherheitsorgane in Widerspruch zu unseren Gesetzen, zu den beiden Internationalen Pakten sowie der Schlußakte von Helsinki stehen. Selbst wenn jemand Einwände erheben möchte gegen die Art und Weise, wie dort Dr. Tomin eine konkrete Stelle aus der „Metaphysik“ oder etwas Vergleichbares interpretiert hat, ändert das überhaupt nichts an der oben erwähnten Tatsache.

    Das Recht darauf, daß sich eine Gruppe an irgendeinem Ort privat trifft und Aristoteles wie auch immer interpretiert, ist keineswegs davon abhängig, was sie in ihren Diskussionen inhaltlich über Aristoteles zu sagen haben. Ihre Ansichten beurteilen kann jeder, der an der Diskussion teilnimmt oder von ihr zuverlässige Informationen erhält, sofern er die Voraussetzungen dafür besitzt. Am wenigsten kompetent und am wenigsten dazu berufen ist jedoch die Staatssicherheit, die in keinerlei Hinsicht über Voraussetzungen verfügt, die sie dazu befähigt, sich auf irgendeine Art in Diskussionen über die Interpretation von Aristoteles einzumischen, und am allerwenigsten natürlich dadurch, daß sie die Diskutierenden auseinandertreibt oder in Gewahrsam nimmt.

    Damit behaupte ich keineswegs, daß gleichgültig ist, welches Niveau die Vorlesungen und Diskussionen über Aristoteles hatten. Selbstverständlich reicht allein die Tatsache, daß Seminare und Vorlesungen stattgefunden haben, noch nicht aus. Dies ist nur eine Bedingung dafür, daß auch die Menschen etwas über Aristoteles (und über andere Dinge) erfahren, die infolge politischer und gesellschaftlicher Diskriminierung nicht normal studieren dürfen (und hinzu kommt, falls sie es dürften, würden sie mit großer Wahrscheinlichkeit auch nicht viel über Aristoteles erfahren, weil die offizielle Indoktrination ihn kaum berücksichtigt). Aber Aristoteles' Texte verstehen zu lernen, ist weder das einzige noch das hauptsächliche Ziel der inoffiziellen Bildung in privaten Studienkreisen; es gibt viele solche Ziele. Hinzu kommt, daß unterschiedliche junge Menschen sich für verschiedene Themen interessieren.

    Jeder Hinweis auf das Niveau der Vorlesungen oder Diskussionen hat unter den gegebenen Umständen den Charakter eines Ablenkungsmanövers vom zentralen Problem, nämlich von der gesetzwidrigen Intervention seitens der Behörden, speziell der Staatssicherheit, in einer Sache, die vollkommen außerhalb ihrer Kompetenz liegt. Wenn diese Angelegenheit einmal nicht nur geklärt, sondern wenn auch die Freiheit und das Recht, solche privaten Vorlesungen und Diskussionen zu veranstalten, verbrieft und durchgesetzt sein werden, ja wenn ähnliche Aktivitäten sogar in die Öffentlichkeit verlegt werden können, wohin sie ihrem Wesen nach gehören, und dies ohne behördliche Reglementierung (denn es handelt sich um eine freie Aktivität im Rahmen des gesellschaftlichen Lebens, dem die Organisation des Staates dienen soll statt sie zu beherrschen), dann wird eine eventuelle Kritik angebracht sein, sei es an der Durchführungsart der Seminare oder des Unterrichts, sei es an dem konkreten Verständnis aristotelischer Gedanken im allgemeinen oder insbesondere an einzelnen Stellen in seinen Büchern usw. Bis dahin ist dies alles faktisch nur in Form einer internen Diskussion möglich, und dies auch nur bei strenger Differenzierung zwischen der Beurteilung der Bedeutung einer solchen Vertrags-und Seminaraktivität, ohne Berücksichtigung der Arbeitsinhalte, und der fachlichen Qualität und sachlichen Bearbeitung der Themen, die dort behandelt werden.

