Rudolf Stamm, Sanfter, aber unerschütterlicher Widerstand in Prag
| docx | pdf | html ◆ článek, německy, vznik: 2005 ◆ poznámka: nepodařilo se dohledat, kde a kdy vyšlo; z textu samotného plyne, že byl napsán v roce 2005

Sanfter, aber unerschütterlicher Widerstand in Prag

Die Untergrund-Fakultät von Ladislav Hejdanek


**GR Pisek ist eine grössere Kleinstadt in Südböhmen und liegt, wie die meisten Orte der Gegend, in einem Netz von Alleen aus alten und uralten Kirschbäumen. Weder vor noch nach der <samtenen Revolution> scheint sich eine Gärtnershand an diesen vergriffen zu haben. Deshalb blühen sie um so schöner; Ende April breitet sich eine lockere, weisse Blütenfülle über das ganze zartgrüne Land aus, das nicht viel anders ausgesehen haben mag, als Bedrich Smetana seinen sinfonischen Zyklus <Ma Vlast> schrieb. Wahrzeichen von Pisek sind das Rathaus und eine alte Brücke. Sie führt über die Wottava, die 15 Kilometer weiter nördlich in einer grossen Schlaufe die Ruine Klingenberg umschlingt und sich mit der Moldau vereinigt. Zumindest von Klingenberg wollen wir den tschechischen Namen hervorheben: Die frühmittelalterliche Festung heisst Zvikov und war ein Lieblingsaufenthalt von König Wenzel (tschechisch Vaclav II.). Die beiden engen, zwischen waldige Hügel eingeschnittenen Täler wirken verträumt wie eh und je, und dass hier zwecks Stromerzeugung eine Staustufe eingerichtet wurde, wird dem unbefangenen Besucher erst ein Stück weiter nördlich bewusst. Angesichts der Verschandelungen, die im Westen aus den gleichen, nämlich wirtschaftlichen Abwägungen an der Landschaft vorgenommen wurden, sollten die Kommunisten dafür nicht allzu heftig getadelt werden.


In einem gefälligen Haus am Stadtrand von Pisek lebt, seitdem er 1997 von der Comenius-Universität emeritiert wurde, der Philosoph und frühere Dissident Ladislav Hejdanek. Der zweistöckige Bau hat einen Hauch von Jugendstil, im Garten blühen Tulpen. Die Gattin meint, er könnte noch etwas gepflegter sein. Der Besucher fühlt sich von Ferne an die Ambiance von Jiri Menzels <Ein launischer Sommer>, erinnert, einen Film, der im Westen als Paraphrasierung der sozio-psychologischen Situation der Tschechoslowakei vor der mit Panzern abgewürgten Revolution von 1968 aufgefasst wurde. Der mit den tatsächlichen Verhältnissen besser vertraute Hausherr hält den Vergleich für etwas gewagt.


Das letzte Mal hatten wir uns vor beinahe zwanzig Jahren in einem kleinen Park hinter hinter dem Prager Nationalmuseum zu einem Gespräch über die politische Befindlichkeit der Tschechoslowakei getroffen. Diese Art von Recherche gehörte zum täglichen Brot von Osteuropabeobachtern. Zur Sprache kamen nicht nur Fakten, sondern auch die Verschiebungen in den atmosphärischen Bedingungen, das psychologische Klima. Die mit Visa eingeereisten Journalisten nahmen die Auswertung der Gespräche nach eigenem Dafürhalten und wenn, immer nötig, unter Schonung der Informanten vor. Auf Spaziergängen konnte man zwar gesehen, im Normalfall aber nicht abgehört werden. Die Treffen konnten einer aufmerksamen Geheimpolizei zwar nicht entgehen, aber lückenlos war die Überwachung nicht.


Hejdanek war Mitglied der Bürgerrechtsbewegung und Unterzeichner der Charta 77. Nach der Inhaftierung von Vaclav Havel wurde er deren Sprecher. Im Verein mit über 200 Mitunterzeichnern musste er deswegen von Seiten der kommunistischen Obrigkeit zahlreiche Schikanen über sich ergehen lassen. Berufsverbot hatte er wegen seines Protests gegen den Einmarsch der Truppen des Warschaupaktes schon 1970 erhalten, wenige Monate, nachdem er sich mit einer Arbeit über <<Philosophie und Glauben>> hatte habilitieren wollen. Es begann das für Seinesgleichen übliche Dissidentenschicksal mit Anstellungen als Nachtportier, Heizer, Lagerarbeiter. Bei der Nachtarbeit habe er immerhin viel Zeit zum Lesen gehabt. Einmal wurde er wegen eines politischen Delikts zu neun Monaten Haft verurteilt, von denen er sechs in der Untersuchungshaft absitzen musste.


Von 1979 an hielt Hejdanek in seiner Wohnung Seminarien über nichtmarxistische Philosophie ab. Damit hielt er eine Tradition aufrecht, welche die Kommunisten auszutilgen versuchten. Über Sokrates, Aristoteles, Spinoza, schlechthin über die abendländische Philosophie vor Marx und Hegel, gab es keine Vorlesung mehr. Freilich konnte ein Einzelner nicht alles leisten, was der Staat mit Absicht versäumte. In den Hejdanek-Seminarien wurden seltener ganze Systeme, häufiger philosophische Begriffe durchgearbeitet und auf diese Weise Ideengut an die nächste Generation weitergegeben, das sonst verschüttet worden wäre. Zu einem Grundzug seines historischen Denkens gehört es, die Geschichte nicht von ihrem Ausgang und aus der Position des Siegers zu betrachten, sondern ihre Entstehung und Entwicklung zu analysieren. In einer Zeit unterdrückter Freiheiten ergab sich aus der Betrachtungsweise gelegentlich ein Hoffnungsschimmer.

In Zeiten erhöhter gesellschaftlicher Spannung drängten bis zu 30 Personen zur Slovenska ulica 11, regelmässig nahmen etwa zehn an den Kursen teil. Zur Erweiterung des Horizonts wurden Philosophen aus dem Westen eingeladen. Dem bekanntesten von ihnen, dem Franzosen Jacques Derrida, versteckte die Polizei einen Beutel mit Heroin im Koffer, der bei der Ausreise wie durch Zufall von findigen Grenzwächtern entdeckt wurde. Der Vorfall führte zu einer für die damaligen Verhältnisse nicht unüblichen Demarche. Die Prager Regierung gab nach einiger Zeit dem diplomatischen und publizistsischen Druck nach, ohne die Machenschaft ausdrücklich zuzugeben. Derrida wurde nach der Rückkehr in Paris gefeiert und die französische Diplomatie steckte sich eine Feder an den Hut.

Für die Seminarien in der Wohnung Hejdaneks änderte sich durch den Skandal wenig. Sie hatten nicht viel Verschwörerisches an sich, doch sie galten bei den kommunistischen Machthabern als illegale Aktivität. Dass die Diskussionen abgehört werden konnten, war den Beteiligten bewusst, aber eine konkrete Gefährdung der staatlichen Institutionen war aus ihnen schwer herauszufiltern. Zumindest das Bezirkskommissariat war geistig überfordert, und weiter oben hatte man noch andere Sorgen. Jedenfalls war der Veranstalter bereit, weiterhin mit dem Risiko zu leben und er fand weiterhin Interessenten für die Kurse sowie ausländische Gastdozenten, die das Programm bereicherten. Schikanen blieben ihm nicht erspart, aber sie gehörten in der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik ohnehin zum Alltag.