    Um etwas ganz anderes ging es in der Diskussion über Vaculíks und Pitharts Texte und in Diskussionen und weiteren Texten, die folgten. Dort ging es nämlich um eine interne Diskussion zwischen Menschen, die seit ihrer Unterschrift unter die Grunderklärung der Charta ’77 mit Respekt an etwas gebunden waren, das zu ihrer gemeinsamen Basis geworden war. Und genau so geht es um etwas ganz anderes in dem, was wir zum Schluß des Textes von Eva Kantůrková vom Februar 1980 lesen können, den sie anläßlich des 75. Geburtstages von Professor Václav Černý geschrieben hat. Rufen wir uns diese Gedanken ins Gedächtnis. Die Autorin schreibt, daß es ihr allmählich mit zunehmenden Jahren immer unwesentlicher erscheine, worauf sich welche Ansicht gründe, um was konkret eine Kontroverse gehe. „Wer weiß heute noch genau, was Hus vor dem Konzil eigentlich verteidigt hat? Wer unterscheidet genau die Nuancen von Havlíčeks Ansichten von den Nuancen der Ansichten z.B. von Sabina oder Arnold? Es mußte auch nicht der Fall Hilsner sein, in den T.G. Masaryk eingriff, es hätte etwas ganz anderes sein könen. Nicht die Autorität der Ansichten feselt uns – durch eine Ansicht allein wird ein Mensch nicht zum Wegweiser. Zu Wegweisern sind sie für uns wegen ihrer Kraft geworden, mit der sie unerschütterlich und ohne Schwankungen emporragten, ihre Haltung öffentlich verantworteten, egal woher der Wind wehte. Du mußt mit ihnen nicht in allem übereinstimmen, sie verlangen übrigens nicht einmal Zustimmung; aber die Tatsache, daß dieser Mensch fest auf seinem Standpunkt beharrt, erleichtert auch Deine Orientierung, auch wenn Dein Weg in eine andere Richtung führt. Du meinst, daß diejenigen, die so sehr emporragen, Blitze anziehen? Das auch, aber sie – manchmal sehr aleingelasen – ziehen auch Nachfolger an.“ Wenn ich das alles richtig verstanden habe, ist für diesen Menschen selbst sowie für die Menschen um ihn herum entscheidend, mit welcher Kraft er „unerschütterlich und ohne Schwanken emporragt“ und wie er „fest auf seinem Standpunkt verharrt“. Wofür er eintritt, gegen was er polemisiert, das ist nur ein zufälliger Begleitumstand, der gegen andere Umstände ausgetauscht werden könnte, wogegen jene Unerschütterlichkeit und Festigkeit der Haltung auch unter veränderten Umständen unverändert weiterexistieren würde. An dieser Ansicht beanstande ich vor allem das Fehlen jeglichen Verständnisses für geschichtliche Zusammenhänge, ja sogar für den Situationscharakter des menschlichen Lebens überhaupt. Ich erkenne darin den Widerhall antiker Ideale der „Tugenden“, die aus konkreten Lebens- und Geschichtszusammenhängen herausgerissen sind; in höchst respektablen Formen hat der Stoizismus diese Haltungen formuliert.

    Außerdem erklingt darin auch das Echo einer liberalistischen Gleichgültigkeit und eines Relativismus in Fragen der Wahrhaftigkeit und der Wahrheit. Durch erstere werden wir alle beeinflußt; uns erscheint es menschenwürdiger, wenn der Mensch Schwierigkeiten, Gefahren und der Einsamkeit des Todes stolz entgegentritt, ohne Schwäche, kurzum heldenhaft. Aber warum ist es für uns kein Heldentum, wenn zahlreiche Japaner ihr Leben für die sichere Vernichtung und Zerstörung eines feindlichen Zieles geopfert haben? Warum reden wir in so einem Fall lieber von Fanatismus? Wohl deshalb, weil Tugenden nicht von ihrem Kontext isoliert werden können: Es ist also nicht unwesentlich, auf welcher Seite und für welches Ideal jemand kämpft. Das hat schließlich schon Cicero gewußt, als er schrieb: „Aber der Mut, der sich in Gefahren und im Leid äußert, ist fragwürdig, wenn er nicht mit der Gerechtigkeit einhergeht und wenn er nicht für das Gemeinwohl kämpft, sondern für den persönlichen Vorteil. Dann ist er nicht nur keine Tugend mehr, sondern eher grobe Kraft, die alles Menschliche verachtet. Also definieren die Stoiker die Tapferkeit richtig, wenn sie sie als eine Tugend bezeichnen, die für die Gerechtigkeit kämpft. Niemand, der den Ruf eines tapferen Menschen durch Hinterlist und Bosheit erlangt hat, verdient deshalb Lob, weil keine Tugend dort sein kann, wo Gerechtigkeit fehlt … Und deshalb wollen wir, daß tapfere und furchtlose Männer auch gerecht und aufrichtig, wahrheitsliebend und völlig arglos sind. Denn dies sind Eigenschaften, die aus dem eigentlichen Wesen der Gerechtigkeit hervorgehen.“ („Über die Pflichten“)