Zuerst müsse man leben, dann könne man philosophieren, erklärte in jener Zeit in Ungarn Kardinal Lekai, der bestrebt war, der katholischen Kirche im kommunistischen Staat wieder einen Spielraum zu verschaffen. Von einem Prager Intellektuellen ist eine Aussage von ähnlicher Weichheit nicht zu erwarten, schon gar nicht, wenn dieser aus dem Kreis der Böhmischen Brüder mit ihren urchristlichen Lehren kommt und in deren letztem Bischof Comenius ein Vorbild sieht. In dieser Tradition sind Philosophie und Religion dem Menschen immanent und von äusseren Bedingungen unabhängig. Wer über grundlegende Dinge nachdenkt, für den verliert auch das momentane Schicksal an Bedeutung. Zu bedenken ist auch, dass die Tschechoslowakei die Idee und Gründung des Philosophen T.G. Masaryk war. Ihm fühlt sich Hejdanek kritisch verbunden, doch sein eigentlicher philosophischer Wegbereiter war Emanuel Radl, ein von den Naturwissenschaften her kommender Denker. Als in den dreissiger Jahren die Schwächen der Masarykschen Staatsidee zu Tage traten, stimmte Radl nicht in den Chor der Kritiker ein, sondern riet dazu, Masaryk mit Masaryk zu überwinden. Er fand, das Rezept für die Korrektur am Modell des Vielvölkerstaates sei beim Gründer selbst zu suchen. Unter den Kommunisten wurden solche Überlegungen hinfällig, sie schwiegen Masaryk tot.

Hat Hejdanek jemals bereut, dass er sich für die Verteidigung der Freiheit weit vorgewagt hatte? Sein Bedauern richtet sich heute einzig darauf, dass er seiner Gattin eine grosse Last aufbürdete, dass die vier Töchter seinetwegen nicht studieren durften. Die schlimmste Strafe des Regimes für die Unbotmässigkeit eines Elternteils bestand darin, dass es sich an den Lebenspartnern und Nachkommen rächte. Hejdaneks Gattin verlor eine gute Stelle bei einem Verlag und wurde zu einer weniger qualifizierten Arbeit eingeteilt. Ein Funktionär des Zentralkomitees rechtfertigte mir gegenüber 1977 die jede perönliche Verantwortung missachtende Diskriminierung bei der Zulassung zur Universität gesprächsweise damit, die Kommunisten beanspruchten lediglich jene Privilegien, die früher der politische Gegner besessen habe. Hejdaneks Töchter haben sich in ihrer Welt zurecht gefunden, obschon sie zunächst nicht ganz ihren Vorstellungen entsprach. Ein Rest von bitterem Nachgeschmack ist dem Vater geblieben.


Was aus den Absolventen seiner Kurse geworden ist? Einer brachte es in Norwegen zum norwegischen Schriftsteller. Andere begannen nach 1989 eine normale Berufslaufbahn, wurden Beamte, Journalisten oder freischaffende Berufsleute. Nachdem der kommunistische Zwangsstaat in sich zusammen gefallen war, schwand auch das Zusammengehörigkeitsgefühl des Kreises um Hejdanek. Der Kämpfer für die Freiheit der Philosophie, der nach 1980 mit Havel an den legendären Grenztreffen mit den polnischen Dissidenten teilgenommen hatte, erhielt nach der Wende zwei Lehrstühle als Philosoph, den einen an der philosophischen den andern an der theologischen Fakultät in Prag. Das Habilitierungsverfahren wurde nach zwanzig Jahren wieder aufgenommen.


Hejdaneks Herkunft gibt auch einen Einblick in die Komplexität der Verhältnisse zwischen Deutschen und Tschechen in Böhmen. Sein Grossvater war Schneider und lebte in einer Gemeinde, in der alle ausser ihm deutsch sprachen. Obwohl er keine extremen panslawistischen Neigungen hatte, weigerte er sich, die Sprache der Mehrheit zu erlernen und nahm dafür geschäftliche Nachteile in Kauf. Sein Sohn wollte es besser machen. Er hielt deutsch für die Sprache der Zukunft und schickte deshalb seinen Sohn in den frühen Dreissigerjahren auf eine deutsche Schule. Er ahnte nicht, dass die Tschechoslowakei nicht nur aus dem Osten von den Bolschewiken, sondern auch und zuerst von Nazi-Deutschland bedroht war. Nachdem die Schrecken des Reichsprotektorats Böhmen-Mähren überstanden waren, entwickelte die Zweisprachigkeit für den jungen Mann positive Aspekte. Die früh erworbene Kenntnis der fremden Sprache und Kultur förderte sein Toleranzdenken. <<Es geht um die Kunst, die eigene Geschichte auch aus der Sicht der andern zu lesen, auch wenn dies einen schmerzhaften Eingriff in die Grundpfeiler des eigenen Selbstbewusstseins bedeuten kann>>, liest man in der Briefsammlung <<Wahrheit und Widerstand.>>


Das knappe Jahrzehnt, das Hejdanek bis zu seiner hinausgeschobenen und für tschechische Verhältnisse späten Pensionierung verblieb, hinterliess ihm in beruflicher Hinsicht gemischte Gefühle. Als grossen Gewinn bezeichnet er die auf ein Vielfaches angewachsenen Möglichkeiten internationaler Kontakte, die von Zwang und Bedrohung unbelasteten Begegnungen, die Reisefreiheit. In den Prager Universitäten hingegen hat sich die Lage nicht im wünschenswerten Masse verändert. Viele Kollegen auf der Universität konnten sich nur schwer von der alten Ordnung trennen und pochten auf ihre Privilegien. Die <<Chartisten>> wurden von den Anpassern als Besserwisser hingestellt und hatten oft kein einfaches Leben. Das Urteil über die Emigranten ist in diesen Kreisen gleichermassen negativ. Aber auch unter den Dozenten der vermeintlich neuen Ära machte sich ein starkes Streben nach Absicherung der eigenen Person bemerkbar, auf Kosten der Kollegialität einerseits, der Forschung anderseits. Vier Jahrzehnte kommunistischer Herrschaft hätten die Menschen geprägt, sie könnten nicht in einem Willensakt mit einem Federstrich getilgt werden ­_ dieser Gedanke kommt in dieser oder einer ähnlichen Formulierungen in den jüngeren Schriften Hejdaneks mehrmals vor. Ein Teil der Bevölkerung sehne sich nach der sozialen Sicherheit von früher, ein anderer nach Reichtum.

Eine Wohnung am Rande der Prager Altstadt verlässt man nicht ohne weiteres, selbst wenn man in der Provinz das Haus einer Cousine übernehmen kann. Der 78-Jährige scheint jedoch in seiner provinziellen Abgeschiedenheit das gegenwärtige geistige Klima der schönsten Stadt nördlich der Alpen nicht zu vermissen. Die Richtung, die die Politik nach der Befreiung einschlug, entspricht nicht seinen Vorstellungen. <<Wird an uns eine nicht allzu gut funktionierende Konsumgesellschaft das gleiche Werk vollbringen wie anderswo eine gut funktionierende?>> fragte er in den neunziger Jahren. Hejdaneks Skepsis bezieht sich nicht auf die liberale Demokratie, sondern darauf, was die Menschen, vorab die Politiker, aus ihr machen. Den Präsidenten Vaclav Klaus hat er schon gekannt, als jener noch ein strebsamer Mitarbeiter eines Instituts für ökonomische Prognosen war. <<Ein kluger Mann damals, klüger als jetzt>>, lautet sein lakonisches Urteil. Das Streben nach materiellen Werten allein ist ihm nicht genug.

Dem Ausländer, der nach vielen Jahren nach Prag zurückkehrt, kommt es vor, die Goldene Stadt sei mitsamt ihren Problemen und inneren Konflikten von einer grossen Konsumwelle überspült worden und noch nicht wieder aufgetaucht. Ladislav Hejdanek gehört seiner philosophischen und moralischen Haltung nach zu jener Generation, die mit Vaclav Havel von der Bühne abgetreten ist.


Rudolf Stamm