    Vielleicht ist es wahr, daß der Verfall unserer Nation auch dadurch zum Ausdruck kommt, daß heute die wenigsten wissen, was Hus eigentlich vor dem Konzil verteidigt hat. Aber ist das nicht eine Schande? Haben wir etwa zu wenig Literatur über Hus? Warum vergessen wir Hus dann lieber ganz? Was haben wir von ihm eigentlich übrigbehalten? Hus ist doch keine unumstrittene Persönlichkeit. Auf dem Konzil wirkte er wie ein Reaktionär, er vertrat Ansichten, die die Mehrheit der Konzilsväter nicht mehr ernstnahm. (Er hielt am Realismus fest, während auf dem Konzil die Nominalisten in der Mehrzahl waren.) Ihm wird das Hauptverdienst am Zustandekommen des Kuttenberger Dekrets zugeschrieben; aber die Folge der böhmischen Mehrheit an der Karls-Universität war ihr katastrophaler Niveauund Bedeutungsverfall. Worin ist Hus für uns also bis heute lebendig geblieben? Warum schätzen wir ihn? Nur deshalb, weil er keinen Rückzieher gemacht hat und nach Konstanz ging? Und weil er auch im letzten Moment als der Scheiterhaufen schon angezündet war, nicht abgeschworen hat? Hierin war er nicht der Einzige; seinesgleichen gab es viele. Unter ihnen waren auch furchtsame Menschen und Fanatiker; sie haben auch nicht widerrufen. Warum erinnern wir uns nicht an sie? Geht es uns wirklich um diese Märtyrergeste? Ich verstehe die Worte von Frau Kantůrková nicht; für mich erklingt aus ihnen ein ideologischer Nihilismus und eine geistige Leere. Wie kommt sie dazu? Sicherlich nicht ohne den immensen Einfluß der gesamten gesellschaftlichen Situation; es ist eine der Folgen unserer mehrfachen nationalen und menschlichen Erniedrigung aktiver und passiver Natur (wir wurden und werden erniedrigt, aber wir haben uns auch selbst erniedrigt und erniedrigen uns immer noch).

    Irgendwann vor 85 Jahren hielt Professor Masaryk Vorlesungen über Hus, ein Jahr später erschien die Erstauflage seines „Hus“ („Jan Hus. Unsere nationale Wiedergeburt und Reformation“, 1896). Erlaube mir zwei Stellen gleich aus dem 2. Kapitel des ersten Teiles zu zitieren: „Wir sind Hus' Volk, und wir nennen uns gerne so, – aber sind wir dieses Volk Hus' tatsächlich und wirklich? Wir sind es nicht, wir sind es noch nicht. Unsere nationalen Bemühungen weisen einen großen Mangel an Innenleben, an geistigem Leben auf; das Bewußtsein, daß unser Programm der nationalen Wiedergeburt eine Fortsetzung der Reformationstradition sein soll, ist schwach. … Deshalb denken wir darüber nach, was der Konstanzer Scheiterhaufen für uns heute bedeutet, denn dieser Scheiterhaufen ist noch nicht in alle Winde zerstreut worden. … Der Konstanzer Scheiterhaufen wird genährt und wieder angefacht durch Gleichgültigkeit gegenüber den letzten Wahrheiten des Lebens, Gleichgültigkeit gegenüber den letzten Zielen des Menschen. Uns belastet der Indiferentismus.“ (Ausgabe v. 1925, S. 9 u. 1) – Was, wenn nicht Indifferentismus, kann das für immer unwesentlicher halten, worauf sich konkret jede Ansicht stützt, worum es konkret in einem Streit geht? Durch was, wenn nicht durch Indifferentismus zeichnen sich Menschen aus, die sich nicht einmal die Mühe machen, genau herauszufinden, was Hus vor dem Konzil eigentlich verteidigt hat? Kann sich überhaupt ein anderer, wenn nicht ein indifferenter Mensch von dem wesentlichen Unterschied abwenden, der zwischen Havlíčeks Ansichten und den Ansichten eines Sabina oder Arnold besteht? Und gibt es einen besseren Beweis des Indifferentismus, als daß Einzelheiten von Masaryks Kampf gegen den Antisemitismus für zufällige Umstände gehalten werden, die gegen etwas völlig anderes hätten ausgetauscht werden können, für das sich Masaryk hätte einsetzen können?

    Mit Staunen las ich in Deinem letzten Brief, daß ich in meinem Bericht über Tomins Seminare etwas Ähnliches tue wie Vaculík, Pithart oder Frau Kantůrková. Ich war überrascht, woher dieses Mißverständnis stammen könnte. Dann hat mich ein junger Freund, der Dir unbekannt sein dürfte, darauf aufmerksam gemacht, daß unter den jungen Leuten die Kontroverse zwischen Dr. Tomin und mir in guter Erinnerung sei, die in einem seiner Seminare entstand, als ich dort an einigen Abenden auf seine Einladung hin Vorträge hielt (es war bei Dejmals). Die jungen Leute sind der Meinung, daß ich eine gewisse Distanz wahre, sowohl was Tomins philosophische Ansichten betrifft, aber auch bezüglich seines eigenartigen Verhaltens gegenüber Behörden, Polizeibeamten, Redaktionen usw. Deshalb halte ich es für möglich, daß Du gerade im Zusammenhang mit diesen Umständen der Meinung warst, daß ich eine eindeutige Stellung auch zu Tomins philosophischer Arbeit und auch zu seiner, bei uns ziemlich unüblichen Art des bürgerlichen Widerstands, hätte beziehen sollen.

    Aber wenn ich mich in dieser Sache nicht irre, mußt Du einsehen, daß ich in einem solchen Falle nur das abschwächen würde, was ich geschrieben habe (und bei verschiedenen Gelegenheiten auch gesagt habe). Hoffentlich wirst Du mir verzeihen, wenn ich eine Analogie anführe, die hinsichtlich der inhaltlichen Bedeutung natürlich ganz anders geartet ist. Als Masaryks Hilsner in Schutz nahm, tat er dies weder aus Freundschaft zu ihm noch aus irgendeinem Philosemitismus heraus und auch nicht, weil Hilsner eine bedeutende Persönlichkeit war. Es ging weder um Hilsners Ansichten noch um seine Lebensgewohnheiten, es ging nicht um sein menschliches Profil und nicht um seine Charaktereigenschaften. Es ging darum, daß ein Mensch verurteilt werden sollte und auch schon verurteilt worden war unter Begleitumständen, die die Ausübung der Gerechtigkeit nicht nur verhinderten oder extrem erschwerten, sondern die auch der Ausdruck einer nationalen und gesellschaftlichen Krankheit, eines Niedergangs, eines gefährlichen Aberglaubens waren. Entscheidend ist, um was es damals ging; wenn wir das nicht verstehen, können wir auch Masaryk nicht begreifen. Es handelt sich um eine Sache, die aus der damaligen Situation entstand. Und ebenso ist es notwendig, den Fall des Dr. Tomin und seiner Vorlesungen und Seminare im Zusammenhang mit unserer heutigen Situation zu beurteilen. Als ich schrieb, daß die Ausdauer und Standhaftigkeit von Dr. Tomin und von seinen Hörern in die Geschichte der kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung unseres Landes eingehen werde, tat ich dies nicht, weil Tomin ein Freund von mir ist (er ist es tatsächlich), auch nicht, weil wir auf philosophischer Ebene die gleichen Ansichten vertreten (das tun wir nicht), und auch nicht deshalb, weil er und wie er an den besagten Abenden Aristoteles interpretiert (das kann ich nicht beurteilen, weil ich ihn nicht gehört habe, und zudem halte ich mich in dieser Sache nicht für kompetent). Ich tat es, weil er auf seinem Recht beharrt, in seiner Wohnung jungen Leuten über die Ergebnisse seiner Arbeit zu berichten, und auch auf dem Recht junger Menschen, seine Vorlesungen in einer Privatwohnung zu hören und darüber zu diskutieren. Darin ist Tomin ein Vorbild für die anderen Dozenten und ihre Gruppen, nicht darin, daß er Aristoteles interpretiert, auch nicht darin, daß er sich z.B. wegtragen läßt, wenn Sicherheitsbeamte widerrechtlich vorgehen, und vieles andere mehr.

    Mir persönlich sagt z.B. Tomins passiver Widerstand und wie er sich wegtragen läßt, überhaupt nicht zu. Und doch habe ich mich im Januar 1978 auch von meiner Arbeit wegtragen, bzw. fortschleppen lassen. Auch jetzt hängt es nicht von mir ab, falls ich ihn wieder nachahme.

    Dein

    Ladislav Hejdánek

    Prag, den 8.5.1980